„Smartphone, also bin ich?“ Versuch einer Kritik anhand Paul Virilios Dromologie
Zusammenfassung
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2 Zu den zwei bekanntesten Publikation der letzten zehn Jahre zählen unter anderem: ROSA, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M und BORSCHEID, Peter (2004): Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt.
3 Man denke dabei beispielsweise allein schon an die verschiedenen Slogans wie „Ihre Stadt im Geschwindigkeitsrausch“ oder „surfen Sie am Tempolimit“ u.dgl.m.
4 Hier sei exemplarisch auf die zahlreichen Veröffentlichungen und Seminare von Herrn Lothar Seiwert alias dem „Zeitmanagement-Papst“ verwiesen (vgl. bspw. SEIWERT, Lothar J. (2001): Mehr Zeit für das Wesentliche. Besseres Zeitmanagement mit der SEIWERT-Methode, Landsberg. Noch passender zum Thema der vorliegenden Arbeit scheint allerdings DERS. (2009): 30 Minuten Zeitmanagement mit Blackberry, Offenbach).
5 Erst jüngst lief der Dokumentarfilm „SPEED. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Florian Opitz in den deutschen Programmkinos.
Leseprobe
Inhalt
I. Einleitung
II. Paul Virilios Lehre von der Geschwindigkeit
II. A. Methodische Orientierung der Dromologie: Das Beispiel der Transportmittel
II. B. Die Automatisierung von Wahrnehmung
III. Das Beispiel Smartphone
III. A. Das Gerät
III. B. Die „virtuelle Nabelschnur“
IV. Schlussfolgerung und Ausblick
VI. Bibliographie
I. Einleitung
„Neulich ging die Welt unter. Sie verschwand einfach und kollabierte vor meinen Augen. Die Ursache war schlicht: Ich wusste den SIM - Code meines Handys nicht [mehr, A.B.]. (...) Danach verbarrikadierte sich das Handy und mit ihm die Welt. Keine Post, keine Anrufe, keine Ordnung oder Orientierung mehr, kein Sinn. Nur ich - ohne Anschluss an mein eigenes Leben, womit eine düstere Nacht begann, seit der mir klar ist: Ohne mein Smartphone bin ich ein vom Rest der Welt abgenabeltes Wesen wie Keanu Reeves, nachdem er sich nackig vom Kokon der „Matrix“ entstöpselt hatte. Man wacht in einer Realität auf, die überraschend fremd wirkt“ (Tuma 2012: 62).
Doch wo ist die „Realität“ hin? Verändert die durch die neuen Technologien erzeugte virtuelle Nähe unser Erleben von Begegnungen und Wahrnehmungen in der realen Welt? Immer und überall sieht man Menschen an ihren Smartphones „herumfummeln“, auf ständiger Suche nach virtuellen Orten, an denen sie wieder „mehr“ oder „wer“ sein können. Kann es denn sein, dass an einem Tag doppelt so viele Smartphones verkauft wie Babys geboren werden?1 Wir sind wie gefesselt von den neuen Technologien, deren Versprechen (uns) eigentlich Befreiung verhieß/prophezeite (Turkle 2012: 42ff.). Befreiung? Aber wovon? Fast jeder einzelne in unserer „globalisierten und hochtechnisierten Welt“ ist vermutlich mit dem Gefühl vertraut, die Zeit vergehe „irgendwie schneller“. Je mehr Zeit gewonnen wird, desto schneller zerrinnt sie uns schon wieder zwischen den Fingern. Ereignisse scheinen sich zu überschlagen, wir versuchen so viel wie möglich gleichzeitig zu tun und Veränderungen vollziehen sich in so rasantem Tempo, dass das Gefühl aufkommt, man käme nicht mehr mit (Rosa 2004: 9; Assheuer 2006). „Beschleunigung“ und „Geschwindigkeit“ sind die Wörter der Stunde - alles zielt auf immer höheres Tempo und neue Dimensionen ab, Geschwindigkeit ist quasi „in“. Laut Borscheid (2004) ist sie schon längst zu einem gesellschaftlichen Wert avanciert und meist Ursprung und Synonym für Fortschritt. Die ständige und immer mehr zunehmende Beschleunigung unserer Lebenswelt verlangt in einer modernen, globalisierten Gesellschaft jedoch nach Anpassung. Denn um in der Gesellschaft bestehen zu können, muss sich unser Handeln nach den Handlungen und Zeitstrukturen unserer Mitmenschen ausrichten. Zeitliche Synchronisation stellt hierbei das Minimum dar, ist aber bei weitem nicht (mehr) ausreichend. Um sich der Gesellschaft anpassen-, also im Grunde „in der Zeit sein“ zu können, bedarf es mehr als bloßer Übereinstimmung mit dem allgemeinen Zeitempfinden. „In der Zeit sein“ heißt (heutzutage) vielmehr, mit den Medien verbunden-, stets erreichbar zu sein, ununterbrochen und im Gleichtakt der Medien. Es scheint, als befänden wir uns in einem nie enden wollenden Aufmerksamkeitsstress, in dem uns von den Medien ständig unser (Zeit-)Mangel an Geschwindigkeit, Multitaskingfähigkeit und Entscheidungsfindung vorgehalten wird (Wurm 2012: 103f.). Befinden wir uns bereits in einer Art Zeitfalle? Und bieten die neuen Technologien beziehungsweise in unserem Fall mobile Endgeräte wie das Smartphone als „Zeitsparer“ oder „Zeitmanager“ Auswege aus dieser Misere an? War mit dem Befreiungsversprechen also die Befreiung von der allseits herrschenden Zeitknappheit gemeint?
