Populäre Musik im Zeitalter ihrer digitalen (Re-)Produzierbarkeit
Zusammenfassung
Durch die weitere technische Entwicklung (besonderer Bedeutung kommtdabei dem Radio zu) wurden diese bisher nur gedachten Möglichkeiten zuWirklichkeiten. Damit aber wurde Musik zu einer auch ökonomisch bedeutsamenKunstform. Auch die Tatsache, dass die Rezeption von Musik sich von einembesonderen (sozial erfahrenen) Ereignis zur (auch allein vor dem Wiedergabegerätvollzogenen) alltäglichen Handlung wandelte, förderte eine Entwicklung, an derenEnde die bewusste, an kommerziellen Interessen ausgerichtete Produktion vonMusik stand. Die „populäre Musik“ im Sinne der „Kulturindustrie“-Theorie Theodor W. Adornos war geboren.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung und Eingrenzung des Themas
1. Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Re- produzierbarkeit“
2. Die Musiktechnologien
2.1. Die verwendeten Medien
2.2. Die Aufnahme- und Produktionstechniken
2.3. Die Aufführungstechnik
3. Musik im Internet
3.1. Musik machen übers Internet
3.2. Das Internet als Werbefläche
3.3. Das Internet als Vertriebsweg
3.4. Das Internet als Wissensquelle
4. Musiktechnologie und Gesellschaft
4.1. Musik(-technologie) als rationales System
4.2. (Musik-)Technologie und Mythos
4.3. Musiktechnologie und Techniksoziologie
Schlußfolgerungen
Literaturverzeichnis:
Einleitung und Eingrenzung des Themas
1877 konnte Thomas Alva Edison noch nicht ahnen, welche Folgen seine technischen Basteleien haben würden. Mit seiner bahnbrechenden Erfindung des Phonographen war eine Entwicklung eingeleitet, die das Verhältnis von Musik und ihrer Rezeption grundlegend änderte. Von nun an war es möglich, Musik un- abhängig von ihrer tatsächlichen Darbietung zu konsumieren. Die Bedeutung dieses Sachverhalts kann eigentlich gar nicht untertrieben werden, denn dadurch wurde sowohl eine zeitliche, als auch eine räumliche Entkopplung von der „live“-Performance ermöglicht (erst durch diesen Umstand wurde es überhaupt nötig, den Begriff „live“ einzuführen, da es zuvor ja gar keine Alternative dazu gab). Rein von den technischen Möglichkeiten her war es nun möglich, dass je- dermann in den Genuss von jedweder Musik (und natürlich jeder anderen Katego- rie von akustischen Ereignissen auch) kommen konnte, wann und wo immer er es einrichten wollte und konnte.
Durch die weitere technische Entwicklung (besonderer Bedeutung kommt dabei dem Radio zu) wurden diese bisher nur gedachten Möglichkeiten zu Wirklichkeiten. Damit aber wurde Musik zu einer auch ökonomisch bedeutsamen Kunstform. Auch die Tatsache, dass die Rezeption von Musik sich von einem besonderen (sozial erfahrenen) Ereignis zur (auch allein vor dem Wiedergabegerät vollzogenen) alltäglichen Handlung wandelte, förderte eine Entwicklung, an deren Ende die bewusste, an kommerziellen Interessen ausgerichtete Produktion von Musik stand. Die „populäre Musik“ im Sinne der „Kulturindustrie“-Theorie Theo- dor W. Adornos war geboren.
