Inhaltsverzeichnis:
1.Einleitung
2.Descartes' methodischer Zweifel
3.Der täuschende Dämon bei Thomas von Aquin
4.Die Allmachtshypothese bei Olivi und Rodington
5.Schluss
6.Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Richard Popkin vertritt in seiner einflussreichen Untersuchung The History of Scepticism implizit die These, dass erst im späten 15. Jahrhundert eine Wiederaufnahme der in der Antike geführten skeptischen Debatten erfolgte.[1] Popkin konstatiert, dass die Wiederentdeckung und Übersetzung der Schriften von Sextus Empiricus, die dem Mittelalter weitgehend unbekannt waren,[2] in der Renaissance zu einem verstärkten Interesse an der pyrrhonischen Skepsis führten und infolge dessen die neuzeitliche Philosophie in eine crise pyrrhonienne stürzte.[3]
Obschon Popkin auch der mittelalterlichen Philosophie die gelegentliche Anwendung skeptischer Argumente zuschreibt,[4] bleiben die diversen skeptischen Debatten der Hochscholastik in seiner Studie unerwähnt.[5] Der Hauptgrund für diese Nichtberücksichtigung mittelalterlicher Skepsis liegt vor allem in Popkins einseitiger Fokussierung auf die Rezeptionsgeschichte der pyrrhonischen Skepsis, die – wie bereits erwähnt – tatsächlich erst wieder in der Rennaisance einsetzte. Die akademische Skepsis dagegen war den Philosophen des Mittelalters durch Augustins Contra Academicos und Ciceros Academica durchaus bekannt und wurde auch rege rezipiert. Darüber hinaus entwickelten sich im Mittelalter skeptische Argumente, die „genuin mittelalterlichen Ursprungs sind“[6] und keinem antiken Vorläufer zuzuordnen sind. Zu diesen zählt in erster Linie die Hypothese eines allmächtigen Täuschergottes. Die Annahme, dass ein allmächtiger Gott oder Dämon in den Erkenntnisprozess eingreift und den Menschen täuscht, diente – wie auch diverse andere im Spätmittelalter gebrauchte skeptische Argumente – dem Zweck, etwaige Schwächen bestehender Erkenntnissysteme aufzuzeigen, vorherrschende Erklärungsmodelle zu verbessern oder alternative Erklärungen anzubieten.[7] Kein mittelalterlicher Philosoph ließ aufgrund skeptischer Einwände jedes Wissen und jeden Erkenntnisanspruch fallen. Das scharfe skeptische Instrument des allmächtigen Täuschergottes, das in der Neuzeit vor allem durch Descartes zu einiger Berühmtheit gelangte, wurde im Spätmittelalter verstärkt im Rahmen reliabilistischer[8] Erkenntnistheorien gebraucht.
Diese Denkfigur des ‚allmächtigen Täuschers‘ ist der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit. Im ersten Teil erfolgt eine Rekonstruktion des Gebrauchs dieses Theoriestücks bei Descartes, wie er es im Rahmen des methodischen Zweifels in der ersten Meditation seiner Meditationes de Prima Philosophia (1641) entwickelt. Der zweite Teil der Arbeit untersucht die Funktion der Allmachtshypothese in der Erkenntnistheorie Thomas von Aquins. Der dritte Teil widmet sich den Einwänden und Ergänzungen, die Rodington und Olivi im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit Thomas anführen. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einem vierten Abschnitt, in dem überblickartig die Funktion der Allmachtshypothese bei den diskutierten spätmittelalterlichen Autoren und bei Descartes verglichen wird.