Tatsächlich scheint die Zeit im öffentlichen Bewusstsein zu einer kostbaren Ressource geworden zu sein, mit der effizient gewirtschaftet werden muss. So sind in den letzten 25 Jahren eine Vielzahl an populären und wissenschaftlichen Publikationen zum Thema „Zeit“ und „Beschleunigung“ veröffentlicht worden,2 ja sogar ganze Wissenschaftskongresse befassen sich mit diesen Themen. Allerdings beschränkt sich das rege Interesse keineswegs nur auf die Wissenschaftswelt. „Beschleunigung“ ist zum Medienthema schlechthin avanciert und damit zu einem Thema der Öffentlichkeit (Kirchmann 2004: 75). Neben den zahlreichen und allgegenwärtigen Spots und Slogans, die sich des Themenkomplexes zu Werbezwecken für ihr jeweiliges Produkt bedienen,3 reicht das Spektrum von Museumsinstallationen, Seminaren zum Zeitsparen, über eine Flut an sogenannten Zeitspar-Ratgebern4 bis hin zu Fernsehsendungen und kompletten Filmen zum Thema.5 Denkt man über dieses Phänomen nur ein wenig genauer nach, so ist eine derartige Breitenwirksamkeit keineswegs verwunderlich, offenbart sich das Thema doch in vielen alltäglichen Situationen - man denke dabei allein schon an den Überschall-Tourismus, Verkehrsinfarkte oder schlicht an überlandende Terminkalender. Bei einer derartigen Aktualität beziehungsweise Popularisierung des Themas bleibt eine Polarisierung der Debatte kaum aus. Kirchmann zufolge gerät die Auseinandersetzung ums Für und Wider „Beschleunigung“ regelrecht zur Glaubensfrage, ja es scheint beinahe so, als hinge von dieser Frage das zukünftige „Wohl und Wehe der Menschheit“ ab (Kirchmann 2004: 75f.). Dass mit diesen Überlegungen der Siegeszug der neuen, digitalen Kommunikationstechnologien Hand in Hand geht ist dabei zweifelsfrei evident. Denn ohne sie scheint man nicht mehr mitzukommen, hinterherzuhinken, nicht mit der Gesellschaft verbunden zu sein. Trägt also die „digitale Revolution“ Schuld an unserer Atemlosigkeit oder liefert sie eben jene Instrumente wie das Smartphone zur Bewältigung unseres Zeitproblems (Rosa 2004: 13)? Und was also passiert mit uns Menschen im Verlauf dieses Prozesses? Passen wir uns den neuen medialen Gegebenheiten ohne weiteres an oder verändert diese viel beschworene Revolution unsere Vorstellungskraft, Kommunikation und Wahrnehmungsfähigkeit? Gehen wir durch das ständige „mediale Rauschen“ (Wurm 2004: 105) letztendlich an ihnen kaputt?
Stellt man sich diese - auch für die vorliegende Arbeit - zentralen oder ähnlich geartete Fragen, kommt man an dem französischen Philosophen6 Paul Virilio nicht vorbei. Er ist der Denker der Geschwindigkeit schlechthin, der vielleicht populärste Theoretiker zum Komplex „Medien und Beschleunigung“ und seine „sozialutopischen“ Ausführungen (Kirchmann 2004: 78) somit aktueller denn je. Er ist der Begründer der sogenannten „Dromologie“ (von gr. dromos : Lauf, Läufer), unter der er die Lehre vom Wesen der Geschwindigkeit, ihren Entstehungsbedingungen, Veränderungen und Folgen versteht (Breuer 1988: 309).
