Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Denken Hannah Arendts und Jean-Jacques Rousseaus bezüglich Pluralität, Freiheit und Souveränität
Zusammenfassung
von Hannah Arendt und Jean-Jacques Rousseau im Bezug auf die Hauptthemen
Pluralität, Freiheit und Souveränität erläutert.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Unterschiedliche historische Gegebenheiten und Kritik der Gesellschaft
i. Ideengeschichtliche Orientierung an der Antike
III. Pluralität
ii. Menschenbild bei Jean-Jacques Rousseau
iii. Die Idee des volonté générale bei Jean-Jacques Rousseau
iv. Hannah Arendts Position erläutert anhand ihrer Rousseau-Kritik
IV. Freiheit
v. Einschub: Idee des Vertragsschlusses
V. Souveränität
VI. Schlussbetrachtungen
VII. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
„Die schönste Harmonie entsteht durch
Zusammenbringen der Gegensätze.“
Heraklit (Werk Fragmente, B 8)
Diese schon von dem vorsokratischen Philosophen Heraklit aus dem ionischen Ephesos zu früher Lebzeit zwischen 520 und 460 v.Chr. preisgegebene Weisheit ist auch auf die konträren Positionen Hannah Arendts und Jean-Jacques Rousseaus anwendbar. Auf den ersten Blick haben der französische Denker und die jüdisch deutsch-amerikanische Politiktheoretikerin Hannah Arendt nicht viel gemein. Rousseau steht unter dem Verdacht geistiger Wegbereiter der totalitären Demokratien zu sein, wohingegen Arendt auf der anderen Seite versucht, eine Erklärung für eben jenes totalitäre Zusammenleben zu finden.
Welchen Grund gibt es nun aber Hannah Arendt und Jean-Jacques Rousseau für einen Vergleich auszuwählen? Schon der Fakt, dass Rousseau als “Vater der Revolution“ bezeichnet wird und Arendt 1963 ein Buch über die Revolution schrieb, in welchem sie die Französische sowie die Amerikanische Revolution analysiert und interpretiert sowie andere Revolutionen anspricht, weist darauf hin, dass beide eine ähnliche Denkrichtung einschlagen könnten. „Rousseau was in fact a thinker with revolutionary things to say.“[1]
In dieser Arbeit soll eine nähere Betrachtung die sich teilweise durchaus überschneidenden Ansichten der beiden Denker hervorbringen und aufzeigen, wo eine Harmonie in den Gedanken beider bestehen könnte.
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) war einer der höchstgeachteten Philosophen Frankreichs des 18. Jahrhundert und seine Werke werden bis heute als prägend und bestimmend für politische Denkansätze betrachtet. Hannah Arendt (1906-1975) war eine bedeutende deutsch-amerikanische Philosophin, die sich im Besonderen mit Fragestellungen der Politik auseinandersetzte. Auch sie gilt als herausragende Gestalt der westlichen politischen Denke im 20. Jahrhundert. Ihre Werke, vor allem jenes über die Revolution, haben in den vergangenen Jahrzehnten, auch aufgrund der Besonderheiten ihres Lebens und ihrer Persönlichkeit, nach und nach mehr Bedeutung erlangt. Jean-Jacques Rousseau jedoch ist wesentlich bekannter als Hannah Arendt und seine Werke sowie sein Wirken werden allgemein als bedeutsamer empfunden.
