Ursachen, Formen und Risiken mann-männlicher Prostitution
Zusammenfassung
wenn es um Prostitution geht. Jedoch handelt es sich hierbei nicht nur,
wie vielleicht zunächst angenommen, um die klassische Prostitution von Frauen,
sondern ebenso um die der Männer. Die Mann-männliche Prostitution ist keinesfalls
ein Phänomen der heutigen Zeit. Ganz im Gegenteil ist sie bis in die Antike, etwa bis
ins 7. Jahrhundert vor Christus, zurückzuverfolgen. Bereits zu dieser Zeit machte
die gleichgeschlechtliche Sexualität in Griechenland auf sich aufmerksam. Diese
Form der Sexualität war nicht nur anerkannt, sondern wurde als gesellschaftliche
Pflicht aufgefasst. Vor allem bei jungen Männern, die sich meist noch in der Pubertät
befanden, sollte eine gleichgeschlechtliche Liebe zu einer guten Erziehung beitragen.
Auch im antiken Rom war die Mann-männliche Prostitution ein fester Bestandteil
der Gesellschaft. In beiden Fällen waren meist Sklaven, Soldaten und Kriegsgefangene
männliche Prostituierte, freigeborenen Männern war es stets verboten ihren
Körper der käuflichen Liebe und Sexualität zur Verfügung zu stellen. Um 217 nach
Christus war die männliche Prostitution in Rom gesellschaftsfähig und anerkannt,
was auch unter wechselnder Herrschaft andauerte. Erst durch den Beginn der Feudalwirtschaft
und die Aufhebung der Sklaverei wurde die männliche Prostitution in
solchem Ausmaße diskreditiert, dass der oströmische Kaiser Justinian im Jahr 541
nach Christus mit der Todesstrafe für ihre Ausübung drohte. Obwohl die männliche
Prostitution seither offiziell verboten war, machte sie im 15. Jahrhundert wieder von sich Reden. Zwischenzeitlich galt sie gesellschaftlich sogar wieder als akzeptiert. Im deutschen Strafgesetzbuch wurde 1927 der §175 geschaffen (auch Schwulenparagraph genannt), welchen man damit begründete, dass die männliche Prostitution eine besondere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dargestellt hätte. Gesellschaftliche Anerkennung wurde der Mann-männlichen Prostitution seither nicht mehr zuteil, bis die rechtlichen Aspekte der Homosexualität sich veränderten, indem der § 175 ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde. Lediglich der Aspekt
des Jugendschutzes wurde weiterhin bedacht, so dass homo- sowie auch heterosexuelle Kontakte zu Kindern unter 14 Jahren und unter bestimmten Voraussetzungen zu Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren strafbar sind. Hierauf wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch explizit eingegangen.[...]
Leseprobe
INHALT
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.Einleitung
2. Begrifflicher Rahmen
2.1 Mann-männliche Prostitution
2.2 Stricher
2.3 Freier
3. Profil der Stricher
3.1 (sexuelle-) Identität der Stricher
3.2 Motivation
4. Profil der Freier
4.1 Freiertypen
4.2 Bedeutung des Freiers für den Stricher
5. Soziale Lebenswelten der Stricher
5.1 Die Familie
5.2 Freundschaften
5.3 Partnerschaften
5.4 Arbeit
6. Lebenslagen der Stricher
6.1 Wohnungslosigkeit/Obdachlosigkeit
6.2 Wohnungsangebot durch den Freier
6.3 Kurzunterbringung in Beratungsstellen
6.4 Reiseaktivität der Stricher
7. Orte der Prostitution
7.1 Die reale Stricherszene
7.1.1 Kneipen
7.1.2 Boy-Clubs/Escort
7.1.3 Apartments
7.1.4 Bahnhöfe
7.1.5 Parkanlagen
7.1.6 Raststätten
7.1.7 Saunen
7.1.8 Klappen
7.1.9 Pornokinos und Sexshops
7.1.10 Geheimclubs
7.2 Die virtuelle Stricherszene
