Bereits im Klappentext zu Zoë Jennys Debütroman „Das Blütenstaubzimmer“ ist von einem „[…]der ersten und radikalsten Romane der Technogeneration, adressiert in aller Härte an die 68er-Eltern.“ die Rede. Die Autorin selbst distanziert sich von diesem eher politischen Romanverständnis:
„Es wurden auch andere Dinge über das Buch gesagt. Sehr viel interessantere. Das ist die denkbar langweiligste. Weil sie sehr plakativ ist und sehr medientauglich. Also, deshalb wird sie wahrscheinlich auch überall erwähnt. Ich denke nicht, daß es eine Abrechnung sein kann, denn es ist nicht explizit gegen irgend jemanden gerichtet. Und das wäre eine Abrechnung, ja. Dieser Text stellt nur dar. Er zeigt auf, und das ist alles. Das genügt als Erklärung."
Dies zeigt, dass Jenny ihren Roman primär unpolitisch, also nicht als Anklage der 68er-Generation verstanden wissen will.
Insofern wird man Jennys eigenem Verständnis eher gerecht, wenn man im „Blütenstaubzimmer“ einen Roman sieht, der in der Reihe von Texten der Gegenwartsliteratur steht, die „als literarische Protokolle von Deformationen beschrieben werden [können], Familie wird hier zum Zerrbild menschlicher Sozialisation.“
Daher soll im Folgenden in einem ersten Schritt der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern Bezüge zur 68er-Generation hergestellt werden können und müssen.
In einem zweiten Schritt soll untersucht werden, ob dieser Roman mehr als nur die 68er Eltern-Kind-Generation darstellt und ob das Schicksal der Protagonistin Jo als beispielhaft für das Schicksal eines Scheidungskindes gesehen werden kann.
Zu diesem Zwecke sollen besonders die dargestellten familiären Beziehungen und Konflikte genauer betrachtet werden, wobei vor allem auf die weiblichen Hauptfiguren näher eingegangen wird.
Zudem wird es ein Kapitel geben, das speziell auf die Metaphorik und sprachlichen Bilder eingeht, in denen die familiären Konflikte zum Ausdruck kommen.
Darin soll untersucht werden, ob sich neben dem bloßen Darstellen und Aufzeigen4 nicht noch eine weitere Ebene erschließen lässt, die uns weitaus tiefere Einblicke, vor allem in die Psyche der Protagonistin Jo, gewährt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Anklage oder bloße Darstellung?
2. Von Familien, die keine sind
2.1 Die 68er-antiautoritäre „Anti-Eltern“?
2.2 Jo-die unbehauste Tochter
2.3 Rea-ein Gegenentwurf?
3. Jo zwischen Angstkugeln und Insekten (Bildlichkeit und Metaphorik im Roman
4. Fazit: Verlorenheit und Liebesentzug- Blütenstaub statt „Flower Power“
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung: Anklage oder doch bloße Darstellung?
Bereits im Klappentext zu Zoë Jennys Debütroman „Das Blütenstaubzimmer“ ist von einem „[«]der ersten und radikalsten Romane der Technogeneration, adressiert in aller Härte an die 68er-Eltern.“1 die Rede. Die Autorin selbst distanziert sich von diesem eher politischen Romanverständnis:
„Es wurden auch andere Dinge über das Buch gesagt. Sehr viel interessantere. Das ist die denkbar langweiligste. Weil sie sehr plakativ ist und sehr medientauglich. Also, deshalb wird sie wahrscheinlich auch überall erwähnt. Ich denke nicht, daß es eine Abrechnung sein kann, denn es ist nicht explizit gegen irgend jemanden gerichtet. Und das wäre eine Abrechnung, ja. Dieser Text stellt nur dar. Er zeigt auf, und das ist alles. Das genügt als Erklärung."2
Dies zeigt, dass Jenny ihren Roman primär unpolitisch, also nicht als Anklage der 68er-Generation verstanden wissen will.