Nun ist aber zu bedenken, dass Musik jetzt nicht nur technisch vermittelt werden konnte, sondern auch technisch produziert, bzw. wenigstens in eine Form gebracht werden musste, die von den neuen Medien auch verarbeitet und über- tragen werden konnte. Dadurch findet aber auch eine Rückkoppelung auf das Mu- sizieren selbst statt. Grundsätzlich war das zwar nichts neues, da einem Instru- ment bei seinen musikalischen Verwendungsmöglichkeiten schon immer physikalische Grenzen gesetzt waren, nur kam nun eine völlig neue Dimension hinzu. Denn erstens konnten nun (im Zusammenhang der technisch-medialen Ver- mittlung) einige dieser physikalischen Grenzen dank Mikrophon- und Verstärker- technik überwunden werden (ursprünglich verschieden laute Instrumente konnten beispielsweise dank der Einführung des sog. Mischpults in ihrer Lautstärke anein- ander angeglichen werden), zweitens ergaben sich aber völlig neue Probleme, die ohne einen technisch versierten Fachmann nicht mehr zu lösen waren. Der Ton- techniker war geboren, und mit ihm auch der Toningenieur, welcher zunehmend auch klanggestalterische Aufgaben übernahm. Hinzu kamen mit der Zeit auch völ- lig neue elektronische Instrumente mit neuartigen Klängen, welche oft expe- rimentell bei (gescheiterten) Versuchen entstanden, herkömmliche Instrumente klanglich nachzuahmen. Kurioserweise werden viele dieser auf solche Weise ent- standenen Klänge von heutigen (Pop-)Musikern als geradezu „klassisch“ einge- stuft, und sind auch heute noch nur unter Aufbietung der aktuellsten technischen Geräte und Technologien (einigermaßen) authentisch nachbildbar (wobei dies in noch viel höherem Maße auf die meisten traditionellen „Naturinstrumente“ zu- trifft1 ). Diese gerade erwähnten aktuellsten technischen Geräte und Technologien bestehen genauer betrachtet aus dem Computer und den mit ihm verbundenen Technologien (vor allem der Digitaltechnik als grundlegendem Prinzip der Ver- arbeitung), Peripheriegeräten (die beispielsweise die Umsetzung von Daten in hörbare akustische Schwingungen übernehmen) und Computerprogrammen, die in Kommunikation mit dem Anwender (also dem Musiker) dem Computer erst sagen, was er zu tun und zu lassen hat.
Schon anhand dieses extrem kurzen Überblicks über die Fortschritte in der Musiktechnologie lässt sich erkennen, dass (vor allem populäre) Musik ohne Verweis auf die verfügbare Technik nicht mehr denkbar (und schon gar nicht analysierbar) ist. Wenn man Technik von einem mehr anthropologischen Stand- punkt aus betrachtet, war sie das zwar nie wirklich2, aber erst dank der Entwick- lungen des 20. Jahrhunderts (sowohl in der Musik als auch in der Technik) tritt diese Verflechtung deutlich in den Vordergrund. Selbst der musikalisch unge- bildetste 70-jährige Ex-Schlosser aus dem Schwarzwald und Freund der volks- tümlichen Musik (man verzeihe mir dieses Klischee) wird heutzutage kaum noch der Illusion erliegen, dass das Produkt, das ihm zu Ohren kommt, identisch ist mit der Darbietungsfähigkeit des Künstlers, wenngleich die Phantasie des durch- schnittlichen Musikkonsumenten sich hier oftmals Dinge ausmalt, die weit über das technisch Machbare hinaussteigen und gewisse Notwendigkeiten im Prozess der Produktion zu berücksichtigen kaum in der Lage ist. Dies ist natürlich nicht dem Konsumenten anzulasten, sondern die nicht direkt in ihrem Wirken beobacht- bare Technik trägt Schuld. Wird ein Musikinstrument ohne zusätzliche elektronische Hilfsmittel gespielt, ist das Publikum durchaus in der Lage, allein anhand der physischen Bewegungen des Musikers das musikalische Geschehen auch optisch nachzuvollziehen.