Rousseau gilt als typischer Universalgelehrter der französischen Aufklärung, kann aber nicht mehr als ein typisches Kind der Revolution betrachtet werden, da er in seinen Gedanken und in seinen Werken niedergeschrieben einen für damalige Verhältnisse bemerkenswerten Weitblick aufweist. Jener Weitblick ist allen voran in seinem Werk „Diskurs über Wissenschaften und Künste“ erkennbar, in welchem er keine Erläuterung der menschlichen Sitten anstellt, sondern sich viel mehr darüber beklagt, dass der Bereich jener Sitten von einer niedrigen und betrügerischen Einförmigkeit beherrscht sei und alle Gemüter gleich zu sein scheinen. Er merkt an: „Today, when more subtle inquieries and a more refined taste have reduced the art of pleasing to established rules, a vile and deceitful uniformity reigns in our mores, and all minds seem to have been cast in the same mold. Without ceasing, politeness makes demands, propriety gives orders; without ceasing, common customs are followed never one’s own lights.“[2] Rousseau zufolge wagen die Menschen sich nicht mehr zu zeigen, wer sie wirklich sind und demzufolge würden alle Menschen gleich handeln, beziehungsweise, „if places in the same circumstances, do all the same things (...).[3]
Auch der Schweizer Ideengeschichtler Jean Starobinski schreibt über die Kehrtwende, welche Rousseau bezüglich der Geschichte des Fortschritts im Laufe seines Werks vornimmt und nennt diese „Rousseaus Streich mit dem Zauberstab“. Starobinski kommentiert Rousseaus „Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste“ folgenderweise: „Mit rednerischem Schwung wird der triumphale Aufstieg der Künste und Wissenschaften beschrieben; ein zweiter Redestoß treibt uns in die entgegengesetzte Richtung und zeigt uns das ganze Ausmaß der „Sittenverderbtheit“. Der Menschengeist triumphiert, doch der Mensch ist verdorben.“[4] In seinem ersten Werk bricht Rousseau folglich mit dem Fortschrittsgedanken, welches ihn, so könnte man sagen, als Überwinder der Aufklärung dastehen lässt. Auch Hannah Arendt kann in gewisser Weise als Überwinderin betrachtet werden; namentlich als eine Überwinderin des Totalitarismus.
II. Unterschiedliche historische Gegebenheiten und Kritik der Gesellschaft
Obwohl die Überlegungen Arendts und Rousseaus zu unterschiedlichen historischen Gegebenheiten entstanden sind und 200 Jahre zwischen der Wirkungszeit der beiden Theoretiker liegen, lassen sich Parallelen hinsichtlich der Kritik beider an der jeweiligen gegenwärtigen Gesellschaft erkennen. Während Hannah Arendt ihr republikanisches Ideal und ihre politisch-philosophischen Überlegungen als Antwort auf den Schock der totalitären Nazi-Herrschaft gibt, versucht Rousseau gleichwohl einen Gegenentwurf zum Absolutismus im damaligen Europa des 18. Jahrhunderts zu finden.
Der deutsche Politikwissenschaftler und Autor Iring Fetscher erläutert 1985 in seinem Einführungswerk über Jean-Jacques Rousseau dessen in seinen Schriften durchscheinende „Kritik an der sich zu seiner Zeit erst abzeichnenden bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft“.[5] Auch Arendt schreibt in Ihrem Werk „Vita Activa“ über ihre Angst, dass die moderne Gesellschaft die freie Bürgergemeinde auf eine Interessenvertretung von „jobholders“[6] reduziere. Sie konstatiert, dass die Bürger die Verfolgung ihrer privaten sowie ökonomischen Interessen in den Vordergrund und somit vor die gemeinsame politische Betätigung stellen würden und diese schließlich Vorrang vor dem Handeln im politischen Raum erlangten. In ihrem Werk „Über die Revolution“ äußert Arendt ihre Befürchtungen, eine Republik könne an dem Reichtum und der Konsumbesessenheit ihrer Gesellschaft zugrunde gehen, „so wie die europäischen Republiken durch Elend und Not in ihren Grundlagen erschüttert wurden.“[7]