Insofern wird man Jennys eigenem Verständnis eher gerecht, wenn man im „Blütenstaubzimmer“ einen Roman sieht, der in der Reihe von Texten der Gegenwartsliteratur steht, die „als literarische Protokolle von Deformationen beschrieben werden [können], Familie wird hier zum Zerrbild menschlicher Sozialisation.“3
Daher soll im Folgenden in einem ersten Schritt der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern Bezüge zur 68er-Generation hergestellt werden können und müssen.
In einem zweiten Schritt soll untersucht werden, ob dieser Roman mehr als nur die 68er Eltern-Kind-Generation darstellt und ob das Schicksal der Protagonistin Jo als beispielhaft für das Schicksal eines Scheidungskindes gesehen werden kann. Zu diesem Zwecke sollen besonders die dargestellten familiären Beziehungen und Konflikte genauer betrachtet werden, wobei vor allem auf die weiblichen Hauptfiguren näher eingegangen wird.
Zudem wird es ein Kapitel geben, das speziell auf die Metaphorik und sprachlichen Bilder eingeht, in denen die familiären Konflikte zum Ausdruck kommen.
Darin soll untersucht werden, ob sich neben dem bloßen Darstellen und Aufzeigen4 nicht noch eine weitere Ebene erschließen lässt, die uns weitaus tiefere Einblicke, vor allem in die Psyche der Protagonistin Jo, gewährt.
2. Von Familien, die keine sind
„Als meine Mutter ein paar Straßen weiter in eine andere Wohnung zog, blieb ich bei Vater.“(B 5) Schon mit diesem ersten Satz des Romans wird deutlich, dass wir es hier nicht mit einer traditionellen, konservativen Form der Familie zu tun haben.
„Heute existieren in den hoch entwickelten Gesellschaften viele verschiedene Formen der Familie nebeneinander. Darunter ist auch die traditionelle Form: Der Mann fungiert als Oberhaupt der Familie, weil er die Rolle des Geldverdieners innehat. Die Frau wird als alleinige Erzieherin der Kinder verstanden, die auch für das emotionale Binnenklima der gesamten Familie verantwortlich ist. Der Anteil dieser »traditionellen« Familien wird aber allmählich geringer [«]“.5
Die Familie als soziales System, unabhängig von ihrer Form (traditionelle oder Patchwork-Familie bspw.), „[«] ist auf die Erfüllung der Bedürfnisse nach »Glück« ihrer Mitglieder- im Sinne von Liebe, Nähe, Emotionalität, Entspannung und Rückzug- ausgerichtet.“6
Doch die Familienstrukturen, denen man in Jennys Roman begegnet, sind von diesem Ideal weit entfernt. Stattdessen wird man mit Beziehungslosigkeit und scheinbar unüberwindbarer Kommunikationslosigkeit konfrontiert. Die Menschen scheinen, ähnlich wie die beiden Fische im Zimmer von Paulin durch eine Glasscheibe (vgl. B 136), wie durch eine Wand der Sprachlosigkeit und Beziehungsunfähigkeit voneinander getrennt zu sein.
„Die Familie als zentrale Sozialisationsinstanz-[«]- ist mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in eine Dauerkrise geraten [«].“7
Beispielhaft für diese Krise und die innerfamiliären Konflikte sollen im Folgenden besonders das Verhältnis zwischen der Protagonistin Jo und ihrer Mutter Lucy sowie die Familiensituation von Rea, der Straßenmusikantin, näher beleuchtet werden.
2.1 Die 68er - antiautoritäre „Anti-Eltern“?
Zu den Folgen der Studentenrevolte der 68er Jahre werden meist „ein Abbau autoritärer Strukturen in Familie und Erziehung, im Geschlechterverhältnis, im Arbeitsleben und im Verhältnis von Bürger und Staat“8 gezählt. In diesem Zusammenhang wurde auch die „antiautoritäre Erziehung“ (auch permissiv genannt) als zwangsfreie Erziehungsmethode wieder aufgegriffen.
„Der permissive Stil hat den Nachteil, dass keine klaren Regeln für das Umgehen zwischen Eltern und Kindern existieren. Ein Zusammenleben ohne eine Setzung von Normen führt zu Irritierungen und Verwirrungen der Kinder. Regellosigkeit wird von ihnen oft als Lieblosigkeit und Mangel an Aufmerksamkeit und Zuwendung empfunden.“9
Dieser Erziehungsstil der 68er-Eltern scheint für die Kinder in Jennys Roman, Jo und Rea, hauptsächlich Halt- und Orientierungslosigkeit zu bewirken und führt zur ständigen Suche nach Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Liebe, sie fordern elterliche Zuwendung.
