Die Geschichte der siebziger Jahre erfreut sich in seit einiger Zeit großer Beliebtheit. Zahlreiche Veröffentlichungen beschäftigen sich mit Themen wie
dem Terror der RAF oder der Ostpolitik der sozial-liberalen Koalitionsregierungen Brandt und Schmidt.
Einige Historiker diagnostizieren in diesen Jahren einen tiefgreifenden Wandel, der die nachfolgende Zeit bis zur Gegenwart geprägt habe: Der britische Historiker Eric Hobsbawm war einer der ersten, der diese Sichtweise in seinem Standardwerk "Das Zeitalter der Extreme" prägte. In dieser Arbeit soll untersucht werden, ob sich in den siebziger Jahren tatsächlich ein prägnanter Strukturbruch ereignete. Der Autor gelangt zu dem Ergebnis, dass sich in dem Jahrzehnt bleibende Veränderungen der ökonomischen Strukturen und ein nachhaltiger Wertewandel vollzogen. So sei es angemessen, die 1970er Jahre insgesamt als Epochenwende zu klassifizieren, ohne dass der allmähliche Wandel an einem konkreten Datum oder einzelnen Ereignis festgemacht werden könnte.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die siebziger Jahre – in vielerlei Hinsicht eine Zäsur
3. Die Zeit vor 1970
3.1 Die Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit
3.2 Der Keynesianismus
4. Die Veränderungen in den siebziger Jahre
4.1 Die wichtigsten Ereignisse
4.2 Die strukturellen Umbrüche in den siebziger Jahren
5. Der Aufstieg des Neoliberalismus
6. Analyse der Ursachen des Wandels
6.1 Das Ende von Bretton Woods
6.2 Globalisierungstendenzen
6.3 Die Auswirkungen der 68er Bewegung
6.4 Das Zerbrechen des Nachkriegskonsenses
6.5 Eigene Bewertung
7. Die Folgen des wirtschaftlichen Umbruchs
8. Zusammenfassung
9. Literaturverzeichnis
10. Internetquellen
1. Einleitung
Die siebziger Jahre erfreuen sich in seit einiger Zeit großer Beliebt - heit. In Popkultur und Mode folgt auf ein „Revival“ das nächste. Auch die Geschichte steht oft im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Zahlreiche Veröffentlichungen beschäftigen sich mit Themen wie dem Terror der RAF oder der Ostpolitik der sozial-liberalen Koaliti- onsregierungen Brandt und Schmidt.
Und auch die zeitgeschichtliche Forschung hat ihr Augenmerk in den letzten Jahren stark auf dieses Jahrzehnt gerichtet. Verantwortlich dafür sind äußere Umstände, wie die Sperrfristen der Archive, die dafür sorgen das eine Dekade nach der anderen in das Blickfeld der Forschung gerät. Darüber hinaus scheinen die Siebziger aber auch aus sich heraus eine gewisse Attraktivität zu besitzen. So behaupten nicht wenige Wissenschaftler, in diesen Jahren hätte ein bedeuten- der Wandel stattgefunden, der die nachfolgende Zeit bis zur Gegen- wart geprägt habe. Eric C. Hobsbawm war wohl einer der ersten, der diese Sichtweise in seinem Standardwerk über das 20. Jahrhundert einnahm.[1] In dieser Zeit sieht er international die allmähliche Auflö- sung der Nachkriegsordnung und die Entstehung der sozioökonomi- schen Strukturen, die die folgenden Jahrzehnte prägen sollten.
Ich möchte in dieser Arbeit untersuchen, welche Gründe dafür spre- chen, dass sich in den siebziger Jahren tatsächlich ein prägnanter Strukturbruch ereignete. Darüber hinaus soll die Frage beantwortet werden, welche Ursachen für den Wandel in der Literatur diagnosti- ziert werden. Die 1970er Jahre werden in zahlreichen gesellschaftli- chen Bereichen als Phase tiefgreifender Veränderungen betrachtet.[2] Ich möchte mich hier aufgrund des begrenzten Rahmens auf zwei zentrale Felder beschränken: Zum Einen wird es darum gehen, in- wiefern sich die internationale Wirtschaftsordnung und ihre Struktur ab 1970 maßgeblich verändert haben. Zum Anderen werde ich die Frage zu beantworten versuchen, welche wirtschaftstheoretischen
Ideologien und Grundüberzeugungen zu der Zeit dominierten. Meine Perspektive wird dabei prinzipiell international sein, da von der fragli- chen Zäsur in den 1970er Jahren angenommen wird, dass sie sich auf alle Teile der Welt ausgewirkt hat. Aufgrund der eingeschränkten Vergleichbarkeit zwischen den Ländern in den verschiedenen Macht- blöcken während des Kalten Krieges werde ich mich im Wesentli- chen auf die westeuropäischen Staaten als Teil der westlichen Welt beziehen.