Der geneigte Leser mag schon bemerkt haben, dass die bisherigen Betrach- tungen von einem in der Musiksoziologie etwas unüblichen Standpunkt aus vollzogen wurden. Die Musiksoziologie befasst sich in den meisten Fällen mehr mit den Wechselwirkungen von Musik und Gesellschaft, mit ästhetischen Stand- punkten, Massenphänomenen, ökonomischen Faktoren, Die vorhandenen For- schungen sind auch beileibe nicht von geringer Bedeutung und einige davon werden in dieser Arbeit auch Berücksichtigung finden, der Ansatz dieser Arbeit ist aber ein etwas anderer: Nicht die Musik, nicht das Publikum (und schon gar nicht der Kritiker), nicht die Ökonomie, und auch nicht die Gesellschaft als solche stehen im Mittelpunkt, sondern der Musiker (und natürlich auch die Musikerin)3 als derjenige, der zwischen all diesen Stühlen sitzt. Seine Existenz ist das Ent- scheidende, ohne die kein Publikum sich vergnügen oder kontemplieren kann. Ohne ihn kann keine Plattenfirma überleben und ohne ihn verliert die Gesellschaft einen ihrer schillerndsten Archetypen, den sie gleichzeitig bewundern und ihre Töchter vor warnen kann (außer natürlich er spielt Geige in einem Staatsorchester und sein Vater ist Richter, Schönheitschirurg oder einflussreicher Mafiosi). Gleichzeitig lebt der Musiker aber nicht in einem luftleeren Raum, sondern wird von den gesellschaftlichen Faktoren nicht nur immer wieder eingeholt (wie er es selber vielleicht empfinden mag), sondern sie konstituieren ihn zu einem wesentli- chen Teil mit. Wollte man aber eine umfassende Soziologie des Musikers schreiben, müsste man eigentlich eine vollständige Gesellschaftstheorie entwerfen (oder sich zumindest zusammenbasteln). Das ist hier in diesem Rahmen natürlich nicht machbar. Da beschränkt man sich besser auf ein spezielles soziologisches Feld und untersucht die Wechselwirkungen die zwischen dem Feld und dem Mu- siker stattfinden (oder auch nicht). Angesichts der obigen Ausführungen erscheint es mir sinnvoll , mich auf das Feld der Technik zu konzentrieren. Wie schon be- schrieben kann man Musik heutzutage nicht mehr analysieren, ohne den enormen technischen Wandel in die Überlegungen einzubeziehen. Dadurch stellt sich aber automatisch die Frage, wie es um das Verhältnis von Technik und Musik bestellt ist. Wie beurteilt der Musiker den technischen Fortschritt auf seinem Gebiet? Wie wird seine Arbeitsweise von der Technik beeinflusst? Verändert sich durch die vorhandenen technischen Möglichkeiten das Ergebnis seiner Arbeit? Und umge- kehrt: Inwiefern bestimmt der Musiker die technische Entwicklung mit? Welche Spielräume eröffnen sich ihm?
Damit wäre der direkte Bezug zwischen Technik und künstlerischer Arbeit in seinen Grundrissen hinterfragt. Es wäre aber kurzsichtig, so zu tun, als wenn nur die direkt mit seiner Arbeit verbundene Technik den Musiker und seine künst- lerische Tätigkeit beeinflussen würde. Technik ist ein allgegenwärtiges gesell- schaftliches Phänomen und ein konstitutives Element der gesellschaftlichen Reali- tät, der sich auch der Musiker nicht entziehen kann. Gerade die Verflechtung von Ökonomie und Technik ist für den Musiker entscheidend, wie die kommerziell ausgerichtete mediale (und damit technisch bedingte) Verbreitung deutlich macht. Jedes neu eingeführte Medium, mit dem Musik verbreitet werden kann, stellt den Musiker vor die Frage, inwiefern dieses neue Medium seiner ökonomischen Selbsterhaltung schadet oder nützt. Auch muss er beobachten, ob sich neue Stan- dards durchsetzen, welche, um konkurrenzfähig zu bleiben4, zu akzeptieren er ge- nötigt oder gewillt ist.
Man mag sich fragen, wo den bitteschön bei diesen Überlegungen die künstlerische Autonomie bleibt. Eine gute Frage. Aber gerade dieser Problematik möchte ich ja im Spannungsfeld von Musikmachen und Technik nachgehen. Aus- gangspunkt ist hierfür die Beherrschung, Verfügbarkeit und Zwanghaftigkeit von musiktechnologischen Errungenschaften, welche wiederum (wie der Musiker und seine Musik auch) in umfassendere gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Prozesse eingebettet sind.
