Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Daniel Millers Studie "Der Trost der Dinge", engl. "The Comfort of Things".
In dieser Arbeit wird die methodische Vorgehensweise des Feldforschers Miller beschrieben, analysiert und interpretiert. Schwerpunkt liegt dabei auf der kritischen Bewertung der Studie, die bereits im Titel anklingt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Fragestellung und Zielsetzung Millers Feldstudie
3. Methodik zur Durchführung der Studie
3.1 Vorbereitung
3.2 Durchführung
3.3 Nachbereitung
4. Schlussfolgerungen der Studie
5. Theoretische Bezüge der Studie
5.1 Schlussfolgerungen
5.2 Durchführung der Studie
6. Kritische Bewertung der Studie – Studie oder unterhaltsame Lektüre mit Wissenschaftstouch?
6.1 Pro wissenschaftliche Studie
6.2 Contra wissenschaftliche Studie
7. Resümee
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der 17-monatigen qualitativen Feldstudie, die der Anthropologe Daniel Miller zusammen mit Promotionsstudentin Fiona Parrott von 2004 bis 2005 in London durchführte, sowie der aus ihr hervorgegangenen Publikation Millers, die er mit „Der Trost der Dinge“ betitelte. Auch Parrott veröffentlichte nach Abschluss der Feldarbeit ihre Doktorarbeit, welche auf der gemeinsam verwirklichten Forschung fußt. Parrotts Werk wird bei dieser Betrachtung jedoch außen vor gelassen, die Analyse geht einzig auf „Der Trost der Dinge“ ein.
Intention dieses Werkes war ursprünglich - wie bereits aus dem Titel hervorgeht - zu erfahren, inwiefern bestimmte Dinge Menschen dabei helfen, Verluste und Leid zu ertragen. Millers Definition von Dingen ist dabei sehr dehnbar: Sie fasst sowohl Gegenstände, als auch Haustiere, Hobbies oder Erinnerungen.
Diese Arbeit wird Millers Studie genauer untersuchen.
Was war das ursprüngliche Forschungsvorhaben? Mit welchen Methoden und auf welche Art und Weise wurde es umgesetzt? Wie wurde die Empirie analysiert und interpretiert?
Ein wesentlicher Bestandteil ist dabei die kritische Bewertung der Studie, sowie vor allem Millers Veröffentlichung, welche bereits im Titel der vorliegenden Arbeit anklingt. „Der Trost der Dinge“ beinhaltet eine Aneinanderreihung von Porträts, die im Roman-Stil geschrieben wurden. Eingebettet sind diese in ein wissenschaftlich gehaltenes Vor- und Nachwort. Eine Auseinandersetzung mit Argumenten für oder gegen den wissenschaftlichen Charakter der Studie, soll Aufschluss über die Beschaffenheit von „Der Trost der Dinge“ geben. Abschließend werden die wichtigsten Fakten zur Analyse und Kritik der Studie, sowie der aus ihr entstandenen Publikation zusammengetragen.
2. Fragestellung und Zielsetzung von Millers Feldstudie
Bevor die beiden Forscher mit der Empirie vor Ort in London begannen, war ihre ursprüngliche Zielsetzung an die Feldstudie aufzudecken, welche Rolle Dinge, mit denen sich Menschen umgeben, für die Verarbeitung von Verlusten und Wandel spielen. 1 Miller gibt jedoch zu, dass „Der Trost der Dinge“ über diese Intention hinausgeht, da sich das Buch letztendlich eher der Frage widmet, welchen Stellenwert Dinge im Allgemeinen im Leben von Menschen einnehmen. 2 Dabei konzentriert sich der Autor vor allem auf die (Kor)Relation von menschlichen Beziehungen und deren Verhältnis zu Objekten.
Schon im Vorwort stellt er die Hypothese auf, dass die Beziehungen von Menschen zu Objekten keineswegs oberflächlich seien, sondern sich in ihr Muster für zwischenmenschliche Bindungen wiedererkennen ließen.3 Miller geht sogar so weit, zu behaupten, humane Verhältnisse zu Dingen könnten produktiv für die zwischenmenschlichen sein.4 Die Art, diese Beziehungen zu knüpfen nennt Miller dabei ein „übergeordnetes Muster“5, welches er als „Ästhetik“ bezeichnet.
