Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“
Antizipation oder Utopie?
Zusammenfassung
In der heutigen Zeit ist der Wunsch nach einer gerechten Weltordnung und internationalen Frieden so groß wie selten zuvor. Ein ähnliches Verlangen hatte Ende des 18. Jahrhunderts bereits Immanuel Kant, einer der größten deutschen Philosophen und Denker der Neuzeit.
...Im Jahre 1795 konzipierte er sein Werk „Zum ewigen Frieden“, in dem er seinen Wunsch nach einer internationalen Friedensordnung als notwendigen Prozess darlegte. Der Friedensentwurf wird allgemein zum Bereich der Ethik gezählt, dem die zweite Kantsche Frage („Was soll ich tun“) vorangestellt wird, da das freie und moralisch-sittliche Handeln nicht nur für Einzelpersonen, sondern auch für Staaten gelten muss. Staatliches Handeln kann demnach auf der internationalen Ebene zu einer dauerhaften Ordnung führen, die durch eine friedliche Konfliktaustragung gekennzeichnet ist. Dabei
kristallisiert sich eine zentrale Frage heraus: Ist ein realpolitischer Prozess möglich, der zu einem dauerhaften zwischenstaatlichen Frieden führt?
In der folgenden Seminararbeit werde ich Kants philosophischen Entwurf hinsichtlich dieser Fragestellung analysieren, also ob es sich um eine realmögliche Antizipation oder eine unrealistische Utopie handelt. Dazu soll deshalb als erstes die Kantsche Schrift erläutert werden, da sie die Voraussetzung zur Klärung der Frage bildet und den Prozess zu einem ewigen Frieden darstellt. Danach wird einerseits der Entwurf hinsichtlich utopischer Elemente und einer theoretischen Realisierbarkeit untersucht und andererseits die realpolitische Umsetzung seit der Entstehung 1795 analysiert. Abschließend werde ich diese umfassenden Betrachtungen zusammenfassen um Kants Schrift zwischen Antizipation und Utopie zu differenzieren.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Aufbau und Grundgedanken der Kantschen Friedensschrift
2.1. Die Präliminarartikel als negative Voraussetzungen
2.2. Positive Bedingungen: Die Definitivartikel
3. Utopische Elemente und die Frage der Realisierbarkeit
4. Realpolitische Umsetzungen seit 1795
4.1. Gegenwärtige Ordnungsstrukturen
4.2. Die Theorie des demokratischen Friedens und die reale Kriegsbereitschaft
4.3. Internationale Organisationen
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einführung
In der heutigen Zeit ist der Wunsch nach einer gerechten Weltordnung und internationalen Frieden so groß wie selten zuvor. Ein ähnliches Verlangen hatte Ende des 18. Jahrhunderts bereits Immanuel Kant,1 einer der größten deutschen Philosophen und Denker der Neuzeit. Seine Werke (zum Beispiel zur Aufklärung und Moralphilosophie) begründeten einen Wendepunkt in der Philosophiegeschichte und den Beginn der modernen Philosophie. Sie werden heute in die vier Bereiche Erkenntnistheorie, Ethik, Religionsphilosophie und Anthropologie unterteilt.
Im Jahre 1795 konzipierte er sein Werk „Zum ewigen Frieden“2, in dem er seinen Wunsch nach einer internationalen Friedensordnung als notwendigen Prozess darlegte. Der Friedensentwurf wird allgemein zum Bereich der Ethik gezählt, dem die zweite Kantsche Frage („Was soll ich tun“3 ) vorangestellt wird, da das freie und moralisch-sittliche Handeln nicht nur für Einzelpersonen, sondern auch für Staaten gelten muss.4
Staatliches Handeln kann demnach auf der internationalen Ebene zu einer dauerhaften Ordnung führen, die durch eine friedliche Konfliktaustragung gekennzeichnet ist. Dabei kristallisiert sich eine zentrale Frage heraus: Ist ein realpolitischer Prozess möglich, der zu einem dauerhaften zwischenstaatlichen Frieden führt?