8. Problemlagen der Stricher
8.1 Körperliche Gesundheit
8.1.1 Geschlechtskrankheiten
8.1.2 Aids/ HIV
8.2 Suchtverhalten
8.3 Psychische Belastung
8.3.1 Doppelte Stigmatisierung
8.3.2 Identitätsprobleme
8.4 Gewalt in der Stricherszene
8.4.1 Sexuelle Gewalt
8.4.2 Strukturelle Gewalt
8.4.3 Gewalt durch und gegen den Freier
8.4.4 Gewalt unter Strichern
9. Rechtliche Situation
9.1 Das Prostitutionsgesetz
9.2 Das Prostitutionsgesetz bezüglich der Situation männlicher Prostituierter
9.3 Das Infektionsschutzgesetz
10. Sozialarbeiterische Hilfeansätze
10.1 Aufsuchende Sozialarbeit
10.2 Anlaufstellen
10.3 Einzelfallhilfe und Beratung
10.4 Beziehungsarbeit
10.5 Medizinische Versorgung
10.6 Zukunftsperspektiven der sozialen Arbeit mit Strichern
11. Schlussbetrachtung
12. Persönlicher Rückblick
Literaturverzeichnis
1.EINLEITUNG
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Es wird vom „ältesten Gewerbe der Welt“ oder einer „ahistorischen Konstante“ gesprochen, wenn es um Prostitution geht.1 Jedoch handelt es sich hierbei nicht nur, wie vielleicht zunächst angenommen, um die klassische Prostitution von Frauen, sondern ebenso um die der Männer. Die Mann-männliche Prostitution ist keinesfalls ein Phänomen der heutigen Zeit. Ganz im Gegenteil ist sie bis in die Antike, etwa bis ins 7. Jahrhundert vor Christus, zurückzuverfolgen.2 Bereits zu dieser Zeit machte die gleichgeschlechtliche Sexualität in Griechenland auf sich aufmerksam. Diese Form der Sexualität war nicht nur anerkannt, sondern wurde als gesellschaftliche Pflicht aufgefasst. Vor allem bei jungen Männern, die sich meist noch in der Pubertät befanden, sollte eine gleichgeschlechtliche Liebe zu einer guten Erziehung beitragen. Auch im antiken Rom war die Mann-männliche Prostitution ein fester Bestandteil der Gesellschaft. In beiden Fällen waren meist Sklaven, Soldaten und Kriegsgefangene männliche Prostituierte, freigeborenen Männern war es stets verboten ihren Körper der käuflichen Liebe und Sexualität zur Verfügung zu stellen.3 Um 217 nach Christus war die männliche Prostitution in Rom gesellschaftsfähig und anerkannt, was auch unter wechselnder Herrschaft andauerte. Erst durch den Beginn der Feudalwirtschaft und die Aufhebung der Sklaverei wurde die männliche Prostitution in solchem Ausmaße diskreditiert, dass der oströmische Kaiser Justinian im Jahr 541 nach Christus mit der Todesstrafe für ihre Ausübung drohte. Obwohl die männliche Prostitution seither offiziell verboten war, machte sie im 15. Jahrhundert wieder von sich Reden. Zwischenzeitlich galt sie gesellschaftlich sogar wieder als akzeptiert. Im deutschen Strafgesetzbuch wurde 1927 der §175 geschaffen (auch Schwulenparagraph genannt), welchen man damit begründete, dass die männliche Prostitution eine besondere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dargestellt hätte.4 Gesellschaftliche Anerkennung wurde der Mann-männlichen Prostitution seither nicht mehr zuteil, bis die rechtlichen Aspekte der Homosexualität sich veränderten, indem der § 175 ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde. Lediglich der Aspekt des Jugendschutzes wurde weiterhin bedacht, so dass homosowie auch heterosexuelle Kontakte zu Kindern unter 14 Jahren und unter bestimmten Voraussetzungen zu Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren strafbar sind.5 Hierauf wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch explizit eingegangen.