Er geht davon aus, dass die Weise, wie ein Mensch wohnt und mit welchen Dingen er sich in seiner Wohnung umgibt, auf seinen Charakter schließen lassen.6 Die Dinge seien nämlich meistens mit einer bestimmten Intention von ihrem Besitzer platziert worden und stünden daher auch in einer spezifischen Beziehung zu ihm.7 Die Wohnung würde damit zum „Selbstporträt ihres Besitzers“8 werden. Intention von Millers Studie und damit Fragestellung ist, diese vorangegangenen Ausgangshypothesen zu überprüfen.
Der Anspruch des Autors an seine Studie ist dabei eine ganzheitliche Darstellung seiner Probanden, eine „dichte Beschreibung“9, die die Forschungssubjekte in ihrem Beziehungsgeflecht analysiert. Zielsetzung Millers ist aber nicht nur diese
Eine „dichte Beschreibung“ besteht dabei aus einer genauen Beobachtung und Beschreibung des Forschungsgegenstandes, sowie dessen Deutung und Herausarbeitung der vielschichtigen Vorstellungsstrukturen der Probanden.
Korrelation von Beziehungen seiner 100 Versuchspersonen zu durchleuchten und eine „Ästhetik“ für diese zu erstellen, sondern aus dieser ebenso ein übergeordnetes Muster für die gesamte Gesellschaft zu entwerfen.10 Die Portraits der Probanden bezeichnet Miller dabei als „authentischen Ausschnitt aus dem London der Gegenwart“11. Der Autor geht sogar noch einen Schritt weiter: Er bezeichnet die Ergebnisse seiner Studie als repräsentativ für die moderne Welt von heute.12
3. Methodik zur Durchführung der Studie
3.1 Vorbereitung
Zur Vorbereitung der Studie interviewten Miller und Parrott zunächst 20 Studenten und Freunde zur Probe.13 Anschließend begaben sie sich auf die Suche nach einer geeigneten Straße zur Durchführung der Studie im Süden Londons.14 Bedingung an diese war, dass sie unterschiedliche Wohnformen (Einfamilienhäuser, Mietswohnung, Reihenhäuser) und damit auch Menschen aus verschiedenen sozialen Milieus beherberge. Zudem sollte die Straße für beide Anthropologen gut erreichbar sein.15 Die Wahl fiel auf eine Straße, die Miller in seiner Publikation als
„Stuart Street“ bezeichnet.
3.2 Durchführung
Zuerst versuchten Miller und Parrott, die Bewohner der „Stuart Street“ kennenzulernen. Dazu klingelten sie an ihren Türen und hielten sich zusätzlich an öffentlichen Plätzen (Pub, Supermarkt etc.) in der „Stuart Street“ auf.16 Während der 17-monatigen Feldarbeit kamen die Anthropologen kontinuierlich mit mehr und mehr Menschen in Kontakt, so dass sie am Ende der Zeit zu vielen Bewohnern eine enge Beziehung führten.17 Die genaue Durchführung der Studie wird in der Publikation allerdings kaum durchsichtig. Miller erklärt zwar, dass Parrott und er sowohl die Menschen, als auch ihre Dinge befragten, um ein möglichst ganzheitliches Porträt über sie zu erstellen, jedoch wird nicht klar, wie so ein Dialog mit ihren Probanden, beziehungsweise die Empirie abläuft. Der Leser erfährt nicht, welche Fragen die beiden Anthropologen den Bewohnern der „Stuart Street“ stellen, ob, und wenn ja, wie sie die Gesprächsführung geplant haben oder ob sie vielleicht ein Aufnahmegerät benutzt haben, mithilfe dessen ihre Beobachtungen festgehalten wurden.
3.3 Nachbereitung
Nachdem Miller und Parrott die Feldarbeit in Südlondon beendet hatten, widmeten sich beide Forscher der Ausarbeitung der Ergebnisse. Parrott in Form ihrer Doktorarbeit und Miller durch die Publikation „Der Trost der Dinge“.