In der folgenden Seminararbeit werde ich Kants philosophischen Entwurf hinsichtlich dieser Fragestellung analysieren, also ob es sich um eine realmögliche Antizipation5 oder eine unrealistische Utopie6 handelt. Dazu soll deshalb als erstes die Kantsche Schrift erläutert werden, da sie die Voraussetzung zur Klärung der Frage bildet und den Prozess zu einem ewigen Frieden darstellt. Danach wird einerseits der Entwurf hinsichtlich utopischer Elemente und einer theoretischen Realisierbarkeit untersucht und andererseits die realpolitische
Umsetzung seit der Entstehung 1795 analysiert. Abschließend werde ich diese umfassenden Betrachtungen zusammenfassen um Kants Schrift zwischen Antizipation und Utopie zu differenzieren.
2. Aufbau und Grundgedanken der Kantschen Friedensschrift
Kant verfasste seinen literarischen Entwurf in der „Form eines [völkerrechtlichen] Friedensvertrages“7, womit dem Inhalt ein allgemeingültiger Rechtsanspruch zugesprochen wird. Dadurch bietet der Vertrag „die Möglichkeit der Überführung einer durch kriegerische Auseinandersetzungen charakterisierten zwischenstaatlichen Sphäre in einen umfassenden [international gültigen] Friedenszustand“8. Diese Veränderung ist für Kant notwendig, um die latente Kriegssituation des Naturzustandes9 in einen positiven Frieden umzugestalten, da nur dann die zwischenstaatliche Ebene mit seiner Moralphilosophie und dem Kategorischen Imperativ im Einklang steht.10
Die Schrift gliedert sich in zwei Abschnitte: Den sechs Präliminarartikeln, welche die negativen Voraussetzungen und somit den Vorvertrag bilden und zweitens den drei Definitivartikeln, die den eigentlichen Friedensvertrag darstellen und die positiven Bedingungen für den Frieden enthalten. Anschließend führt Kant noch vier Zusatzklauseln an, die einen politisch-moralischen Komplex formen.11
Um über die Bedeutung und Aktualität von Kants Entwurf Aussagen treffen zu können, werde ich seine Kernaussagen (in Bezug auf die internationalen Beziehungen) im Folgenden kurz erläutern.
2.1. Die Präliminarartikel als negative Voraussetzungen
Die von Kant verfassten Präliminarien12 enthalten sechs Verbotsgesetze zur Schaffung eines negativen Friedens und enthalten „die Faktoren […], die seiner Meinung nach strukturell eine Realisierung des Friedens verhindern“13.
Der erste Präliminarartikel verbietet geheime Kriegsvorbehalte bei der Schaffung eines Friedensschlusses, womit Kant die Friedensschaffung als „Ende aller Hostilitäten“14 aufgrund des guten Willens charakterisiert und einen bloßen Waffenstillstand zur späteren Kriegsfortführung ablehnt.15 Darauf aufbauend verbietet der zweite Artikel den Erwerb eines Staates „durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung“16 durch einen anderen Staat. Kant definiert in diesem Abschnitt den Staat als ein Gemeinwesen beziehungsweise als einheitliche Gesellschaft von Bürgern, welche vor Instrumentalisierung geschützt werden müssen. Eine weitere Bedingung ist die Auflösung der stehenden Heere, da Kant sie als Ursache von expansiven Bestrebungen ansieht. Dies implementiert im Speziellen das Verbot von Söldnerarmeen.17 Im Gegenzug soll ein aus den Bürgern gebildetes Volksheer mit rein defensiver Funktion entstehen. Weiterhin „sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden“18, da dies erstens durch internationale Interdependenzen in den Staatsbankrott führt oder zweitens durch übermäßige Kapitalanhäufung eines Staates zum Krieg führen kann. Die fünfte negative Voraussetzung verlangt die staatliche Autonomie als Interventionsschutz, indem sich keine Nation mit
Gewalt in einen anderen Staat einmischen darf.19 Der sechste Präliminarartikel stellt Grundregeln für den Krieg auf, da ansonsten aufgrund von Kriegsverbrechen jegliche Vertrauensgrundlage entzogen wird, was einen anschließenden Friedensschluss unmöglich macht.
