Familienmodelle zur Zeit des deutschen Kaiserreichs
Ein Vergleich zwischen Bürger- und Arbeiterfamilien
Zusammenfassung
Arbeiterklasse und der Kindheit in bürgerlichen Familien zur Zeit des deutschen Kaiserreiches
anstellen. Zur Verbesserung der Anschaulichkeit werde ich mich, neben den wissenschaftlichen
Texten, auf ausgewählte Biographien beziehen, die die damaligen Umstände
aus der Sicht der Kinder beschreiben. Dabei werde ich auch auf einige Klischeevorstellungen,
welche sich bei oberflächlicher Befassung mit dem Thema bilden können, eingehen,
etwa dass das Leben der Arbeiterkinder den eigenen Eltern nicht besonders wichtig war
und sie über die hohe Kindersterblichkeit der damaligen Zeit eher froh waren, oder der,
dass Bürgerkinder generell verhätschelt wurden.
Zunächst befasse ich mich mit der Arbeiterfamilie. Neben einer kurzen Beschreibung der
typischen Rollen und Verhaltensweisen der Mutter und des Vaters, erhält das Leben und
die Behandlung des Kindes die Hauptrolle in dieser Arbeit. Hier werde ich näher auf die Lebensumstände, das Verhältnis zu den Eltern, die allgemeine Erziehung, Bildung und
Entwicklung und zuletzt auf die Strafen eingehen, die ein Kind typischerweise zu dieser
Zeit in seiner jeweiligen Klasse zu erwarten hatte. Diesem stelle ich dann die typische
Kindheit in den bürgerlichen Familien gegenüber, mit der gleichen Aufteilung der jeweils
behandelten Thematik. Zusammenfassend werde ich die wichtigsten Unterschiede und
Gemeinsamkeiten der jeweiligen Kindheitsmodelle noch einmal Gegenüberstellen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Arbeiterfamilie
2.1 Familienkonstellationen
2.1.1 Die Rolle der Mutter
2.1.2 Die Rolle des Vaters
2.2 Die Kindheit in der Arbeiterfamilie
2.2.1 Lebensumstände des Kindes
2.2.2 Verhältnis zu den Eltern
2.2.3 Erziehung, Bildung und Entwicklung
2.2.4 Strafen
3. Die Bürgerfamilie
3.1 Familienkonstellationen
3.1.1 Rolle der Mutter
3.1.2 Rolle des Vaters
3.2.1 Die Lebensumstände des Kindes
3.2.2 Verhältnis zu den Eltern
3.2.3 Erziehung, Bildung und Entwicklung
3.2.4 Strafen
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Am 28. August 1898 an einem Sonntagabend, erblickte ich zum erstenmal das Licht. Es war das Licht einer alten Petroleumlampe. Ich glaube, meine Mutter hatte zu dieser Geburt an einem Werktage keine Zeit. Auch der Umstand, daß ich nicht, wie die meisten Menschen unserer Zone, in einem Bett, sondern auf kahlen Dielenbrettern neben einer uralten Kommode geboren wurde, spricht dafür, daß meine Mutter auf das Ereignis keinen großen Wert legte“ (Turek 1975, S. 7).
Liest man in der heutigen Zeit zum ersten mal solch eine Erzählung, ist man erst einmal verwundert oder vielleicht sogar schockiert. Besonders für unsere Generation, deren Eltern zu Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders oder später zur Welt kamen, ist es schwierig sich vorzustellen unter welchen Bedingungen die Kindern vor etwa 100 Jahren zum größten Teil noch leben mussten. Beschäftigt man sich dann weiter mit dem Thema Kindheit zur Zeit des deutschen Kaiserreichs erfährt man schnell, dass es innerhalb der zahlreichen Familienformen zwei Familienmodelle gab, deren Mitglieder innerhalb der selben Stadt, also relativ nah beieinander wohnten, die aber sonst sehr wenig gemeinsam besaßen: Die Bürgerfamilie und die Proletarierfamilie. Obwohl die bürgerliche Familie als Idealvorbild galt, nach dem auch die Arbeiterfamilie sich richten sollte, gab es neben den finanziellen Differenzen und den damit zusammenhängenden Qualitätsunterschieden bezüglich der Nahrung und des Wohnens vor allem auch Unterschiede in der Beziehung der Familienmitglieder untereinander, der Erziehung der Kinder und der Normen und Werte.
In der hier vorliegenden Arbeit möchte ich einen Vergleich zwischen der Kindheit in der Arbeiterklasse und der Kindheit in bürgerlichen Familien zur Zeit des deutschen Kaiserreiches anstellen. Zur Verbesserung der Anschaulichkeit werde ich mich, neben den wissenschaftlichen Texten, auf ausgewählte Biographien beziehen, die die damaligen Umstände aus der Sicht der Kinder beschreiben. Dabei werde ich auch auf einige Klischeevorstellungen, welche sich bei oberflächlicher Befassung mit dem Thema bilden können, eingehen, etwa dass das Leben der Arbeiterkinder den eigenen Eltern nicht besonders wichtig war und sie über die hohe Kindersterblichkeit der damaligen Zeit eher froh waren, oder der, dass Bürgerkinder generell verhätschelt wurden.