Der Forscher legt im Nachwort von „Der Trost der Dinge“ dar, dass ihm während der Feldarbeit klar wurde, dass die Bekanntschaften, die Parrott und er in der „Stuart Street“ machten, so vielschichtig waren, dass sie eine andere Darstellungsform als die der wissenschaftlichen Auswertung forderten. 18 Miller richtet sich mit seiner epischen Gestaltung der Porträts damit an eine breiter gefächerte Leserschaft. Von den insgesamt über 100 geführten Interviews (Probeinterviews inbegriffen) veröffentlicht Miller in der englischen Ausgabe von „Der Trost der Dinge“ 30 Porträts, die in der deutschen Übersetzung auf 15 gekürzt wurden.19 Dabei wurden nicht nur die Porträts, die aus der eigentlichen Feldstudie stammen, veröffentlicht, sondern in der englischen Ausgabe auch zwei derjenigen, welche aus den Probeinterviews hervorgingen.20 Zudem gibt Miller zu, sich bei der Feldarbeit nicht - wie ursprünglich geplant - auf die „Stuart Street“ beschränkt zu haben. Er führte außerdem Interviews sowohl mit Bewohnern von Seitenstraßen dieser, als auch mit Menschen, die er in der „Stuart Street“ kennenlernte, die aber etwas weiter weg wohnten, mit der Begründung, dass deren Geschichten zu interessant gewesen seien, um sie in der Publikation außen vor zu lassen.21 Auch kam der Anthropologe in „Der Trost der Dinge“, wie schon erwähnt, von seinem eigentlichen Forschungsvorhaben ab, die Rolle der Dinge zu erörtern, die Menschen bei der Verarbeitung von Verlusten behilflich sein können. Stattdessen widmete Miller sich weitestgehend der Frage, welche Bedeutung die Dingkultur für zwischenmenschliche Beziehungen trägt. Diese erläutert er im Nachwort zu „Der Trost der Dinge“ und soll nachfolgend erarbeitet werden.
4. Millers Schlussfolgerungen
Miller zieht mehrere Schlussfolgerungen aus der Feldarbeit in London. Für die meisten seiner Probanden seien erfüllende zwischenmenschliche Beziehungen essentiell für ihr Leben und dessen Bewertung.22 Das moderne Individuum fühle sich weder Kirche noch Staat verpflichtet, sondern seiner Familie, Frau, Freunden etc. 23 Miller positioniert den Menschen dabei als ein Wesen zwischen Individualismus und Gesellschaft. Die Gesellschaft spiele im Leben vieler Bewohner der Metropole kaum eine Rolle. Verschiedene Institutionen versorgen den Menschen meist problemlos, sodass der Einzelne ihre Existenz kaum wahrnimmt.24 Auch würde ein Großteil der Bewohner der „Stuart Street“ ihre Nachbarn nicht kennen und hielt sich selten an öffentlichen Orten in ihrer Straße auf, was ein Gemeinschaftsgefühl konstituieren könnte.25 Dies bedeutet für Miller jedoch nicht, dass Menschen zum Individualismus neigen. Die Beziehungen, die ein Mensch in der Vergangenheit zur Kirche oder zum Staat geführt hat, werden seiner Meinung nach mit zwischenmenschlichen, sowie mit Beziehungen zu Dingen ersetzt. 26 Individualismus sei keineswegs Intention der Bewohner der „Stuart Street“. Sie setzten diesen meist mit Einsamkeit gleich und sähen in ihm einen Nachweis für ihr persönliches Scheitern.27 Die Feldstudie bestätige Millers vorangehende Annahme, dass materielle Objekte ein fundamentaler Faktor für das Führen von zwischenmenschlichen Beziehungen sind. Es entstehe also eine Wechselwirkung zwischen dem Menschen, dessen Verhältnis zu Dingen und dessen Beziehung zu anderen Individuen.28