Gegenstand seiner Analysen sind eben jene Wandlungen von Zeit- und damit eng zusammenhängend auch Raumerfahrungen in den modernen, mobilen Industriegesellschaften. Im Zentrum stehen dabei immer die Wechselbeziehungen zwischen Geschwindigkeit, Kriegs- und Medientechnologie, die allesamt einer „Logistik der Wahrnehmung“ gehorchen würden, sprich einer militaristischen Ausrichtung und Messbarmachung des menschlichen Sehens und damit einer unbarmherzigen Überwachung beziehungsweise Beschlagnahme menschlicher Wahrnehmungs- und Vorstellungskraft zuarbeiteten. Letztlich würde die Geschichte der Geschwindigkeit in einer völligen Erstarrtheit aller Mediennutzer münden, in einem „rasenden Stillstand“ regelrecht implodieren (Kirchmann 2004: 78f.). Er skizziert also ein Untergangsszenario, dass Anlass zum Nachdenken über die Frage nach einer Ethik der Medien gibt (Kloock/Spahr 2000: 10).
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in zwei größere Teile. Im ersten Teil soll Virilios Dromologie in ihren Grundzügen umrissen und diskutiert werden. Um im Folgenden herausstellen zu können, ob Virilios Ausführungen auf das „Phänomen Smartphone“ anwendbar sind und ob, warum und inwieweit wir uns durch diese neue Technologie verändern, wird in einem zweiten Schritt zunächst das Gerät an sich vorgestellt und seine schon heute zu beobachtenden Auswirkungen auf uns Menschen kritisch erläutert. Da kaum kritische Literatur über diese neue Technologie auffindbar ist, stützt sich Kapitel III. B. größtenteils auf die Ausführungen der US-Soziologin Sherry Turkle, die in ihrem aktuellen Buch „Verloren unter 100 Freunden. Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern“ (2012) zudem der Virilio’schen Argumentation einigermaßen nahe kommt.
II. Paul Virilios Lehre von der Geschwindigkeit
II. A. Methodische Orientierung der Dromologie: Das Beispiel der Transportmittel
Paul Virilio, geboren 1932 in Paris, war nach einer Ausbildung zum Kunstglasermeister sowie verschiedenen Einsätzen in Deutschland und im Algerienkrieg als Kartograph im Zuge seines Militärdienstes, zunächst als Ausstellungsmacher, Stadtplaner und Architekt tätig (Tholen 1999: 140). Diese Tatsache hat Virilios Herangehensweise an die Themen „Geschwindigkeit und Medien“ laut Grau (2012) maßgeblich geprägt. Denn ist nicht die Geschwindigkeit der „natürliche Feind“ eines jeden Architekten? Braucht sie nicht leeren Raum und geht mit ihr nicht immer Wandel einher? Und welcher Architekt würde nicht gern für die Ewigkeit bauen? Muss Geschwindigkeit aus der Sicht eines Architekten somit nicht etwas enorm Zerstörerisches an sich haben? So ist es denn auch wenig erstaunlich, dass Virilios Dromologie allem anderen als einem Lobgesang auf die Bewegung, den Fortschritt und eben auf die Geschwindigkeit gleicht - Beschleunigung sei vielmehr „buchstäblich das Ende der Welt“, die westliche Geschwindigkeitsideologie somit nichts anderes als „praktizierter Nihilismus“. Ein hartes Urteil.