Bereits diesem, sehr knapp gehaltenen historischen Einblick, ist zu entnehmen, dass die Mann-männliche Prostitution einem stetigen Wandel unterzogen ist. Trotz der ständigen Präsenz in der Gesellschaft, gilt die Thematik auch in der heutigen Zeit noch als tabuisiert. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Teuerkauf führt bereits an, dass etwa 90% der Männer heterosexuell veranlagt sind, diese suchen ihre Befriedigung somit -vorwiegendbei Frauen.6 In der folgenden Arbeit soll präzisiert werden, dass es sich keinesfalls um ein am Rande der Gesellschaft existierendes Thema handelt, sondern um ein Geschehen, das existiert und floriert. Mann-männliche Prostitution besteht aus vielfältigen, wechselwirkenden Faktoren, welche bei den Ursachen und der Motivation beginnen, über die diversen Formen und Möglichkeiten bis hin zu den Risiken und Folgen reichen. Indem die genannten Elemente explizit erörtert werden, soll ein möglichst umfassender Einblick in die Thematik ermöglicht werden. Männliche Prostitution ist präsent, aktuell und nicht unbedeutend für die heutige, als tolerante und legitimierende bekannte, Gesellschaft und muss somit in die Medien und Wissenschaft getragen werden, um erneut anerkannt zu werden.
2.BEGRIFFLICHER RAHMEN
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Es soll zunächst ein begrifflicher Rahmen geschaffen werden, welcher relevante und häufig verwendete Begriffe dieser Arbeit im Einzelnen darstellt und analysiert.
2.1 MANN-MÄNNLICHE PROSTITUTION
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Das Wort Prostitution stammt von dem lateinischen Wort „prostituere“ ab. Dies bedeutet nach vornoder zur Schau stellen, preisgeben. Eine allgemeine, für beide Geschlechter gültige, Definition haben Tröndle und Fischer aufgestellt. Ihrer Aussage zufolge liegt Prostitution dann vor, „wenn eine Person, gleichgültig welchen Geschlechts und Alters zu Erwerbszwecken wiederholt an oder vor wechselnden Partnern sexuelle Handlungen gegen Entgelt vornimmt oder an sich vornehmen lässt, wobei es ohne Bedeutung ist, wer das Entgelt kassiert und wo die Partner geworben werden“. 7
Explizit auf die männliche Prostitution sind Gusy et al. eingegangen. Ihrer Definition zu Folge heißt es: „Mann-männliche Prostitution soll (…) verstanden werden als das gelegentliche oder regelmäßige Angebot und der Verkauf sexueller Dienstleistungen durch einen Jugendlichen oder erwachsenen Mann, der dafür Geld und/oder materielle Werte (Nahrungsmittel, Unterkunft, Kleidung) von einem anderen Mann erhält, die zu seinem Lebensunterhalt beitragen. Das Angebot erfolgt (halb-)öffentlich an verschiedenen Orten (Straße, Bahnhof, Park, Bar) oder durch Werbung in Zeitungen
und Zeitschriften.“ 8 In dieser Arbeit wird mit der Thematik der zweiten Definition gearbeitet, welche sich speziell auf die männliche Prostitution bezieht, auch wenn die Erörterung von Tröndle und Fischer deutlich weniger wertend aufgestellt wurde.
2.2 STRICHER
Im Prostitutionsgewerbe sind grundsätzlich zwei Positionen vorhanden. Die eine Position wird von jemandem vertreten, der sexuelle Dienstleistungen anbietet und verkauft, die Andere von demjenigen der sie in Anspruch nimmt. Ersteres ist als Stricher oder Callboy bekannt, wobei zu beachten ist, dass diese Gruppen streng zu differenzieren sind. Hierauf wird in einem gesonderten Punkt detailliert eingegangen. Die als Stricher bezeichneten männlichen Prostituierten sind jedoch auch nur auf den ersten Blick problemlos zu definieren. Sie unterscheiden sich in ihren Einstellungen, Nationalitäten, ihren (sexuellen-) Identitäten sowie in ihren Motivationen und können somit kaum mehr in eine einheitliche Definition gebracht werden.9 Eine der neutralsten und allumfassendsten Definitionen stellte meines Erachtens Diner auf. Demnach gilt: „Ein Stricher ist ein junger oder erwachsener Mann, der in virtuellen oder realen Räumen körperlich, geistig und psychisch auf das Angebot reagiert, sich zu prostituieren oder selbst dieses Angebot macht. Der Stricher arbeitet im Vergleich zum Callboy nicht professionell. Ziel des Angebots ist der Erhalt eines Entgelts oder anderer Leistungen, die der Stricher mit dem Freier vorher vereinbart hat.“ 10 Differenzierter betrachten Fink und Werner die Thematik, indem sie die Gruppe der Stricher nach dem Alter und dem Grad der Verfestigung der Prostitutionsausübung und dem (professionellen) Bewusstsein unterteilen.