Aus der Thematik folgt, dass die Forschung dazu noch nicht abge- schlossen ist, die vorliegende Literatur ist dementsprechend über- wiegend erst in den letzten Jahren erschienen. Meine Arbeit stützt sich vor allem auf eine Reihe von Handbüchern, in denen brauchba- re zeitgeschichtliche Interpretationen vorgenommen werden. Beson- ders ertragreich waren insbesondere die Werke von Hobsbawm, Frieden[3] sowie Doering-Manteuffel und Raphael[4].
2. Die siebziger Jahre – in vielerlei Hinsicht eine Zäsur
Als Epochenjahre im 20. Jahrhundert sind 1945 und 1989/90 in der Geschichtswissenschaft praktisch unumstritten, die Gründe dafür of- fenbaren sich praktisch auf den ersten Blick. Das aber das knappe halbe Jahrhundert dazwischen eine gleichförmige Zeit ohne jede grundsätzliche Veränderungen war, kann auch recht schnell ausge- schlossen werden. Als verbindende Klammer kann die prinzipiell an- dauernde globalpolitische Konstellation des Kalten Krieges gesehen werden, davon unabhängig aber veränderte sich die Welt auf fast al- len allen Ebenen, sei es der kulturellen, der wirtschaftlichen oder der auch politischen. So wird das Jahr 1968 mit den Studentenunruhen, den Protesten gegen den Vietnamkrieg und dem niedergeschlage- nen Prager Frühling oft als Wendepunkt in der Zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts gesehen. Anführen lassen sich als Argumente für diese These insbesondere für die Bundesrepublik Deutschland, aber
auch in Bezug auf andere Länder, die Bedeutung der Ereignisse des Jahres und die in ihnen zum Ausdruck kommenden strukturellen Dis- kontinuitäten.[5] Gerade die gesellschaftlichen und kulturellen Verän- derungen, die mit dem Jahr 1968 verbunden sind, sollen hier auch gar nicht in Frage gestellt werden.
Teilweise werden aber auch die siebziger Jahre als Ganzes oder ganz konkret auch die Jahre 1973 oder 1979/80 als Zäsur identifi- ziert.[6] Im Zentrum dieses Gedankens steht ein makroökonomischer Strukturbruch und der damit interdependente Wechsel einer herr- schenden Ideologie vor allem in den hochindustrialisierten Staaten der Ersten Welt: Es entstand eine „zunehmend dynamische Interakti- on zwischen den materiellen und ideellen Treibkräften des Um- bruchs“[7] Inwiefern sich weitere Elemente des Wandels davon ablei- ten lassen, soll in Kapitel 7 dieser Arbeit noch erläutert werden.
Zunächst muss geklärt werden, wie die Wirtschaftsordnung der gut zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg beschaffen war und auf welchen theoretischen Grundlagen sie beruhte.
3. Die Zeit vor 1970
3.1 Die Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit
Die etwa zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Welt- kriegs waren geprägt von anhaltend hohem Wirtschaftswachstum, stabil niedriger Inflation, einer aktiven staatlichen Wirtschaftspolitik und Vollbeschäftigung. Außerdem gab es das, was Doering-Manteuf- fel und Raphael als „fordistisches Produktionsmodell“ bezeichnen: Eine stabile Massennachfrage nach Konsumgütern wurde mit Hilfe von Fließbandarbeit in den Fabriken bedient, die steigende Produkti- vität förderte sowohl das Wirtschaftswachstum als auch Lohnsteige- rungen, die die Gewerkschaften für ihre Mitglieder erkämpften.[8]
Gleichzeitig wurden die wohlfahrtsstaatlichen Sozialsysteme zuneh- mend ausgebaut. Diese Charakteristika treffen bei großer internatio- naler Übereinstimmung für die demokratischen und kapitalistischen Ländern Westeuropas und Nordamerikas zu. Getragen wurde die langanhaltende Phase der Prosperität von einem breiten gesell- schaftlichen Konsens zwischen Konservativen und Sozialdemokra- ten, zwischen Arbeitern, Staat und Unternehmen, zwischen den ver- schiedenen Klassen und gesellschaftlichen Gruppen. So wurden Ta- rifverträge über Löhne und Arbeitsbedingungen zwischen Gewerk- schaften und Arbeitgebern in den meisten Ländern unter Vermittlung des Staates und innerhalb eines von ihm gesetzten Rahmens ge- meinsam ausgehandelt. Das Modell wurde in den 1930er Jahren in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise zunächst in den USA von der Regierung Franklin D. Roosevelts angewandt und nach dem Krieg mit dem Marshall-Plan nach Westeuropa exportiert.[9]
International zusammengehalten wurde das System von den Regeln und Institutionen, die 1944 auf der Konferenz von Bretton Woods be- schlossen wurden.[10] Vor allem wurde dort ein Weltwährungssystem festgelegt, dass den US-Dollar als Leitwährung an das Gold band und den Währungen der teilnehmenden Staaten feste Wechselkurse zuwies, die von den Regierungen fortan nicht geändert werden konnten.[11]
Die fast ein Vierteljahrhundert dauernde Phase permanenten wirt- schaftlichen Aufschwungs bei gleichzeitiger Vollbeschäftigung und zunehmenden sozialstaatlichen Elementen ist in der gesamten Ge- schichte des industriellen Zeit ohne Beispiel und darum als Vorge- schichte der folgenden Umbruchphase mehr als erwähnenswert. So meint beispielsweise Tony Judt: „Nicht die siebziger Jahre waren un- gewöhnlich, sondern die fünfziger und sechziger“.[12] Der Beschrei- bung und Analyse des folgenden Wandels soll aber noch vorange- stellt werden, auf welcher wirtschaftstheoretischen Grundlage die ökonomische Grundordnung dieser ungewöhnlichen Zeit beruhte.