2. Descartes‘ methodischer Zweifel
I
Descartes erklärtes Ziel ist der Nachweis, dass sichere wissenschaftliche Erkenntnis möglich ist.[9] Die metaphysischen Untersuchungen der Meditationen dienen Descartes dazu, seine bereits durchgeführten spezialwissenschaftlichen Arbeiten nachträglich auf ein zuverlässiges Fundament zu stellen.[10] Denn die Metaphysik ist, wie es Descartes in seinem berühmten Baum-Vergleich veranschaulicht, die Wurzel, die dafür Sorge trägt, dass der Stamm (Physik) und die von ihm sich abzweigenden Spezialwissenschaften (z.B. Medizin und Ethik) Früchte bringen. Die Metaphysik ist für Descartes folglich die „Fundamentalwissenschaft“.[11] Descartes ist allerdings der Meinung, dass alle bisherigen Versuche, in der Metaphysik zu sicherem Wissen zu gelangen und damit ein tragfähiges Fundament für die Wissenschaften zu legen, gescheitert sind.[12] Bei seinem eigenen Versuch, „etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften“[13] zu erreichen, will Descartes also höchste Vorsicht walten lassen. Bereits in den Regulae ad directionem ingenii (ca. 1628) vertritt Descartes die These, dass nur der „vollkommenen Erkenntnis“ (perfecte cognitis) „zu vertrauen ist“ (esse credendum) und dass alles, was den lediglich „wahrscheinlichen Erkenntnissen“ (probabiles cogniotiones) zugehört[14] und folglich bezweifelbar ist, „zurückgewiesen“ (rejicimus) werden muss.[15] Diesem Gebot Folge leistend unterzieht Descartes in der ersten Meditation alle Meinungen und Überzeugungen, die er sich im Laufe seines Lebens angeeignet hat, einer kritischen Betrachtung. Um sicherzustellen, dass ausschließlich absolut Gewissem die Zustimmung erteilt wird, werden alle Meinungen, die auch nur den geringsten Zweifel zulassen, behandelt, ‚als ob‘[16] sie falsch seien.[17] Die Skepsis der ersten Meditation erfüllt demnach die positive Funktion, das „Gewisse vom Zweifelhaften und Falschen abzuheben.“[18] Dabei geht Descartes sehr „ökonomisch“ vor.[19] Denn statt jede seiner Meinungen im Einzelnen zu überprüfen, wendet er sich direkt „an die Prinzipien selbst (…), auf die sich all das stützt“, was er einst für wahr hielt.[20] Wenn diese Prinzipien „untergraben sind“, wird alles, „was auf ihnen errichtet worden ist, von selbst“ zusammenstürzen.[21]
II
Das erste Prinzip dieser Art, das Descartes untersucht, ist die Sinnlichkeit. Für Descartes und seine mit der antiken skeptischen Tradition vertrauten Zeitgenossen ist es ein hinlänglich bekannter Topos, demzufolge es ratsam ist, aufgrund etwaiger Sinnestäuschungen all jenen Erkenntnissen zu misstrauen, die sich vorrangig auf die Beschaffenheit der Gegenstände[22] beziehen und auf unmittelbarer Sinneswahrnehmung beruhen. Descartes konstatiert lakonisch: „Es ist ein Gebot der Klugheit, niemals denen völlig zu glauben, die uns auch nur einmal getäuscht haben.“[23] Descartes geht nun noch einen Schritt weiter und stellt als nächstes die Existenz einer denkunabhängigen materiellen Außenwelt infrage. An dieser zweifelt er aufgrund des Traumarguments. Descartes stellt fest, dass im Traum alle Gegenstände durch die Einbildungskraft erzeugt werden und nicht zwingend auf ein materielles Korrelat in der Außenwelt angewiesen sind.[24] Während des Traums weiß man für gewöhnlich nicht, dass man träumt. Deshalb – so schließt Descartes – könnte es auch sein[25], dass die im Wachsein erlebte Realität von derselben Art ist wie die geträumte, eingebildete Realität.[26] Descartes resümiert: „Während ich aufmerksamer darüber nachdenke, sehe ich dermaßen klar, dass niemals durch sichere Anzeichen Wachen vom Schlafen unterschieden werden kann“.[27]
Descartes‘ Skepsis erstreckt sich bis zu diesem Punkt ausschließlich auf die den Sinnen entnommenen ‚Erkenntnisse‘. Die Radikalisierung der Skepsis vollzieht sich in einem nächsten Schritt: Dem Zweifel an den empirischen Erkenntnissen folgt der Zweifel an den Vernunftwahrheiten. In die von den Sinnen unabhängigen Wissensgebiete der Mathematik und der Geometrie hat sich der Zweifel bislang nicht eingeschlichen. Denn – so Descartes – „ob ich wache oder schlafe, zwei und drei sind zusammen fünf und ein Quadrat hat nicht mehr Seiten als vier“.[28] Wie lässt sich an diesen scheinbar bestverbürgten Erkenntnissen zweifeln? Descartes merkt an, es wäre möglich, dass ein allmächtiger Gott existiert und die Absicht hat, ihn zu täuschen. Dieser täuschende Gott könnte bewirken, „dass (…) ich mich täusche, sooft ich zwei und drei addiere“.[29] Mit der Hypothese eines täuschenden Gottes ist Descartes im Besitz eines besonders wirkungsmächtigen skeptischen Instruments, das es ihm sogar ermöglicht, die scheinbar basalsten und evidentesten Vernunftwahrheiten der Mathematik und Geometrie anzuzweifeln. Obgleich Descartes festhält, dass zum gegenwärtigen Stand der Meditationen „all das, was von Gott gesagt wird, fiktiv ist“,[30] antizipiert er den möglichen Einwand, Gott sei allgütig und folglich nicht zu einer absichtlichen Täuschung in der Lage.[31] Aus diesem Grund ersetzt Descartes den täuschenden Gott durch einen bösen Dämon; dem malin génie kommt allerdings dieselbe Funktion zu wie dem dieu trompeur.[32] Auch dieser Dämon – „höchst mächtig und schlau“[33] – vermag es, uns im Hinblick auf mathematische und geometrische Sätze zu täuschen. An der Bezweifelbarkeit der Vernunftwahrheiten ändert dieser Rollenwechsel demnach nichts.
[...]