Wilczek spricht von einem „gesellschaftlichen und politischen
[Umwälzungsprozess], der gravierende Auswirkungen auf die Familie gehabt hat.“10
Beispielhaft für die Vertreter dieser Elterngeneration soll an dieser Stelle Lucy, Jos Mutter, charakterisiert werden.
Bezeichnend ist dabei vor allem ihr Verhalten in der Rolle der Mutter.
„Die abwesende- und abweisende- Mutter, die ihre Tochter als ihre Schwester ausgibt und sich von ihr Lucy nennen läßt [«]“.11
Sie ist kompromisslos, egoistisch und verantwortungslos ihrer Tochter gegenüber, erfüllt nicht die traditionelle Rolle der Mutter und erscheint für den Leser als „Rabenmutter“, wird von Jo selbst aber „[«]trotz der Schwierigkeiten zueinander zu finden, nicht mit Bitterkeit dargestellt.“12
Diese Anspruchslosigkeit Jos kann als Ergebnis ihrer antiautoritären Erziehung verstanden werden. Dadurch, dass ihre Mutter ihr gegenüber stets egoistische Verhaltensmuster demonstriert hat, hat Jo ein entsprechend geringes Selbstwertgefühl entwickelt. Ihre Ansprüche auf Nähe, Geborgenheit und emotionale Zuwendung äußert sie nicht offen und stellt somit die Bedürfnisse der Mutter automatisch über ihre eigenen.
Bei Lucy handelt es sich nicht um „[«] eine gluckenhafte Mutter, sondern um das Gegenteil: das herzlose laissez faire der Selbstverwirklicher.“13 Doch diese Selbstverwirklichung geht auf Kosten der Familie und insbesondere auf Kosten Jos. „Die Neue Frauenbewegung rief die Frauen auf, sich aus der traditionellen weiblichen Beschränkung auf Häuslichkeit, Ehe und Familie zu lösen.“14 Die Emanzipation der Frau, die Lucy in diesem Roman verkörpern soll, erhält allerdings einen destruktiven Charakter, sie zerstört das traditionelle Familienideal, die traditionelle Kleinfamilie.
Doch diese Emanzipation Lucys, die in erster Linie in ihrem Entschluss zur Scheidung besteht, scheitert, da Lucy offenbar nicht fähig ist, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Besonders deutlich wird dieses Scheitern durch ihre Depression, nach dem Tod ihres zweiten Mannes Alois schließt sie sich ins Blütenstaubzimmer wie in ein „Scheingrab“15 ein. Interessant ist hier das Motiv der Blüte, was an die „Flower-Power-Bewegung“ ihrer Generation erinnert, so als wolle Lucy hier Tod und schmerzliche Erinnerungen unter einer Schutzschicht aus Blütenstaub verbergen. Schnell verdrängt Lucy die Erinnerungen an den Unfall und kehrt zurück ins Leben, an die Seite eines neuen Mannes. Sie will das Leben genießen, Vergangenes soll dabei keine Rolle spielen.
„Lucy fürchtet Erinnerungen, sie belästigen sie, und deswegen hat sie das Bett einige Zentimeter verschoben. Als ob es möglich wäre, das Leben eines Menschen auszulöschen, indem man dessen Habe vernichtet und das eigene Bett verschiebt, nur um nicht auf die Bäume zu blicken, die bei seinem Grab stehen.“ (B 42f.)
Sie hat eine klare Vorstellung von ihrem Leben, die sie ohne Rücksicht auf ihre Tochter umsetzt: „’[«] ich habe nicht vor, die künftigen dreißig Sommer, die ich noch zu leben habe, Witwe zu spielen.’“ (B 38)
2.2 Jo - die unbehauste Tochter
Nach der Trennung ihrer Eltern wächst Jo als Scheidungswaise bei ihrem Vater, einem erfolglosen Kleinverleger auf. Schnell wird klar, dass der Vater sich zwar bemüht, für sein Kind zu sorgen (bspw. indem er einen zweiten Job annimmt), dass es ihm jedoch nicht gelingt, eine geeignete Umgebung für sein Kind herzustellen und Jo das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu geben.