Zunächst befasse ich mich mit der Arbeiterfamilie. Neben einer kurzen Beschreibung der typischen Rollen und Verhaltensweisen der Mutter und des Vaters, erhält das Leben und die Behandlung des Kindes die Hauptrolle in dieser Arbeit. Hier werde ich näher auf die Lebensumstände, das Verhältnis zu den Eltern, die allgemeine Erziehung, Bildung und Entwicklung und zuletzt auf die Strafen eingehen, die ein Kind typischerweise zu dieser Zeit in seiner jeweiligen Klasse zu erwarten hatte. Diesem stelle ich dann die typische Kindheit in den bürgerlichen Familien gegenüber, mit der gleichen Aufteilung der jeweils behandelten Thematik. Zusammenfassend werde ich die wichtigsten Unterschiede und Gemeinsamkeiten der jeweiligen Kindheitsmodelle noch einmal Gegenüberstellen.
2. Die Arbeiterfamilie
Die Arbeiterschaft entstand im Zeitalter der Industrialisierung. Während zuvor ca. zwei Drittel der Bevölkerung des Deutschen Reiches in ländlichen Gebieten arbeiteten, wovon 6 Millionen der damals 41 Millionen Deutschen in der Landwirtschaft tätig waren, machten die Menschen, die in der Großstadt lebten lediglich fünf Prozent aus. Ab 1870 änderte sich diese Zusammensetzung. Die Menschen zogen in die Stadt, um dort in den Fabriken arbeiten zu können, „bis 1913 sank die Arbeiterschaft auf den Dörfern unter fünf, und die Zahl der Arbeiter in Industrie und Bergbau stieg von fünf auf neuneinhalb Millionen“ (Beuys 1980, S. 372). Obwohl im Kaiserreich von ca. 12 Millionen Familienhaushalten 5,25 Millionen, also fast die Hälfte aller Familien zur unteren Klasse gehörten (vgl. Berg 1991, S. 99), finden sich in der Literatur weitaus weniger Informationen über die Kinder des Proletariats als über bürgerliche Kinder. Dies liegt zum Teil daran, dass es hier an Fotografien und Zeichnungen mangelt und dass die meisten Mitglieder dieser Klasse weder die Zeit noch die Möglichkeit hatten ihre eigenen Memoiren zu verfassen (vgl. Weber-Kellermann 1979, S. 156).
2.1 Familienkonstellationen
2.1.1 Die Rolle der Mutter
In den meisten Proletarierfamilien war es üblich, dass nicht nur der Vater einer Arbeit in der Fabrik nachging, sondern ebenso auch die Mutter, da der Lohn des Vaters allein nicht ausreichte um das lebensnotwendigste für die Familie zu bezahlen. Dies bedeutete für die Mutter normalerweise eine Doppelbelastung: nach dem langen Arbeitstag in der Fabrik war sie Abends auch noch für den Haushalt zuständig, den sie dann „überreizt und müde […] mehr schlecht als recht“ (Berg 1991, S. 106), erledigte. Die Frau selbst sah ihre Erwerbstätigkeit selten als Schritt zur Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber ihres Mannes an, sondern „als Ausdruck der Not“ (ebd., S. 107). Wie beim bürgerlichen Idealbild wäre es auch in den Augen der Arbeiterfamilie wünschenswert gewesen die Frau im Haus zu behalten, damit sie sich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmern könnte. So sahen es neben dem Mann und üblicherweise der Frau auch die Gewerkschaften, Sozialdemokraten und die Arbeiterschaft. Außerdem stellte eine arbeitende Frau für die Männer auch eine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt dar (vgl. ebd. S. 107). So schrieb z. B. die allgemeine Gewerkschaft der Chemieindustrie 1920: „in einer Gesellschaft die wohlgeordnet sein sollte […] ist die Frau als Gefährtin des Mannes vor allem dazu geschaffen, Kinder zu gebären, […] den Haushalt sauberzuhalten, die Kinder zu erziehen […] und das Leben ihres Gefährten so glücklich wie möglich zu gestalten […]. Das ist unserer Meinung nach ihre gesellschaftliche Rolle“ (Allgemeine Gewerkschaft der Chemieindustrie in Segalen 1998, S. 57). Allerdings wurden die Mühen der Mutter auch erkannt und zumindest im Stillen gewürdigt. Z. B. schreibt der 1875 geborene Tischlergesellensohn Paul Löbe in seiner Biographie über seine Mutter: „Es lag ein stilles unbewusstes Heldentum über diesen Proletarierfrauen im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts, deren Hände nie ruhten und denen das Leben nur wenig Freude schenkte“ (Löbe in Hardach-Pinke 1971, S. 199).