Bisher sprach ich lediglich von dem Typus „Musiker“. Gerade aus soziolo- gischer Sicht scheint mir dies aber eine zu arge Verallgemeinerung zu sein. Denn auch unter den Musikschaffenden gibt es große Differenzierungen (welche durch die Steigerung technischer Potenzialitäten noch vielfältiger geworden sind). Zu- allererst sind hier die verschiedenen Musikgattungen zu nennen. Geradezu klassisch ist die Trennung von E- und U-Musik (also die Unterscheidung von ernster Musik und populärer Unterhaltungsmusik). Auf dieser Unterscheidung be- harrt vor allem das „Milieu“ der ernsten Musik, welches sich vor allem in ästhe- tischer Hinsicht scharf von der Unterhaltungsmusik abgrenzen will und dies auch tut. Theodor W. Adorno war (und ist) der soziologische Hohepriester dieser Haltung, welche aber nicht mehr unumstritten ist. Erstens wird ernste Musik mitt- lerweile ähnlich kommerziell ausgeschlachtet wie die sogenannte Unterhaltungs- musik5, zweitens ist die ästhetische Position Adornos mittlerweile selbst zum so- ziologischen Forschungsobjekt geworden6 und drittens ist es angesichts des viel- fältigen musikalischen „Crossovers“ schwierig geworden, eine eindeutige Trenn- linie zu definieren. Aus diesem Grund ist auch eine zweite (recht übliche) Unter- scheidung problematisch: Die Trennung von Klassik, Avantgarde, Jazz und Pop/Rock und ihren jeweiligen Unterkategorien. Während die Kunstmusik euro- päischen Ursprungs sich musikalisch vergleichsweise autonom entwickelte (oder zumindest den Anspruch darauf erhebt), sind Avantgarde, Jazz und Pop/Rock ohne gegenseitige Bezugnahme, Abgrenzung, Beeinflussung und (ästhetischer wie ökonomischer) Konkurrenz kaum vorstellbar. Aber auch die klassische Musik (etwa in Form der Harmonielehre) ist ein tragendes Element vor allem von Jazz und Pop/Rock. Gerade die in der Popmusik verwendeten Akkord-Progressionen haben in der klassischen Musik schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel. Auch scheint diese Vier-Kategorien-Trennung etwas willkürlich. Und tatsächlich ist es so, dass diese Differenzierung nach Belieben (oder Thema) um die eine oder andere Kategorie erweitert wird. So fehlt etwa der Blues als ein wesentlicher Ur- sprung von Jazz und Rock, die neue Musik (die mit Mozartschen Klängen nicht mehr viel gemein hat) oder auch der Techno als Musik- und (Jugend-)Kulturphä- nomen neueren Datums.
Die Unterscheidung von Musikstilen ist also nicht unproblematisch, dennoch kommt ihnen eine entscheidende soziale Bedeutung in der Identitätsbil- dung von Musiker und Publikum zu. Auch die Musikindustrie profitiert von diesen Unterscheidungen, da so die Musik zielgruppengerecht ausgewählt, produ- ziert, vermarktet und kalkuliert werden kann. Selbst wenn er es nicht wollte, bliebe dem Musiker (oder dem Orchester, der Big Band, der Rock-Band,...) gar nichts anderes übrig, als sich selbst zu kategorisieren, da er sonst Gefahr läuft, gar nicht erst wahrgenommen zu werden.
Dies ist der erste von drei Gründen warum ich es überhaupt für nötig halte, mit solchen Typisierungen zu arbeiten: Nicht unbedingt, weil diese Typen real existieren, sondern weil die Typisierungen von sozialer Bedeutung sind und mit ihrer Hilfe die soziale Wahrnehmung überhaupt erst konstituiert wird.