„1. Einstieg in die Prostitution
Ein männlicher Prostituierter ist ein Jugendlicher ab dem 14. Lebensjahr oder ein junger Mann, der auf das Angebot reagiert, an sich oder an Männern gegen materielle oder immaterielle Dinge erotische und/oder sexuelle Interaktionen in realen oder virtuellen Räumen vorzunehmen oder vornehmen zu lassen.“ 11
Zu dieser Gruppe gehören Jugendliche und junge Männer, welche erstmalig oder sporadisch anschaffen gehen. Prostituive Verhaltensweisen sind hier noch nicht ägt. Es geht mehr um Reize, wie die der sexuellen Neugierde, Geld, Geborgenheit und Einsamkeit oder ein Coming-Out, die hier im Vordergrund stehen.12
„2. Prostitution als Überlebensstrategie
Ein Stricher ist ein jugendlicher oder erwachsener männlicher Prostituierter, der auf das Angebot reagiert, an sich oder an Männern gegen materielle und immaterielle Dinge erotische und/oder sexuelle Interaktionen in realen oder virtuellen Räumen vorzunehmen oder vornehmen zu lassen oder aufgrund seiner Lebensumstände selbst dieses Angebot macht.“ 13
Die zweite Gruppe ist laut Fink und Werner die bedeutsamste für die Soziale Arbeit. Hierunter fallen etwa 90% der männlichen Prostituierten. Die Lebensumstände, welche in diese Definition mit einfließen und später explizierter beschrieben werden, sind häufig ausschlaggebend für die Prostitution.14
„3.Prostitution mit Bewusstsein
Ein Callboy ist ein volljähriger Mann, der bewusst im Sexbusiness arbeitet und somit
von sich aus das Angebot macht.“ 15
Hierunter zählen volljährige Männer, die bewusst dem Prostitutionsgewerbe nachgehen, auch der geplante Einund Ausstieg zählt hierzu.16 Gemeint sind vor allem die so genannten Callboys, welche in einem weiteren Punkt genauer beschrieben werden.
2.3 FREIER
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In diesem Punkt wird die bereits erwähnte zweite Seite der Prostitution näher erörtert. Männer, welche sexuelle Dienstleistung gegen eine gewisse Entlohnung in
Anspruch nehmen, werden als „Kunden“ oder umgangssprachlich „Freier“ bezeichnet. Fink und Werner definieren diese wie folgt: „Freier sind Männer aller Altersklassen, die, ungeachtet ihrer eigenen sexuellen Orientierung oder Lebensweise, gelegentlich oder regelmäßig Entlohnung für sexuelle Kontakte und/oder Gesellschaft von Strichern und Callboys bieten. Die Entlohnung kann je nach Stricher und Callboy materiell oder immateriell sein (Geld, legale und illegale Drogen, Kleidung, Nahrungsmittel, Zuneigung, Liebe, Zärtlichkeit, Bestätigung,
Gesellschaft etc.).“ 17 Dieser Definition ist bereits zu entnehmen, dass von keinem
„typischen Freier“ gesprochen werden kann. Das breitgefächerte Spektrum, die individuellen Lebenswelten und (sexuellen-) Orientierungen werden in einem weiteren Punkt dieser Arbeit ausführlich behandelt.