2.1.2 Die Rolle des Vaters
Der Stereotyp des Proletariervaters hatte es alles andere als leicht und mit Sicherheit schwerer als der Vater einer stereotypen bürgerlichen Familie. Eine mögliche Harmonie des Familienlebens wurde beeinträchtigt durch lange Arbeitszeiten, die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes oder einer Verringerung der Entlohnung die ohnehin kaum ausreichte um den Lebensunterhalt zu sichern (vgl. Berg 1991, S. 106). Aufgrund der vielen Stunden die der Vater in seiner Arbeitsstätte verbrachte, kam es häufig vor, dass er seine Kinder nur am Wochenende oder wenn sie bereits schliefen zu Gesicht bekam. Der Vater flüchtete sich in seiner freien Zeit oft ins Wirtshaus oder in Vereinstätigkeiten. Alkohol wurde dabei oft getrunken, war aber nicht das einzige Motiv dafür, sondern auch politische sowie gesellschaftliche Tätigkeiten die die Arbeiter dort unter sich durchführen konnten (vgl. ebd. S. 109). In Bayern gab es zu dieser Zeit über 2000 dieser Arbeitervereine, in denen Zusammenkunft, Bildung und Ablenkung geboten wurden. Auch Theatergruppen und Sportstunden konnte man dort besuchen. Frauen hatten nur bedingt Zugang zu diesen Vereinen, etwa bei Festen. Ansonsten mussten diese Zuhause bleiben um sich um die Hausarbeit und die Kinder kümmern. Aus diesem Grund stellten diese Vereine trotz allen Vorteilen die sie boten auch meist einen Nachteil für die Familie dar (vgl. Beuys 1980, S. 385). Obwohl meist auch die Frau berufstätig war, hieß das nicht, dass sie deswegen eine gleichgestellte Position in der Familie inne hatte. Der Vater war das Familienoberhaupt, dem sich die Frau und die Kinder zu fügen hatten und der normalerweise nicht bei der Hausarbeit half und auch nicht viel zur Kindererziehung beitrug (vgl. Berg 1991, S. 107).
2.2 Die Kindheit in der Arbeiterfamilie
2.2.1 Lebensumstände des Kindes
Bei den schlechten Lebensbedingungen in den meisten Arbeiterfamilien lässt sich schwer von Kindheit sprechen. Die schlechten, oft feuchten und unhygienischen Wohnverhältnisse machten der Gesundheit der Kinder zu schaffen. Dies begann oft schon vor der Geburt, da die Mutter auch während der Schwangerschaft schweren Arbeiten nachging und auch ihre Ernährung nicht an die Umstände einer werdenden Mutter angepasst wurde bzw. werden konnte (vgl. Berg 1991, S. 106). Schließlich entbunden, waren sie auch nach der Geburt anfälliger für die so genannten „Proletarierkrankheiten, wie Kindercholera, Tuberkolose, Diarrhoe“ (ebd., S. 106).
In den für Gewöhnlich überbelegten und engen Wohnräumen der Arbeiterfamilien gab es keinen Platz für einen kindlichen Schonraum. Die Familie teilte sich den Schlafraum bzw. ein Bett, meistens wurde, sofern noch etwas Raum übrig war, an Schlafgänger vermietet, evtl. auch an mehrere. So fehlte es an Privat- und Intimsphäre und die Kinder wurden Zeugen von sexuellen Handlungen, Geburt, Krankheiten und Tod oder Gewalt (vgl. ebd., S. 107).
Hatten die Kinder ein bestimmtes Alter erreicht, mussten sie üblicherweise selbst arbeiten um die Familie finanziell unterstützen zu können (vgl. ebd. S. 106). „Trotz meinen 7 Jahren hieß es hier fest zupacken. Das war für mich eine wahre Qual“ beschreibt beispielsweise der 1898 geborene Arbeitersohn Ludwig Turek, welcher bereits in der Einleitung zitiert wurde, seinen frühen Einstieg ins Berufsleben. Kinder, die noch nicht alt genug waren um Arbeiten zu gehen oder die aus einem anderen Grund nicht für die Erwerbstätigkeit geeignet waren, blieben unter Tags allein oder wurden von ihren Geschwistern, Nachbarn oder Verwandten beaufsichtigt. In vielen Fällen führte diese frühe Autonomie zur Verwahrlosung (vgl. Berg 1991, S. 108). „Die Verlassenheit ward mir manchmal zum Verhängnis. Schon drei Wochen nach meiner Geburt mußte die Mutter mich den Geschwistern überlassen. […] Eine ausgerenkte Schulter, Verstauchungen und Verrenkungen der Arme und Beine waren die Folgen dieser sehnsüchtigen ersten Geh und Kletterversuche“ schilderte etwa Otto Krille, ein 1878 geborener Maurersohn seine frühe Kindheit (Krille in Hardach-Pinke 1978, S. 204).
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