Jos Kindheit ist von Einsamkeit, Zurückgezogenheit und Angst geprägt, die immer wieder in obskuren Traumbildern und Angstvorstellungen ausgedrückt werden. „Der Traum ist für die Darstellung der kindlichen Angstwelt von entscheidender Bedeutung.“16
Wie viele Kinder fürchtet Jo sich vor der Dunkelheit, verkörpert durch ein „Insekt“, das ihr auflauert und über sie herfallen will:
„Vor dem Fensterrechteck, aus dem ich zuvor meinen Vater beobachtet hatte, hockte jetzt das Insekt, das mich böse anglotzte. [«] Jederzeit konnte es mir ins Gesicht springen und seine knotigen, pulsierenden Beine um meinen Körper schlingen.“ (B 7)
Während das Motiv des „Angestarrtwerdens“ hier in Zusammenhang mit einem Insekt steht, so bezieht es sich an späteren Stellen des Romans auf Menschen, von deren Blicken sich Jo verfolgt fühlt, z.B. in Gegenwart zweier alter Frauen: „Als ich mich auf eine Bank neben der ihren setze, blicken sie zu mir herüber; in ihren Augen ist nichts Freundliches. Ich weiß, ich störe sie.“(B 138f.) Ihre eigene Wahrnehmung projiziert sie hier auf den Blick der Frauen, bzw. geht noch einen Schritt weiter, indem sie die Ablehnung der Frauen als Gewissheit definiert.
[...]
1 Jenny, Zoë: Das Blütenstaubzimmer. 6. Auflage Frankfurt a.M. 2002. Im folgenden Text mit der Sigle B und der Seitenangabe zitiert.
2 Neumann, Brigitte: Das Blütenstaubzimmer. In: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/164322/ (28.12.08).
3 Wilczek, Reinhard: Familienkonflikte als Thema der Gegenwartsliteratur. Prosatexte von Hans-Ulrich Treichel, Birgit Vanderbeke und Zoë Jenny. In: Deutschunterricht 56/2003, H. 1, S. 25.
4 vgl. Fußnote 2
5 Hurrelmann, Klaus: Einführung in die Sozialisationstheorie. 8., vollst. überarb. Auflage Weinheim, Basel 2002. S. 129.
6 Hans Bertram (Hrsg.): Das Individuum und seine Familie: Lebensformen, Familienbeziehungen und Lebensereignisse im Erwachsenenalter. Opladen 1995. Zitiert bei Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie, S. 129.
7 Wilczek: Familienkonflikte als Thema der Gegenwartsliteratur, S. 21.
8 Kießling, Simon: Die antiautoritäre Revolte der 68er. Postindustrielle Konsumgesellschaft und säkulare Religionsgeschichte der Moderne. Köln 2006. S. 16.
9 Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie, S. 160.
10 Wilczek: Familienkonflikte als Thema der Gegenwartsliteratur, S. 21.
11 Strigl, Daniela: Fräulein- und andere Wunder. Galvagni, Röggla & Co. In: Geschlechter. Essays zur Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Friedbert Aspetsberger/Konstanze Fliedl. Innsbruck 2001.S. 141.
12 Mitrache, Liliane: Bild und Sprache: Eine Untersuchung der Metaphern in dem Roman 'Das Blütenstaubzimmer' von Zoë Jenny. In: Text im Kontext. Beiträge zur 4. Arbeitstagung schwedischer Germanisten. Hrsg. von Edelgard Biedermann/Magnus Nordén. Stockholm 2002 (=Schriften des Germanistischen Instituts, Universität Stockholm, Bd. 29), S. 137.
13 Strigl: Fräulein- und andere Wunder, S. 142. Hervorhebung im Original.
14 Kießling: Die antiautoritäre Revolte der 68er, S. 60.
15 vgl. Mitrache: Bild und Sprache, S. 138.
16 Wilczek: Familienkonflikte als Thema der Gegenwartsliteratur, S. 25. Hervorhebung im Original.