3.PROFIL DER STRICHER
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Wie bereits in Punkt 2.2 angedeutet, kann nicht von einem klassischen Stricher gesprochen werden. Zunächst soll zwischen Strichern mit professionellem und semiprofessionellem Bewusstsein, als auch Strichern ohne professionelles Bewusstsein unterschieden werden. Die Definition von Fink und Werner kategorisiert diese bereits.18
3.1 (SEXUELLE-) IDENTITÄT DER STRICHER
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Bei der Mehrzahl der Stricher wird nicht von einer homosexuellen Szene, sondern von einer „Stricherkneipenszene“ gesprochen. Diese ist zwar eine homosexuelle Szene, jedoch keine schwulen Szene. Dies bedeutet, dass hier zwar homo-, biund heterosexuelle Männer aufeinander treffen, welche ihre homosexuellen Tendenzen auf rein sexueller Basis ausleben und erleben, diese aber vermutlich nicht in einer schwulen Lebensgemeinschaft umsetzen und somit nicht in eine schwule Szene19 eingeordnet werden können.20 Nicht zu vergessen sind männliche Prostituierte, wobei es sich hierbei meist um sehr junge Männer und Heranwachsende handelt, die sich in ihrer Sexualorientierung noch unsicher sind. Stricher pflegen sich oft selbst als bioder gar heterosexuell zu bezeichnen. Sie betonen hierbei den privaten Kontakt zu Frauen, obgleich dieser auch in der Rolle eines Freiers geschehen kann. Der Verkehr mit Männern sei hauptsächlich auf geschäftlicher Ebene zu betrachten. Jedoch ist dies ein Trugschluss. Auf diese Weise kompensieren oder rechtfertigen sich Stricher entweder vor sich selbst oder vor Anderen, denn sie können somit (scheinbar) verdeutlichen homosexuelle Kontakte lediglich gegen eine Entlohnung zu praktizieren, im Grunde aber heterosexuell zu sein.21 Homosexualität ist gesellschaftlich weiterhin nur schwer akzeptiert. Dies erklärt, warum sich männliche Prostituierte, hinsichtlich ihrer sexuellen Identität, häufig selbst belügen. Dem gesellschaftlichen Druck können sie in doppelter Form -zum Einen im Sexualgewerbe tätig zu sein und zum Anderen homosexuell zu seinnicht stand halten. Da Stricher sich nicht vereinzelt in einer solchen Situation befinden, sondern innerhalb der Szene vielfach auf Gleichgesinnte treffen, ist diese Problematik nur schwer zu durchdringen. Ganz im Gegenteil führt es zu einer größeren Unsicherheit und erschwert die eigene Sexualorientierung, wenn Muster wie Verdrängung und
Diskriminierung in der allgemeinen Stricherszene verfestigt sind.22 Hieraus folgend gesagt werden, dass viele Stricher keine klare und stabile sexuelle Identität aufweisen. Ungeachtet, dass sie sich alle durch die männliche Prostitution homosexuell verhalten, geben hauptsächlich Prostituierte mit professionellem Bewusstsein an, auch homosexuell zu sein.23
3.2 MOTIVATION
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Die Gründe, aus denen (junge) Männer und Heranwachsende sich prostituieren sind vielschichtig. Hier eine klare und allumfassende Auflistung zu stellen ist ebenso diffizil, wie die Definition eines Strichers. Der individuelle, frühere Werdegang sowie die Professionalität der Prostitution spielen eine bedeutende Rolle. Unabhängig von der jeweiligen (im Folgenden erläuterten) Problematik kann jedoch gesagt werden, dass alle Stricher der Motivation des Geldes anhängen. Entweder benötigen sie es, um ihre Lebensgrundlage zu sichern, eine Drogensucht zu finanzieren oder um sich Taschengeld zu verdienen, mit welchem sowohl ein höherer Lebensstandart, als auch sonstige Bedürfnisse subventioniert werden.24 Im Folgenden werden weitere Motivationsgründe näher erörtert. Diese geben einen, zweifellos nicht vollständigen und für jeden Stricher geltenden, Überblick der Ursachen, welche (junge) Männer dazu bewegen sich zu prostituieren.25
Coming-Out