Um es zu belegen, geht Virilio historisch vor. Allerdings gesteht auch er zunächst zu, dass Geschwindigkeit ein elementarer Bestandteil der belebten Natur sei. Denn ohne Geschwindigkeit hätten selbst die Pflanzen keine Möglichkeit, sich mithilfe von Wind oder Wasserströmungen auszubreiten und neue Regionen zu besiedeln. Für die meisten Säugetiere dient Bewegung und damit eben auch Geschwindigkeit als Grundlage ihrer Existenz. Auch der Homo sapiens musste sich, um jagen und sammeln zu können zunächst einmal bewegen (Grau 2012: 60f.). So ist die Geschwindigkeit schon immer die ausschlaggebendste Determinante gewesen, die eine Gesellschaft zu allen Zeiten bestimmt hat und ist damit quasi „Analysefaktor Nummer eins“. Weil allein die Geschwindigkeit die „verborgene Seite des Reichtums“ und somit der Macht repräsentiere (Virilio 1993: 37, 21), ist für Virilio folglich die gesamte Geschichte im Kern eine Geschichte der Geschwindigkeit. Und da jedes Medium über eine eigene Wahrnehmung von Geschwindigkeit verfügt, ist die Dromologie grundsätzlich als eine Theorie der Medien zu verstehen. Dabei geht Virilios Medienbegriff soweit, dass er die Frau als erstes „Transportmittel“ begreift, denn sie ist das Mittel, um überhaupt geboren werden zu können. Mehr noch - indem sie das Tragen der Nachkommen, der Lebensmittel und des Gepäcks übernimmt, ermöglicht sie dem männlichen Jäger und Krieger erst die Bewegungsfreiheit. Somit garantiert sie ihm seine Fähigkeit zur Bewegung, zur Ausdehnung und Beschleunigung seines Angriffs. Das Ausdehnen und Optimieren von Kriegsstrategien und -taktiken setzt sich mit dem Lasttier, der Reiterei, dem Wagen und dem Erfinden von Straßen- und Autobahnnetzen stetig fort, sprich: mit der Entwicklung des Transportwesens. Als Herzstück, über das die Geschichte sich stetig verändernder Geschwindigkeiten dargestellt und analysiert werden kann, fungieren somit die Medien. Allerdings geht es hierbei weniger um ihren übermittelnden-, als vielmehr um ihren informativen Gehalt: die Geschwindigkeit selbst wird zur Information. Weil sie unsere Existenz und unser Verhältnis zu Raum und Zeit beeinflusst, zählt einzig die Geschwindigkeit der Übertragung; etwaige Inhalte und Instruktionen sind für Virilio nicht von Belang. So ist denn auch der menschliche Körper, seine unvermittelte, sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit, das für Virilio wichtigste Medium. Allerdings wurde diese, dem Menschen ureigene Fähigkeit, eben durch die verschiedenen Entwicklungen auf dem Gebiet der Technik immer weiter beschleunigt, bis hin zu einer „total gewordenen maschinellen Perfektionierung“, die nichts mehr von der grundlegenden Natürlichkeit übrig lässt. So betrachtet kann Virilios Medientheorie also als eine anthropologische Medientheorie verstanden werden (Kloock/Spahr 2000: 134f.).
Virilio unterscheidet mehrere Epochen oder Ordnungen der Geschwindigkeit, er selbst spricht hier von drei Revolutionen: die Revolution des Transportwesens im 19. Jahrhundert, die Revolution der (lichtgeschwinden) Transmissions- beziehungsweise Übertragungsmedien im 20. Jahrhundert und die zukünftige Revolutionen der Transplantationen (Virilio 1993: 17). Die Revolution des Transportwesens vollzog sich im Grunde mit der industriellen Revolution. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Geschwindigkeit des Menschen laut Virilio völlig natürlich. Denn ganz egal, ob er ritt oder segelte, nie war er schneller als sein eigener Körper, der eines Tieres oder Naturkräfte es gestatteten. Da Bewegung also beispielsweise durch politische Grenzen oder militärische Befestigungen leicht aufzuhalten war, herrschte in diesem „Zeitalter der Bremswirkung“7 folglich die Macht des Verweilens über Bewegung und Wandel. Auf diese Weise wurde zwar einerseits Distanz und Isolation geschaffen, anderseits jedoch Heterogenität, Pluralismus und lokale Besonderheiten erzeugt. Zudem wurde damit der geographische Raum und die ihm zugeordnete historische Zeitordnung geschaffen (Grau 2012: 61). Parallel dazu wurde allerdings auch schon zu dieser Zeit versucht, die Übermittlung von Nachrichten zu beschleunigen: man benutzte Brieftauben als Boten. Nachrichten beziehungsweise deren schneller Transport waren historisch schon immer wichtiger als Besitz- oder Produktionsverhältnisse:
