"Völker hört die Signale". Zur nationalen Frage der Internationalen Arbeiterbewegung
Zusammenfassung
Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. „Internationalistisches Erbe“ der Arbeiterbewegung
3. Internationale Debatte um die nationale Frage
3.1 Internationalisms nach Karl Kautsky
3.2 Otto Bauers national-kulturelle Autonomie
3.3 Rosa Luxemburgs Selbstbestimmungsrecht der Klasse
4. Internationalismus und nationale Ideologie
5. Fazit
6. Literatur- und Quellenangaben
1. Einleitung
„Wacht auf, Verdammte dieser Erde,
die stets man noch zum Hungern zwingt!
Das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt. Reinen Tisch macht mit den Bedrangern!
Heer der Sklaven, wache auf!
Ein Nichts zu sein, tragt es nicht langer,
alles zu werden, stromt zuhauf!
Volker, hort die Signale!
Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale
erkampft das Menschenrecht!
[...][1]
Die Sozialistische Internationale war in Folge der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) angetreten die burgerliche Revolution uber sich hinaus zu treiben und ganz im Sinne von Marx die burgerliche Gesellschaft zu uberwinden.[2] Wie einst die franzosische Revolution den Dritten Stand zur Nation erklart hatte, sollte der sozialistischen Theorie zufolge das Proletariat, die 'Verdammten dieser Erde', diese Stelle ubernehmen, um, wie es der deutsche Liedtext des internationalen Arbeiterkampfliedes nennt, 'alles zu werden'. Die Proletarier galten und gelten im Arbeiterbewegungsmarxismus als das revolutionare Subjekt der Geschichte, jedoch ist ihr Verhaltnis zum Kollektiv der Nation alles andere als eindeutig bestimmt. Dieses Verhaltnis der Linken zur Nation werde ich im folgenden genauer analysieren. Orientiert an der Internationale stellt sich mir die Frage, warum die Agitation und der Imperativ der Erkampfung des Menschenrechts gerade den Volkern gilt. Welche Bedeutung haben Volk und Nation fur die Arbeiterbewegung? SchlieElich wird angesichts des Scheiterns der Zweiten Internationale im Ersten Weltkrieg die Frage zu beantworten sein, welche Bedeutung das Verhaltnis zur Nation und die theoretisch propagierte Anti- Kriegshaltung zu der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 spielt.
Der Politikwissenschaftler Stefan Bollinger hat in einer Textsammlung 'Linker Klassiker' viele wichtige Schriften uber Linke und Nation vereint. Eine Auswahl dieser Texte wird mir als als Quellengrundlage dienen.[3] Um ein umfassendes Bild der verschiedenen Standpunkte zum Thema 'Sozialismus und Nation'[4] zu bekommen, werde ich zunachst die knappen Positionen zur Idee des Internationalisms bei Marx und Engels als Grundlage aller nach ihnen folgenden TheoretikerInnen[5] skizzieren. In der groften Auswahl an Texten und Positionen beschranke ich mich auf Ausfuhrungen aus dem deutschsprachigen Raum, speziell auf das Deutsche Kaiserreich und die Donaumonarchie Osterreich-Ungarn. Zunachst entwickle ich anhand des Manifest der Kommunistischen Partei eine Definition vom marxistischen Konzept des Internationalismus. Anschlieftend wird Karl Kautskys Position des Internationalismus, welche noch vor der eigentlichen groften Nationsdebatte innerhalb der Zweiten Internationale veroffentlicht wurde, dargestellt. Otto Bauers Konzept der national- kulturellen Autonomie werde ich ebenso vorstellen wie Rosa Luxemburgs Reaktion und Absage an jenes, sowie ihre Kritik an der Formel des 'Selbstbestimmungsrechts der Volker'. Jenes hatte die russische Sozialdemokratie formuliert und wurde spater besonders durch Lenin gepragt, welcher hier jedoch nicht zu Wort kommen wird. Das letzte Kapitel bildet schlieftlich eine theoretische Reflexion auf den Begriff des Internationalismus und dessen Zusammenhang mit nationaler Ideologie, speziell auch in Bezug auf den Niedergang der Sozialistischen Internationale im Ersten Weltkrieg und die Integration der Arbeiterbewegung in Staat und Nation.