Als Coming-Out bezeichnet man den intensiven, lebenslangen Prozess, bei welchem sich ein Jugendlicher mit seiner homosexuellen Orientierung auseinandersetzen muss. Er muss lernen, sich die Homosexualität einzugestehen und sich selbst damit zu akzeptieren. Das Coming-Out wird in verschiedene Phasen eingeteilt, welche nicht zwingend aufeinander folgen müssen und teilweise übersprungen oder weggelassen werden können. Hierzu zählt das innere Coming-Out , wobei es um die Selbsterkenntnis und Akzeptanz der eigenen Homosexualität geht. Das familiäre Coming-Out , bei welchem die Familie, der Freundeskreis und das nähere soziale Umfeld über die sexuelle Orientierung informiert werden, sowie auch das globale Coming-Out . Hier soll möglichst die ganze Welt von den persönlichen Neigungen erfahren. Zuletzt wird vom lebenslangen Coming-Out gesprochen. Was in dieser Phase geschieht hängt von den individuellen Erfahrungen, in den vorherigen Stufen .26 Bei einem Coming-Out geht es vor allem darum, dass die Betroffenen ihre Orientierung stets in einer heterosexuell geprägten Gesellschaft rechtfertigen müssen. Aus diesem Grunde ist das Coming-Out nicht nur ein plötzliches Offenbarwerden der eigenen sexuellen Neigungen. Zwar kann das innere Coming-Out auf diese Weise stattfinden und erfordert nicht zwingend einen längeren Prozess. Jedoch wird der Betroffene auf seinem weiteren Lebensweg, immer wieder mit seiner sexuellen Neigung konfrontiert, so dass es als lebenslanger Prozess ist. Zu dieser Entwicklung dient die Stricherszene den Jugendlichen und (jungen) Männern oft. Sie bietet den Jungs27 den optimalen Schutz, da sie Sex mit Freiern (oder anderen Strichern) haben können, ohne ihre sexuelle Identität und Neigung preisgeben zu müssen. Neben diesem zunächst positiven Aspekt birgt das Coming-Out in der Stricherszene jedoch die Gefahr, dass die Jungs kaum gleichaltrige Partner finden und somit nicht lernen ihre Bedürfnisse nach Liebe, Geborgenheit und Nähe zu stillen und eigene Wünsche anzumelden.28
Suche nach dem Vater, nach Geborgenheit
Vorab ist anzumerken, dass immer wieder Jungs zwischen 9 und 14 Jahren in der männlichen Prostitution aufzufinden sind. Oftmals sind vor allem sehr junge Prostituierte im Sexgewerbe gelandet, da sie zu Hause unter emotionaler Vernachlässigung leiden mussten. Es handelt sich hierbei um Jungs, die auf der Suche nach einer „Wahlfamilie“ und Geborgenheit sind und glauben, diese in der Prostitution zu finden. In den meisten Fällen stammen die Jungen aus zerrütteten Familien, in denen sie gezwungen sind die Rolle des Vaters zu ersetzen. Welche Gründe die Jungen, vor allem die sehr jungen, haben, mit meist weitaus älteren
Männern mitzugehen, sind vielschichtig. Meist handelt es sich um pädosexuelle Freier29, welche viel Zeit mit den Jungen verbringen und sie (vorrübergehend) bei sich wohnen lassen. Hier erleben die Jungen Zuneigung und Aufmerksamkeit, weshalb sie in ihrem Freier einen Vaterersatz sehen. Für die, bislang fehlende, emotionale Bezugsperson, vermögen die Jungs sexuelle Dienstleistungen oder vornehmen zu lassen, um somit die Geborgenheit und Anerkennung einer väterlichen Persönlichkeit zu bekommen.30
Die Flucht aus der Familie oder aus Heimen
Nicht selten ist der Grund, dass junge Männer in der Prostitution landen, die Flucht aus der eigenen Familie oder dem Heim, in welchem sie gelebt haben. Durch unangenehm oder repressiv empfundene Lebensumstände ziehen die Jungen es vor, ein Leben auf der Straße zu führen. Sie sind geprägt durch Alkoholismus innerhalb der Familie, (sexuelle-) Gewalt, Stiefväter mit mangelndem Interesse an eigenen Person, als auch durch die Überlastung der häufig alleinerziehenden Mütter.31 Das Leben auf der Straße, vor allem im Sexgewerbe, scheint zunächst eine vielversprechendere Perspektive zu bieten. Einige Freier schenken den Jungs ihre volle Aufmerksamkeit und bieten ihnen bessere Wohnverhältnisse, als diese bisher gekannt haben. Durch den Wettbewerb um die eigene Person bekommen die Jungen die Möglichkeit, sich ihre „Wahlfamilie“ frei aussuchen zu können. Einen Blick bezüglich ihrer Zukunftsperspektive können die Jungs daher kaum aufrecht erhalten und empfinden die Situation in der Prostitution, im Vergleich zu der in der eigenen Familie, somit als angenehmer.