Durch diese sechs negativen Bedingungen wird insgesamt gesehen also ein Ausgangspunkt beziehungsweise eine Vertrauensgrundlage geschaffen, der zu einer dauerhaften Kriegsabwesenheit führen kann.
2.2. Positive Bedingungen: Die Definitivartikel
Nach diesen negativen Voraussetzungen erläutert Kant drei positive Bedingungen, wodurch der Frieden dauerhaft beziehungsweise ewig gesichert werden kann. Charakterisieren lassen sich die drei Artikel als eine „Verrechtlichung […] zwischen den einzelnen Menschen (=Staatsrecht), zwischen Staaten (=Völkerrecht) und zwischen Staaten und Menschen (=Weltbürgerrecht)“20.
Der erste Definitivartikel verlangt ein republikanisches Ordnungssystem für alle existierenden Staaten. Die Grundprinzipien einer Republik sieht Kant in der Gewaltenteilung des Staates und der Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder, welche nur der einzigen gemeinsamen Gesetzgebung unterliegen.21 Für den internationalen Frieden ist das jeweilige Ordnungssystem aufgrund der „Verklammerung von innerstaatlicher Struktur und außenpolitischem Verhalten“22 besonders bedeutsam, da nach Kant die Staatsbürger die Folgen ihres Handels - also auch des Krieges - selbst tragen müssen und in der Endkonsequenz deshalb friedlich sind.23
[...]
1 Kant wurde am 22. April 1724 in Königsberg geboren und erhielt 1770 eine ordentliche Professur für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg. Er verbrachte dort nahezu sein gesamtes Leben und starb am
2 12. Februar 1804. Vgl. Blum, Wilhelm/Rupp, Michael/Gawlina, Manfred: Politische Philosophen, 3. Aufl., München 1997, S. 167 und Weinacht, Paul-Ludwig/Wehner, Gerd (Hrsg.): Aktualität politischer Klassiker - Locke - Montesquieu - Kant, Würzburg 2005, S. 157.
3 Valentiner, Theodor (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 19731795, S. 3.
4 Blum, Wilhelm/Rupp, Michael/Gawlina, Manfred: Politische Philosophen, 3. Aufl., München 1997, S. 181. Vgl. Valentiner, Theodor (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 19731795, S. 16-17. und Blum, Wilhelm/Rupp, Michael/Gawlina, Manfred: Politische Philosophen, 3. Aufl., München 1997, S. 181-182.
5 Definitorisch handelt es sich dabei um eine Vorwegnahme realistischer Entwicklungsmöglichkeiten durch vorwissenschaftliches Wissen, die auf der Analyse gegenwärtiger Bedingungen beruht. Vgl. Kwiatkowski, Gerhard (Hrsg.): Die Philosophie, Mannheim 1985, S. 38.
6 Im allgemeinen Verständnis bedeutet Utopie eine wünschenswerte, aber nicht realisierbare ideale Gesellschaftsordnung. Sie besteht aus einer fiktiven Realität, indem (nur einige aber) grundlegende Teile der Realität herausgebrochen werden und verschwinden. Vgl. Ebda S. 436-437.
7 Valentiner, Theodor (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 19731795, S. 7.
8 Batscha, Zwi/Saage, Richard (Hrsg.): Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres, Frankfurt am Main 1979, S. 7-8.
9 Vgl. Valentiner, Theodor (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 1973 1795, S. 19-20 und Frank, Johann: Kants Friedenstheorie im Lichte aktueller sicherheitspolitischer Herausforderungen, http://www.bmlv.gv.at/pdf_pool/publikationen/07_kft_frank_10. pdf, Stand: 14.12.2008, S. 2.
10 Vgl. Valentiner, Theodor (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 1973 1795, S. 6-7 und Merkel, Reinhard/Wittmann, Roland (Hrsg.): “Zum ewigen Frieden“. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, Frankfurt am Main 1996, S. 8.