Miller lehnt sich an Bourdieu an und nennt die Gegenstände „Schöpfer der Menschen“29. Die Ordnung der Dinge forme die Sozialisation des Individuums. Diese Ordnung sei in der Vergangenheit vor allem durch Kultur und Identität geprägt worden. 30 Laut Miller sind diese Faktoren bei der Erstellung einer solchen kosmologischen Ordnung, einer privaten übergeordneten „Ästhetik“ heute eher nebensächlich: das ausschlaggebende Element seien die zwischenmenschlichen
Beziehungen. 31 Bei den Bewohnern der „Stuart Street“ könne kaum eine gemeinsame englische oder Londoner Kultur erkannt werden. 32 Das Abbauen dieses gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhalts lasse aber keineswegs Chaos zurück, sondern biete dem Menschen Raum, sich seine eigene kosmologische Ordnung zu erschaffen. 33 Trotzdem sei der Mensch nicht vollkommen autonom, sondern werde von seinem Beziehungsgeflecht beeinflusst.34 Der Mikrokosmos, den sich ein einzelner Haushalt erschaffe, sei ganzheitlich und ermögliche durch seine vertrauten Muster, Trost zu spenden.35 All dies sei allerdings nur möglich auf der Basis von Wohlstand, genügend Ressourcen, Bildung und der Tatsache, dass der Staat (gegenwärtig) so reibungslos funktioniere.36
5. Theoretische Bezüge der Studie
5.1 Schlussfolgerungen
In seinen Schlussfolgerungen nimmt Miller klare Ein- und Abgrenzungen zu bestimmten wissenschaftlichen Strömungen und Theorien vor. So grenzt er sich als Anthropologe klar von den Sozialwissenschaften ab, die den Menschen als Schöpfer von Ordnungssystemen wie Religion und Kosmologie sähen. 37 Der Soziologe Émile Durkheim ging laut Miller davon aus, dass nach dem von Nietzsche proklamierten Tod Gottes ein neues Ordnungssystem an dessen Stelle treten müsse, da Menschen den Glauben an dieses benötigten, um ihr Leben sinnstiftend gestalten zu können. Ohne ein Ordnungssystem und mit fortschreitender Modernisierung würde daher die Gefahr bestehen, dass Menschen in „isolierte Individuen zerfallen“38. 39 Miller entgegnet den Sozialwissenschaften, dass der Glaube an eine Gesellschaft kaum noch eine Rolle bei den Bewohnern der „Stuart Street“ spiele und dass sie trotz dessen nicht in vereinsamte und abgeschiedene Individuen zerfallen wären, da sie ihre eigene kosmologische Ordnung erschaffen hätten.40
[...]
1 Vgl. Miller, Daniel: Der Trost der Dinge, Fünfzehn Porträts aus dem London von heute, aus dem Englischen von Frank Jakubzik, Berlin 2010, S. 221.
2 Vgl. Ebd., S. 221.
3 Vgl. Ebd., S. 9.
4 Vgl. Ebd., S. 9.
5 Ebd., S. 15.
6 Vgl. Ebd., S. 11.
7 Vgl. Ebd., S. 11.
8 Ebd., S. 11.
9 Diese Bezeichnung wurde von dem Anthropologen Clifford Geertz eingeführt, dessen Zielsetzung an eine Studie das Verstehen des kulturellen Kontextes ist, aus dem menschliches Handeln hervorgeht.
10 Vgl. Ebd., S. 16.
11 Ebd., S. 14.
12 Vgl. Ebd., S. 14f.
13 Vgl. Ebd., S. 224.
14 Vgl. Ebd., S. 221.
15 Vgl. Ebd., S. 221.
16 Vgl. Ebd., S. 222f.
17 Vgl. Ebd., S. 223.
18 Vgl. Ebd., S. 224.
19 An dieser Stelle sei angemerkt, dass die deutsche Ausgabe nur 15 der 30 Porträts fasst, die im
englischen Original abgedruckt wurden. Der Verlag Suhrkamp erläutert jedoch nicht, nach welchen Kriterien die Beschreibungen um die Hälfte reduziert wurden.
20 Vgl. Ebd., S. 224.
21 Vgl. Ebd., S. 224.
22 Vgl. Ebd., S. 206.
23 Vgl. Ebd., S. 206.
24 Vgl. Ebd., S. 204.
25 Vgl. Ebd., S. 206.
26 Vgl. Ebd., S. 205f.
27 Vgl. Ebd., S. 205.
28 Vgl. Ebd., S. 207.
29 Vgl. Ebd., S. 208.
30 Vgl. Ebd., S. 210f.
31 Vgl. Ebd., S. 211.
32 Vgl. Ebd., S. 213.
33 Vgl. Ebd., S. 215.
34 Vgl. Ebd., S. 215f.
35 Vgl. Ebd., S. 217.
36 Vgl. Ebd., S. 218.
37 Vgl. Ebd., S. 201f.
38 Ebd., S. 202.
39 Vgl. Ebd., S. 202.
40 Vgl. Ebd., S. 204f.