Drogen und Süchte
Auch Drogen und Süchte haben in der männlichen Prostitution eine bedeutende Rolle. Man prostituiert sich, um neue Drogen finanzieren zu können oder man nimmt Drogen, um sich weiter prostituieren zu können. Viele Stricher kompensieren ihre Erfahrungen mit Gewalt und Missbrauch, sowie ihre Lebenskrisen durch Drogen. Hierbei kann es sich sowohl um legale, als auch um illegale Drogen handeln, welche immer wieder von Freiern als Zahlungsmittel eingesetzt werden.32 Partydrogen wie Exctasy, Amphetamine und Kokain als auch Haschisch und Marihuana oder Heroin und Crack gehören zu den gängigen Drogen in der Szene. Eine weitere Gefahr sich hinter dem „Warten“. Oftmals werden Alkohol oder Spielautomaten als Überbrückungsmittel genutzt bis der nächste Freier kommt, was wiederrum Süchte in der Szene beeinflusst und begünstigt.33 Viele der Jungs bezeichnen die Szene selbst als eine Droge. Das soziale Netzwerk findet ausschließlich innerhalb der Szene statt, denn neue Freunde und Bekannte distanzieren sich, sobald sie von der Prostitutionsausübung erfahren. Diese Aspekte tragen zu Schwierigkeiten bei einem
Umstieg in einen „bürgerlichen“ Beruf bei. Aus diesem Grund pendeln viele (junge)
Männer zwischen der Stricherszene und dem „bürgerlichen“ Leben.34
Suche nach der sexuellen Identität
Wie bereits in Punkt 3.1 beschrieben, besitzen viele Stricher keine feste sexuelle Identität oder sind sich dieser noch nicht sicher. Ebenso gilt die sexuelle Aufklärung sowohl in der Erziehung als auch in der Jugendhilfe, weiterhin als ein tabuisiertes Thema. Fragen und Antworten müssen die Jugendlichen mit sich selbst vereinbaren, in einigen, wohlbemerkt den schlechtesten Fällen, wird die sexuelle Aufklärung der Jungs von Pädosexuellen35 übernommen.36 Die Stricherszene dient den Jungs als Orientierung. Hier können sie sich und ihre sexuelle Identität ausprobieren, ohne als homooder bisexuell „abgestempelt“ zu werden.
Geld
Wie eingangs bereits erwähnt, spielt Geld eine bedeutende Rolle in der männlichen Prostitution. Der Begriff Geld umfasst in diesem Fall auch andere materielle Werte, wie beispielsweise Drogen, Kleidung oder Schmuck, welche real oder fiktiv in Geld umgesetzt werden könnten. Oftmals ist Geld der ausschlaggebende Grund für einen tieferen Einstieg in das Prostitutionsgewerbe, hinter welchem darüber hinaus auch die sexuelle Identität versteckt werden kann. Innerhalb der Szene ist Geld eines der Hauptgesprächsthemen unter den Strichern, in den meisten Fällen definieren sie Selbstwert über reiche Freier oder viel Geld.37 Jungs, welche neu in der Szene sind, haben die Möglichkeit sich ihre Freier selbst auszuwählen und zu entscheiden, welche Sexualpraktiken sie anbieten oder nicht. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass das Einkommen der „Neulinge“ das Gehalt eines Sozialarbeiters weit übersteigt.38 Aus der Handlungsweise und Lebensgestaltung der Stricher ergibt sich jedoch keine Relation zum Geld. Sie kaufen sich teure Statussymbole wie Handys, um sich hierüber zu definieren, denn um an neues Geld zu gelangen, müssen sie nur die Szene zurück. Die Problematik an dieser Anspruchsund Lebenshaltung ist jedoch, dass der Marktwert eines Strichers mit steigendem Alter sinkt. Hieraus resultiert, dass der Luxus und Anspruch an Konsum kaum aufrecht erhalten werden kann. Durch den sinkenden Marktwert, die Diskriminierung an der eigenen Person und den ruhmlosen Lebensstandart kommt es häufig zu Gewalt an anderen Strichern oder Freiern, aber auch zu Gewalt gegen die eigene Person. Hierauf wird in einem gesonderten Kapitel explizit eingegangen.