11 Der politisch-moralische Komplex ist in Kants Schrift kein zusammenhängender Abschnitt, sondern wird in Form von je zwei Zusätzen und Anhängen gebildet. Da Kant dabei erstens hauptsächlich theoretische Überlegungen in Beziehung zu seiner Moralphilosophie erläutert und zweitens diese als zusätzliche Klauseln zu verstehen sind, wird dieser Komplex im Folgenden nicht extra erläutert. Vgl. Valentiner, Theodor (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 1973 1795 , S. 39-76 und Frank, Johann: Kants Friedenstheorie im Lichte aktueller sicherheitspolitischer Herausforderungen, http://www.bmlv.gv.at/pdf_pool/publikationen/07_kft_frank_10.pdf, Stand: 14.12.2008, S. 2.
12 Kant bezeichnet die ersten sechs Artikel als Präliminarien, da sie vorläufige und einleitende Vorverhandlungen darstellen, um den Naturzustand zu überwinden und somit die Wirkung der Definitivartikel zur Schaffung eines ewigen Friedens erst möglich machen. Vgl. Frank, Johann: Kants Friedenstheorie im Lichte aktueller sicherheitspolitischer Herausforderungen, http://www.bmlv.gv.at/pdf_ pool/publikationen/07_kft_frank_10.pdf, Stand: 14.12.2008, S. 2 und Merkel, Reinhard/Wittmann, Roland (Hrsg.): “Zum ewigen Frieden“. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, Frankfurt am Main 1996, S. 17.
13 Batscha, Zwi/Saage, Richard (Hrsg.): Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres, Frankfurt am Main 1979, S. 9.
14 Valentiner, Theodor (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 19731795, S. 16.
15 Kant unterscheidet damit zwischen echtem und unechtem Frieden. Während also einerseits alle Streitpunkte beigelegt werden, dient der unechte Friedensvertrag nur der Kriegsunterbrechung und wird hauptsächlich aufgrund von Kriegserschöpfung oder Ressourcenknappheit geschlossen. Ferner wird damit die damalige absolutistische Machtpolitik kritisiert, die ihre Kernaufgabe in der aggressiven Expansion sieht. Vgl. Batscha, Zwi/Saage, Richard (Hrsg.): Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres, Frankfurt am Main 1979, S. 8.
16 Valentiner, Theodor (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 19731795, S. 16.
17 Neben der allgemeinen Begründung der Kriegsursache sieht er bei Söldnern zudem die Behandlung von Menschen als Objekte beziehungsweise den „Gebrauch von Menschen als […] Maschinen […] in der Hand eines andern (des Staats)“ Ebda S. 18.
18 Ebda.
19 Selbst wenn sich durch extreme Polarisierung der Staat einer Gesellschaft geteilt hat beziehungsweise im Bürgerkrieg befindet, dürfen fremde Staaten nicht eingreifen. Erst nach der Überwindung des von Kant als anarchisch charakterisierten Zustandes ist es anderen Staaten erlaubt, Bündnisse mit dem neu gebildeten Völkerrechtssubjekt einzugehen oder Beistand zu leisten. Vgl. Valentiner, Theodor (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 19731795, S. 19 und Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf “Zum ewigen Frieden“. eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, S. 64.
20 Frank, Johann: Kants Friedenstheorie im Lichte aktueller sicherheitspolitischer Herausforderungen, http://www.bmlv.gv.at/pdf_pool/publikationen/07_kft_frank_10.pdf, Stand: 14.12.2008, S. 8.
21 Kants Verständnis einer Republik entspricht der heutigen Auffassung einer liberalen Demokratie, wobei er das demokratische Ordnungssystem anders definierte und dadurch als despotisch einstufte. Vgl. Valentiner, Theodor (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 1973 1795 , S. 27-28.
22 Batscha, Zwi/Saage, Richard (Hrsg.): Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres, Frankfurt am Main 1979, S. 9.
23 Vgl. Valentiner, Theodor (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart 19731795, S. 26.