[1] Namentlich die skeptischen Argumente, die bei Savonarola, Erasmus und Luther Anwendung finden, rückt Popkin ins Zentrum des entsprechenden Kapitels (vgl. The Intellectual Crisis of the Reformation, in: R. Popkin, The History of Scepticism, S. 1-16).
[2] Wie L. Floridi und R. Wittwer nachgewiesen haben, gab es bereits um 1300 eine lateinische Übersetzung der Πυρρωνείαι ὑποτυπώσεις. Im Umlauf waren drei Versionen dieser Übersetzung an den Universitäten Venedig, Madrid und Paris. Eine Rezeption des Textes im Mittelalter konnte allerdings nicht nachgewiesen werden. Diese setzte verstärkt erst mit der 1562 angefertigen Übersetzung von Henri Etienne ein. Vgl dazu: R. Wittwer, Sextus Latinus: Die erste lateinische Übersetzung von Sextus Empiricus’ Pyrroneioi Hyptyposeis sowie L. Floridi , Sextus Empiricus: The Transmission and Recovery of Pyrrhonism.
[3] R. Popkin, The History of Scepticism, Introduction S. XX.
[4] „Prior to the period I shall deal with [sc. 1450-1710], there are some indications of a sceptical motif, principally among the antirational theologians, Jewish, Islamic, and Christian (…) culminating in the West in the work of Nicholas of Cusa“. Ebd., S. XIX.
[5] Dominik Perlers detailreiche Studie Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debatten im Mittelalter macht aufmerksam auf die diversen skeptischen Debatten und Argumentationsmuster im 13. und 14. Jahrhundert.
[6] D. Perler, Zweifel und Gewissheit, S. 22.
[7] Vgl. B. Stroud, The Significance of Philosophical Scepticism, S. 292-304 , in: Skepticism. A Contemporary Reader, hrsg. K. DeRose und T. A. Warfield.
[8] Die Autoren des 13. und 14. Jahrhunderts gingen von der reliabilistischen Annahme aus, dass prinzipiell korrekte Sinneseindrücke zustande kommen und ausgehend von diesen korrekte Urteile gefällt werden. Das heißt vereinfacht: ein Mensch ist nur deshalb der Meinung, dass sich vor ihm der Gegenstand ‚T‘ befindet, weil sich vor ihm tatsächlich der Gegenstand ‚T‘ befindet.
[9] Allerdings ist, wie Wolfgang Röd und Lothar Kreimendahl hervorheben, Descartes‘ theoretischer Rationalismus kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Sein eigentliches Ziel ist es, die Grundlagen zu schaffen für eine rationale Moralphilosophie, „zu deren Erreichung die wissenschaftliche Erkenntnis als Mittel dienen soll“ (Röd, S. 27). Vgl. W. Röd, Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus, S. 26-46; sowie L. Kreimendahl, Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie, S. 18f.
[10] J. Broughton, Descarte’s Method of Doubt, S. 11.
[11] L. Kreimendahl, Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie, S. 19.
[12] Ebd., S. 20.
[13]Meditationen, I, § 1.
[14] Während seines Parisaufenthaltes Ende 1628 sah sich Descartes bei einem Treffen namhafter Denker bei Kardinal Bagni genötigt, der probabilistischen Erkenntniskonzeption seiner Gesprächspartner nachdrücklich zu widersprechen. Vgl. R. Popkin, History of Scepticism, S. 145ff. Descartes, so Popkin, „rose to show them the enormous consequences [sc. of accepting probability as the standard of truth] (…). If only probabilities served as the basis for views, then one would never discover the truth, because one could not distinguish truth from falsehood any longer.” (Ebd., S. 146).
[15] Regula II, 362. „Atque ita per hanc propositionem rejicimus illas omnes probabiles tantum cognitiones, nec nisi perfecte cognitis, et de quibus dubitari non potest, statuimus esse credendum.“.
[16] Röd nennt dieses Vorgehen den „Standpunkt des Als ob“. W. Röd, Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus, S. 48.
[17] Meditationen, I, § 2.
[18] Ebd.
[19] L. Kreimendahl , Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie, S. 25.
[20] Meditationen, I, § 2.
[21] Ebd.
[22] W. Röd, Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus, S. 56.
[23] Meditationen, I, § 3.
[24] Meditationen, I, § 5.
[25] Auch wenn dies sehr unwahrscheinlich ist, genügen Descartes – aufgrund seiner entschlossenen Suche nach „vollkommener Erkenntnis“ – bereits leiseste Zweifel, um eine Überzeugung fallen zu lassen.
[26] W. Röd, Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus, S. 57.
[27] Meditationen, I, § 5.
[28] Meditationen, I, § 8.
[29] Meditationen, I, § 9.
[30] Meditationen, I, § 10. Ein Gottesbeweis erfolgt bekanntlich erst in der dritten Meditation.
[31] Ebd.
[32] „Die Annahme eines Unterschieds zwischen den beiden Vorstellungen beruht auf Überinterpretation.“ W. Röd, Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus, S. 58.
[33] Meditation I, § 12.