„Denn nicht Gold, sondern die Schnelligkeit der Taube oder des Boten erzielte den Gewinn. Das elektronische Geld setzt lediglich etwas fort, was schon der Finanzberater Karls VII. (...) mit seinem Taubenschlag begonnen hatte. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass Bauern kein Recht hatten, Taubenschläge zu unterhalten. Der Taubenschlag war sozusagen das Tele-Terminal des Grundherrn.“ (Virilio 1993: 20)
Im Zuge der „dromokratischen Revolution“ (das heißt der industriellen Revolution), emanzipierte sich der Mensch schließlich von Last- und Zugtieren, also von sogenannten „metabolischen“ Verkehrsmitteln. Die Industrialisierung brachte Maschinen hervor, die imstande waren, selbst Geschwindigkeit zu erzeugen, womit nunmehr die Möglichkeit zur genauen Geschwindigkeitskontrolle gegeben war (Kloock/Spahr 2000: 135f.). Bei diesem Übergang zur Maschine haben wir es laut Virilio allerdings noch mit einer relativen Geschwindigkeit zu tun. Erst mit der Revolution der elektronischen Übertragungstechniken im vergangenen Jahrhundert haben wir uns mit der Entwicklung von Funk und Elektronik der absoluten Geschwindigkeit, die elektromagnetische Wellen zu leisten imstande sind, angenähert. Nachdem es in den 1940er Jahren gelang, die Schallmauer- und kurz darauf mit dem Aufkommen der Raketen die Hitzemauer zu durchbrechen, haben wir schließlich im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts die äußerste Geschwindigkeitsmauer erreicht: die der Lichtgeschwindigkeit (Virilio 1993: 20, 8). Weil die Lichtgeschwindigkeit alle Entfernungen verschwinden lässt, wird jegliche physische Bewegung unnötig. Von daher kann diese Revolution der elektromagnetischen Übertragungsmedien als eine audio-visuelle Revolution verstanden werden. Denn mit dieser absoluten Geschwindigkeit (300 000 km/sek.) wird eine globale visuelle „Umweltkontrolle in Echtzeit“ ermöglicht, welche die reale Anwesenheit an einem Ort überflüssig werden lässt. Auf diese Weise löst sich der Raum immer weiter auf, die Dinge erscheinen im Verschwinden, alles wird zu schnell für unsere menschliche Wahrnehmung. Weil wir zu langsam- beziehungsweise nicht in der Lage sind, uns diesen Geschwindigkeiten anzupassen, wird unsere Wahrnehmungsfähigkeit schlicht automatisiert. Virilio geht somit davon aus, dass unser menschlicher Körper durch die elektronischen Medien nicht etwa im Sinne einer Effizienzsteigerung verlängert oder technisch aufgerüstet wird, ganz im Gegenteil: durch die medialen Techniken würden wir verdrängt, ja unseres gesamten Da seins beraubt. So versteht Virilio das Telefon auch nicht als eine Verlängerung der menschlichen Stimme über bestimmte Distanzen hinweg, sondern vielmehr als eine Art Instrument, das unsere Existenz, das „Hier und Jetzt“, ein real anwesendes Gegenüber und somit die körperlich-sinnliche Nähe zu einem anderen Menschen völlig ausschließt. Für ihn steht die „Echtzeit der Telekommunikation“ nicht nur im Gegensatz zur Vergangenheit, sondern auch zum Gegenwartsgeschehen und seiner Aktualität.
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1 So SAP-Vorstandschef William McDermott auf einer Hauptversammlung im Sommer vergangenen Jahres (Tuma 2012: 63).
2 Zu den zwei bekanntesten Publikation der letzten zehn Jahre zählen unter anderem: ROSA, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M und BORSCHEID, Peter (2004): Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt.
3 Man denke dabei beispielsweise allein schon an die verschiedenen Slogans wie „Ihre Stadt im Geschwindigkeitsrausch“ oder „surfen Sie am Tempolimit“ u.dgl.m.
4 Hier sei exemplarisch auf die zahlreichen Veröffentlichungen und Seminare von Herrn Lothar Seiwert alias dem „Zeitmanagement-Papst“ verwiesen (vgl. bspw. SEIWERT, Lothar J. (2001): Mehr Zeit für das Wesentliche. Besseres Zeitmanagement mit der SEIWERT-Methode, Landsberg. Noch passender zum Thema der vorliegenden Arbeit scheint allerdings DERS. (2009): 30 Minuten Zeitmanagement mit Blackberry, Offenbach).
5 Erst jüngst lief der Dokumentarfilm „SPEED. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Florian Opitz in den deutschen Programmkinos.
6 Wobei er sich selbst „lediglich [als, A. B.] Urbanist“ bezeichnen würde (Rötzer 1986: 198) - Urbanist im Sinne von „Urbanisation der realen Zeit“ (Jakob 1994: 130).
7 Virilio spricht in diesem Zusammenhang auch vom Zeitalter der „metabolischen“ Geschwindigkeit.