Auch Rousseau beklagt sich darüber, dass durch die Fortschritte der Individuen „das Gemeinwesen zerfalle.“[8] Rousseaus Idee zufolge sollte die Staatsangehörigkeit den Kernpunkt des Lebens aller Bürger darstellen und nicht nur einiger weniger, für welche die Staatsangelegenheit Kernpunkt ihres Berufs darstellt. Sei dem nicht so, fürchtet er sogar den Untergang des Staatswesens. „Sobald der Dienst am Staat aufhört die hauptsächlichste Angelegenheit der Bürger zu sein, und diese vorziehen, mit der Geldbörse statt mit ihrer Person zu dienen, ist der Staat seinem Zerfall schon nahe.“[9]
Rousseau verbindet die Angst vor dem bürgerlichen Desinteresse mit dem aufkeimenden Fortschritt auf dem Gebiet der Kultur. Starobinski schreibt in Bezug auf Rousseaus Worte in seiner „Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste“: „Nachdem der Fortschritt der Kultur nachgezeichnet und als Negation der Natur bestimmt wurde, erteilt Rousseau dieser Kultur eine Absage (...) Er ergreift das Wort, um Nein zur Gegen-Natur zu sagen. (...) Rousseau versteht zwar die Gesellschaft seiner Zeit, weist sie jedoch entrüstet zurück.“[10] In diesem Punkt teilen Hannah Arendt und Jean-Jacques Rousseau dieselbe Auffassung. Für die Staatsbürger einer guten Gesellschaft sollte es das höchste Gut sein, sich stets mit den Angelegenheiten ihres Staates eigens zu befassen, sich zu informieren und an dem politischen Staatsleben zu partizipieren. Rousseau merkt an: „Sobald einer bei den Staatsangelegenheiten sagt: Was geht’s mich an?, muss man damit rechnen, dass der Staat verloren ist.“[11]
Den beiden Denkern ist demnach der Wunsch nach partizipatorischen Bürgern und somit die Kritik an der jeweils zeitgenössischen Gesellschaft gemeinsam. Diese Gesellschaftskritik, das Verlangen nach einer Veränderung und infolgedessen das Streben nach dem persönlichen Idealzustand der Republik stellen das bindende Glied zwischen Hannah Arendts und Jean-Jacques Rousseaus Denkansätzen dar. In Ihrem Werk „Arendt, Rousseau and Human Plurality in Politics“ startete die englische Politiktheoretikerin Margaret Canovan bereits in den 80er Jahren einen Vergleich der beiden Denker. Dieser Vergleich stellte sich schon damals als überaus spannend heraus, da auch von ihr entdeckt wurde, dass Hannah Arendt und Jean-Jacques Rousseau in gewissen Aspekten ihrer jeweiligen Denke gänzlich übereinstimmen, sich in anderen aber wiederum fundamental widersprechen beziehungsweise grundlegend divergenter Ansichten sind.
Canovan bemerkte schon damals eine gewisse Affinität Arendts – trotz ihrer modernen Denkweise - zu Denkweisen des 18. Jahrhunderts. „She (...) was drawn to the tradition of the social contract theory with its myths of founding fathers making an original compact. Arendt therefore was bound to find herself face to face with the most celebrated of all social theorists, Jean-Jaques Rousseau.“[12]
i. Ideengeschichtliche Orientierung an der Antike
Wirft man einen Blick auf Gemeinsamkeiten bezüglich der Ideengeschichte, lassen sich ebenfalls gewisse Übereinstimmungen bei beiden Theoretikern feststellen. So orientieren sich beispielswiese sowohl Arendt als auch Rousseau in ihrer Denke an antiken Gegebenheiten der griechischen Polis. In seinem Werk „Gesellschaftsvertrag“ schreibt Rousseau: „(...) diese öffentliche Person, die so aus dem Zusammenschluss aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis, heute trägt sie den der Republik oder der staatlichen Körperschaft, die von ihren Gliedern Staat genannt wird, wenn sie passiv, souverän, wenn sie aktiv ist, und Macht im Vergleich mit ihresgleichen.“[13] Für Rousseau ist die politische Teilhabe umso stärker gewährleistet desto überschaubarer seine Idealrepublik ist. „There should not be a (...) large nation that the rulers, dispersed to govern it, can decide for the sovereign each in his own department.“[14] Während Rousseau sein Ideal im kleinen Stadtstaat sieht, in welchem die Bürger aktive Mitglieder des souveränen politischen Körpers sind, schwebt Arendt, wie Canovan passend formulierte, „a scheme for direct citizen participation based upon small-scale „councils“ federated into larger bodies“[15] vor.