2. „Internationalistisches Erbe“ der Arbeiterbewegung
Als „Programmschrift der Arbeiterbewegungen aller Lander“[6] bezeichnet Wolfgang Abendroth das Manifest der Kommunistischen Partei (im folgenden Manifest) aus dem Jahr 1848. Die Kampfschrift der im Bund der Kommunisten assoziierten Verfasser Karl Marx und Friedrich Engels war explizit als Agitation der damals kurz bevorstehenden Revolution angedacht. Diese burgerliche Revolution scheiterte in Deutschland jedoch und spatestens mit dem Kolner Kommunistenprozess und dem 1854 durch Bismarck erwirkten Verbot aller Arbeitervereine war die organisatorische Fruhperiode der deutschen Arbeiterbewegung vorerst gescheitert.[7] Begrifflich ist jene als soziale Bewegung einer Minderheit der Gesellschaft zu verstehen und die Bezeichnung Arbeiter beziehungsweise Arbeiterklasse verwende ich nicht als monolithischen Block, sondern als vielschichtiges Gebilde unterschiedlichster Menschen und Positionen, wie es Helga Grebing beschreibt.[8] Als 'internationalistisches Erbe' dieser Arbeiterbewegung bezeichnet Stefan Bollinger die Ausfuhrungen zur Nation im Manifest.[9] Das spricht dafur, diese als theoretische Basis zu analysieren und daran einen Begriff des Internationalismus zu entwickeln. Die Ausfuhrungen von Marx und Engels zur Nation lassen sich nicht getrennt betrachten von den Kategorien Staat und Kapital und der sich daraus ergebenden Revolutionstheorie. Die Angaben im Manifest hierzu scheinen auf den ersten Blick zunachst widerspruchlich zu sein. Einerseits werden die nationalen Besonderheiten als 'nationaler Klassenkampf' beschrieben: „Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunachst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muft naturlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.“[10] [11] Dass dieser nationale Kampf jedoch auf die Uberwindung von Staat und Nation abziehlt, ist das zweite Moment: ,,Den Kommunisten wird ferner vorgeworfen, sie wollten das Vaterland, die Nationalitat abschaffen. Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“u Demnach seien die Arbeiter kein Teil der burgerlichen Nation, vielmehr ohne Vaterland. Daraus resultiert der beruhmte Imperativ als Schlussformel, wonach sich die Arbeiter aller Lander vereinigen sollen. Lelio Basso definiert daher den marxschen Internationalismus einerseits als Interdependenz der Klassenkampfe und internationale Einheit, andererseits als Respekt vor nationalen Belangen und Besonderheiten als das zweite Moment.[12] Da Marx das Proletariat, erschaffen durch die Totalitat des Kapitals, als Universalie begreift, sei die kapitalistische Entwicklung die Negation der Nationalitat. Die global gleichen Interessen der Ausgebeuteten wurden notwendig die nationalen Schranken sprengen.[13] Enzo Traverso bezeichnet die Stellung zur Nation von Marx und Engels daher als kosmopolitischen Internationalism^.[14] Der Sozialismus sei fur sie die Uberwindung des Nationalen.
Im taglichen Kampf bedeutete Internationalismus fur die Arbeiter an der Schwelle vom 19. zum 20 Jahrhundert in erster Linie Solidaritat und Verbundenheit aufgrund gleicher Erfahrung der Ausbeutung; die Institution der Internationale wurde als konkrete Utopie des gemeinsamen Kampfes der glorifizierter Arbeiterklasse begriffen.[15] Internationalismus kann somit vorerst verstanden werden als staats- und nationenubergreifendes Prinzip der Solidaritat der Arbeiterkampfe. Die Nation war in dieser Definition der nationale Kampfplatz des Proletariats. Diese knappe Skizze des Internationalismus bei Marx und Engels half bei konkreten Problemen jedoch nur unzureichend weiter und regte die fuhrenden Theoretiker der Arbeiterbewegung anlasslich nationaler Konflikte zu weiteren Uberlegungen an.