3.2 Der Keynesianismus
John Maynard Keynes entwickelte die wesentlichen theoretischen Grundlagen der Wirtschaftsordnung der Nachkriegsjahrzehnte und darf als der einflussreichste Wirtschaftswissenschaftler der Zeit gel- ten. In seinem zuerst 1936 erschienen Hauptwerk „Allgemeine Theo- rie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“[13] geht er davon aus, dass freie Märkte sich nicht von sich aus automatisch in einem Gleichgewicht befinden. Er befürwortet eine die Güternachfrage stei- gernde Politik, z.B. durch Lohnerhöhungen. Außerdem hält er es für sinnvoll, dass der Staat mittels Globalsteuerung das Geschehen auf den Märkten kontrolliert und falls nötig aktiv eingreift. Insbesondere soll die Politik sich antizyklischer Maßnahmen bedienen, um kon- junkturellen Schwankungen entgegenzuwirken. Das bedeutet in der Praxis, dass in Zeiten schwacher Konjunktur die Staatsausgaben kreditfinanziert zur Ankurbelung der Wirtschaft gesteigert und in wirt- schaftlichen Boomperioden entsprechend zurückgefahren werden sollen. Das Konzept des Keynesianismus wird oft mit der Sozialen Marktwirtschaft und dem modernen Wohlfartsstaat verbunden. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war er die dominante wirtschafts- politische Theorie und fand seinen Ausdruck in dem oben beschrie- benen wirtschaftlichen Grundgerüst der 50er und 60er Jahre.[14]
4. Die Veränderungen in den siebziger Jahren
4.1 Die wichtigsten Ereignisse
Schon in den späten sechziger Jahren wurde erkennbar, dass in die eingespielten Mustern in Wirtschaft und Gesellschaft Bewegung kam. Die Neue Linke stellt die Nachkriegs-Konsensgesellschaft radi- kal in Frage und verhalf dem (Neo-)Marxismus, in der BRD beson- ders den Lehren der Kritischen Theorie zu neuer Geltung.[15] Das internationale Protestjahr 1968 war der prägnanteste Ausdruck dieser Veränderungen.
[...]
[1] Vgl. Eric C. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, 7. Auflage, München 2004, S. 503- 537.
[2] Für einen Überblick vgl.: Konrad H. Jahrausch: Verkannter Strukturwandel, in: Ders. (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S 9 ff.
[3] Jeffry A. Frieden: Global Capitalism. Its Fall and Rise in the Twentieth Century, New York 2007.
[4] Anselm Doering-Manteuffel; Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.
[5] Siehe dazu auch: Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008.
[6] Bezüglich 1973 vgl. Hobsbawm: Zeitalter, S. 503 f. sowie Jahrausch: Strukturwandel, S. 11. Bezüglich 1979 vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Zur historischen Einordnung der siebziger Jahre, in: Konrad H. Jahrausch (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 327.
[7] Doering-Manteuffel; Raphael: Boom, S. 35.
[8] Vgl. Ebd., S. 21.
[9] Vgl. zu diesem Absatz: Doering-Manteuffel; Raphael: Boom, S. 15-20.
[10] Vgl.: Frieden: Global Capitalism, S. 279-300.
[11] Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (BpB): Das Lexikon der Wirtschaft. Grundlegendes Wissen von A bis Z, Bonn 2008, S. 240.
[12] Vgl. Tony Judt: Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg [Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung], Bonn 2006, S. 514.
[13] John Maynard Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, München 1936.
[14] Vgl. zu diesem Absatz: BpB: Lexikon der Wirtschaft, S. 107 f.
[15] Vgl. Doering-Manteufel; Raphael: Boom, S. 25 f.