Der amerikanische Professor für Vertragstheorie Patrick Riley schreibt über Rousseau, er sei ein „Bewunderer der stärker geeinten politischen Systeme der Antike, in denen seiner Meinung nach Sittlichkeit, Bürgerreligion, Patriotismus und einfache Lebensführung die Menschen zu einer völlig sozialisierten und wahrhaft politischen Einheit gemacht hatten.“[16] Auch Iring Fetscher bemerkt diese Vorliebe Rousseaus und schreibt über eben jene Einheit von Sitten: „Auch wenn ihm diese ideale Einheit heute nicht mehr voll realisierbar zu sein scheint, bleibt sie als Vorbild für Rousseau verbindlich.“[17] Sowohl Arendt als auch Rousseau orientieren sich demgemäß an der Antike; Rousseau allem vorweg an Sparta als bestes Beispiel lobend, Arendt hingegen sich mehr an Athen orientierend. Sie schreibt in ihrem Werk „Über die Revolution“: „Es war die Polis, der eingezäunte Raum der freien Tat und des lebendigen Wortes, die „das Leben aufglänzen machte“.[18] Die Ideen der beiden Theoretiker standen folglich im Bann des klassischen Polisideals welches vor allem Rousseau, nur geringfügig modifiziert, in seinem kleinbürgerlichen Republiken wieder auferstehen sah.[19]
Darüber hinaus existiert eine weitere auffallende Gemeinsamkeit beider Denker. Rousseau wie Arendt hegen den Wunsch nach dem Ideal eines aktiven Bürgers. Auch Margaret Canovan erkennt diese Gemeinsamkeit in ihrem Werk und schreibt: „Perhaps (...) most obvious is that they were both „participationists,“ criticising representative government and recommending face-to-face involvement in politics by the ordinary citizen.“[20] Demnach machen sich Canovan zufolge sowohl Arendt als auch Rousseau Gedanken über den Idealzustand einer Republik. „Both therefore were intensely interested in the question of how (in a world where despotism always has been more common and durable than freedom) men ever manage to establish a republic that works.“[21] Insbesondere die Tatsache, dass Hannah Arendt und Jean-Jacques Rousseau so derartig verwandte Hintergründe für das Anstellen ihrer politischen Gedanken haben, bietet die Möglichkeit einen außergewöhnlich interessanten Vergleich zu ziehen. Es ist daher in dieser Arbeit reizvoll, einen Blick darauf zu werfen, inwiefern sich jene Gedanken im Detail über den Idealzustand einer Republik letztendlich ähneln oder aber zu vergleichen, wo diese doch unterschiedlich sind.
[...]
[1] Vgl. Miller, J. (1984): 2.
[2] Vgl. Rousseau in Cress, D.A. / Gay, P. (1987): 4.
[3] Vgl. ebenda: 4.
[4] Vgl. Starobinski, J. (2003): 11.
[5] Vgl. Fetscher, I. (1985): 479.
[6] Vgl. Arendt, H. (2010): 41.
[7] Vgl. ders. (2011): 178.
[8] Vgl. Fetscher, I. (1985): 481.
[9] Vgl. Rousseau, J.-J. (2003): 102.
[10] Vgl. Starobinski, J. (2003): 42.
[11] Vgl. Rousseau, J.-J. (2003): 103.
[12] Vgl. Canovan, M. (1983): 287.
[13] Vgl. Rousseau, J.-J. (2003): 19.
[14] Vgl. Masters, R.D. (1968): 400.
[15] Vgl. Canovan, M. (1983): 287.
[16] Vgl. Riley, P. in: Brandt / Herb (2000): 110.
[17] Vgl. Fetscher, I. (1999): 208.
[18] Vgl. Arendt, H. (2011): 362.
[19] Vgl. Fetscher, I. (1999): 225.
[20] Vgl. Canovan, M. (1983): 287.
[21] Vgl. ebenda: 288.