3. Internationale Debatte um die nationale Frage 3.1 Internationalismus nach Karl Kautsky
In der von ihm gegrundeten Zeitschrift Die Neue Zeit veroffentlichte Karl Kautsky 1887 eine Artikelserie unter dem Titel „Die moderne Nationalitat“, in welcher er die Entstehung und Entwicklung von Nationen historisch-materialistisch darstellt.[16] Er merkt an, dass das Wort national eine enorm groEe Rolle „im politischen Sprachschatz der Deutschen wahrend der letzten Jahrzehnte“[17] spiele und er sich ergo diesem Faktum widmen wolle. Die Entwicklung der Produktionsverhaltnisse sind fur ihn der ausschlaggebendste Punkt, warum sich das Entstehen von Nationen seit dem 14. Jahrhundert global durchsetzte. Der sich entwickelnde Weltmarkt und -handel erschaffe einen okonomischen Kosmopolitismus; gleichzeitig entstunde jedoch auch eine zwischenstaatliche Konkurrenz, welche zur Nationsbildung beitragt. „Die Interessensgegensatze auf dem auswartigen Markt wurden zu nationalen Gegensatzen, sie erzeugten aber auch das Streben nach nationaler Einheit und GroEe“[18], denn mit der GroEe der Nation steige auch der nationale Profit. Die Nation wird von ihm in Anlehnung an Marx und Engels als burgerliche Idee, im Interesse der Bourgeoisie bestimmt. Die Form des Nationalstaates neige zudem zu Expansionismus um neue Markte zu erschlieEen. Er benennt den Kolonialismus beispielsweise als eine Auspragung dieser ,,Ausdehnung des Staates“.[19] Nationale Identitat und Gemeinsamkeiten begrundet Kautsky aus gemeinsamer Sprache und kultureller Tradition, welche erst im Sozialismus uberwunden werden konnten. Innerhalb der bestehenden kapitalistischen Verhaltnisse musse der Kampf der Arbeiter international sein. Die Erkampfung von burgerlichen Rechten und Freiheiten sowie „die Einigkeit und die Selbststandigkeit ihrer Nationen gegenuber den reaktionaren, partikularistischen Elementen, wie gegenuber etwaigen Angriffen von auEen“[20], sei das progressive nationale Anliegen, welches das globale Proletariat gemein hatte. Das Ziel sei die Eroberung der Macht im jeweiligen Nationalstaat, die Aufhebung der Klassenunterschiede und schlieElich die Auflosung der Nationen in einem kosmopolitischen Sozialismus. Im tagespolitischen Kampf spricht sich Kautsky somit fur nationale Selbstbestimmung, im Sinne nationaler Politik der Form nach, aus.[21]
[...]
[1] Emil Luckhardt: Die Internationale (1910); online: http://www.kampflieder.de/hymnentext.php?id=2210 Zugriff am 20.03.13.
[2] Zur Geschichte und Organisierung der Arbeiterbewegung vgl. Wolfgang Abendroth: Sozialgeschichte der europaischen Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 1966.
[3] Die ideologische Einfarbung seiner eigenen Ausfuhrungen, die stark von der Theorie des Antiimperialsimus beeinflusst sind, ist dabei kritisch zu berucksichtigen, macht die abgedruckten Quellensammlung, jedoch nicht weniger brauchbar; vgl. Stefan Bollinger (Hrsg.), Linke und Nation. Klassische Texte zu einer brisanten Frage, Wien 2009.
[4] Vgl. Enzo Traverso: Sozialismus und Nation. Uber eine marxistische Kontroverse, in: Michael Lowy (Hrsg.), Internationalismus und Nationalismus, Koln 1999, S. 143-161.
[5] Einen guten Uberblick zu den verschiedenen sozialistischen TheoretikerInnen bis zum 1. WK bietet Predrag Vranicki: Geschichte des Marxismus. Bd. 1, Frankfurt am Main 1983.
[6] Abendroth, 1966, S. 30.
[7] Vgl. ebd. S. 31.
[8] Vgl. Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 33
[9] Vgl. Bollinger, 2009, S. 10.
[10] Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, Berlin 1973, S. 56.
[11] Ebd. S. 64.
[12] Vgl. Lelio Basso: Anmerkungen zur Revolutionstheorie bei Marx und Engels, in: ders, Gesellschaftsformation und Staatsform, Frankfurt am Main 1975, S. 109.
[13] Vgl. Traverso, 1999, S. 143- 144.
[14] Ebd. S. 144.
[15] Vgl. Friedhelm Boll: Im Schatten des Krieges. Die deutsche Sozialdemokratie von der Jahrhundertwende bis zur Revolution, in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hrsg.), Kampfe - Krisen - Kompromisse, Bonn 1989, S. 3335.
[16] Vgl. Karl Kautsky: Die moderne Nationalitat (1887), in: Bollinger, 2009, S. 56-64.
[17] Ebd. S. 56.
[18] Ebd. S. 57.
[19] Ebd. S. 60.
[20] Ebd. S. 62.
[21] Vgl. Traverso, 1999, S. 160.