Migration
In der Stricherszene machen Migranten einen wesentlichen Anteil (etwa 85%) aus. Vielfach entscheiden sich junge Männer ins Ausland zu gehen, da ihre Herkunftsländer ihnen nicht die Möglichkeit bieten, ihre physische und/oder psychische Sicherheit zu erlangen. Hierzu zählt unter anderem die medizinische Versorgung. Ausschlaggebend ist jedoch die mangelhafte wirtschaftliche Situation, welche ihnen kein gesichertes Leben ermöglicht. Ebenso handelt es sich um Männer, die aufgrund von staatlichen oder kirchlichen Sanktionen in ihrem Heimatland nicht die Möglichkeit besitzen, ihre sexuellen Neigungen auszuleben und sich selbst dadurch zu verwirklichen. In die männliche Prostitution geraten Migranten letztlich durch die schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder einen illegalen Aufenthalt Deutschland, welcher ihnen keine „bürgerliche“ Arbeit ermöglicht.39
[...]
1 Vgl. Löw/Ruhne 2011, Seite 25
2 Vgl. Teuerkauf 2003, Seite 1
3 Vgl. Diner 2010, Seite 12-15
4 Vgl. Teuerkauf 2003, Seite 14
5 Vgl. Teuerkauf 2003, Seite 16/17
6 Vgl Teuerkauf 2003, Seite 4/5
7 Zit. in Tröndle/Fischer 2001
8 Gusy/Kraus/Schrott/Heckmann 1994, Seite 1088f zit. in Fink/Werner 2005, Seite 18
9 Vgl. Hagele 2007, Seite 12
10 Zit. Diner 2005, Seite 12
11 Zit. Fink/Werner 2005, Seite 26
12 Vgl. Fink/Werner 2005, Seite 26/27
13 Zit. Fink/Werner 2005, Seite 26
14 Vgl. Fink/Werner 2005, Seite 27
15 Zit. Fink/Werner 2005, Seite 26
16 Vgl. Fink7Werner 2005, Seite 27
17 Zit. Fink/Werner 2005, Seite 96
18 Vgl. Punkt 2.2 dieser Arbeit
19 In einer schwulen Szene wird die sexuelle Orientierung in die Lebensgestaltung einbezogen. Hierunter wird beispielsweise eine homosexuelle Lebensgemeinschaft verstanden. In einer homosexuellen Szene geht es dagegen lediglich um das Ausleben von sexuellen Wünschen und Vorlieben.
20 Vgl. Fehlberg 2004, Seite 75
21 Vgl. Teuerkauf 2003, Seite 36
22 Vgl. Teuerkauf 2003, Seite 37
23 Vgl. Hagele 2007, Seite 13
24 Vgl. Teuerkauf 2003, Seite 20
25 Vgl. Fink/Werner 2005, Seite 73
26 Vgl. Fink/Werner 2005, Seite 90
27 Hier ein Synonym für Stricher
28 Vgl. Fink/Werner 2005, Seite 90
29 Vgl. Punkt 4 dieser Arbeit
30 Vgl. Fink/Werner 2005, Seite 89
31 Vgl. Fink/Werner 2005, Seite 86
32 Vgl. Fink/Werner 2005, Seite 83
33 Vgl. Hagele 2007, Seite 17
34 Vgl. Fink/Werner 2005, Seite 83
35 Pädosexuelle vgl. Punkt 4 dieser Arbeit
36 Vgl. Fink/Werner 2005, Seite 75
37 Vgl. Fink/Werner 2005, Seite 77/78
38 Vgl. Fink/Werner 2005, Seite 78
39 Vgl. Hagele 2007, Seite 17/18