Der zweite Grund ist weniger musikimmanent (wie die beschriebenen Ty- pisierungen), als vielmehr soziologisch orientiert: Es stellt sich nämlich die Frage, wer eigentlich überhaupt Musik macht und wenn ja, welche. Wenn man sich die oben beschriebenen übergreifenden Musikstile betrachtet (also Klassik, Avant- garde, Jazz, Pop/Rock), so fällt auf, dass mit jedweder Form von folkloristischer, traditioneller Musik eine wesentliche Musikgattung fehlt. Dies hat vor allem drei Gründe: Erstens ist folkloristische Musik ein mehr soziologischer (oder auch eth- nologisch-volkskundlicher) Begriff und weniger ein musikimmanenter, zweitens dient der Begriff im europäischen Kulturkreis vor allem zur Abgrenzung von der Kunstmusik, und drittens, und diesen Punkt möchte ich hervorheben, ist gerade dieser zweite Grund (fast) obsolet geworden, da die folkloristische Musik in ihrer sozialen Bedeutung von dem, was man spätestens seit Adorno „populäre Musik“ nennt, abgelöst worden ist (zumindest überall da, wo sich die okzidentale Lebens- art und die kapitalistische Ökonomie durchgesetzt haben). Damit ist nicht ge- meint, dass es keine folkloristische Musik mehr gibt, sie hat aber in der heutigen Medienwelt einen etwas antiquarischen und sentimentalistischen, wenn nicht so- gar einen nationalistischen bzw. rassistischen Beigeschmack. Götz Alsmann be- tont zurecht, dass die heutzutage von den meisten Menschen gehörte Musik ame- rikanischen Ursprungs ist:
„Pop, Rock, Jazz, Country & Western, Musicals - alle diese mu- sikalischen Ausdrucksformen des 20.Jahrhunderts stammen aus Nord- amerika. Sie haben im Laufe der letzten sechzig Jahre die ganze Welt erobert. Ganz Europa, der ferne Osten, Australien und Afrika produ- zieren, spielen und hören zwar nach wie vor Musik ihres eigenen Kulturkreises, doch hat die Musik Amerikas längst die Funktion einer universalen, überall bekannten und beliebten Tonsprache übernom- men.“7
Und weiter:
„Außer vielleicht bei den Musicals lassen sich alle nordame- rikanischen Musikformen direkt auf folkloristische Wurzeln zurück- verfolgen.“8
Die heutige populäre Musik gründet sich demnach im wesentlichen auf die (vielfältigen) Formen der folkloristischen Musik Nordamerikas. Einem kulturkri- tischen europäischen Bildungsbürger wird an dieser Stelle wohl sofort der Begriff „Kulturimperialismus“ in den Sinn kommen. Und er mag damit recht haben. Aber seine Kinder oder Enkel (wenn nicht gar seine eigene Vergangenheit) werden sagen: „So what?“. Spätestens seit den Beatles ist die populäre Musik im gerade beschriebenen Sinne fester Bestandteil des Heranwachsens (gerade auch im west- lichen Europa). Man wird wohl mit Fug und Recht behaupten dürfen, dass sie sich (wenn auch auf bisweilen höchst unterschiedliche Weise) in den Habitus all jener Menschen eingeschrieben hat, die in den letzten 30-40 Jahren ihre Jugendphase erlebt haben. Dazu eine kleine Anekdote meinerseits:
Während eines Urlaubs in Chile kam es in der Stadt La Serena eines spä- ten Abends dazu, dass wir (ein mitgereister Freund, ein befreundeter deutscher Aussiedler und ich) von drei etwas angeheiterten chilenischen „Gestalten“ auf der Strasse angesprochen wurden. Nach einigen Minuten des Smalltalks wurden wir von den Chilenen eingeladen, mit zu ihnen nach Hause zu gehen, um noch das ein oder andere einheimische (hochprozentige) Getränk auf seine Magenverträglich- keit zu prüfen. Wir willigten ein, und als wir in der leicht heruntergekommenen Wohnung angelangt waren, erblickten wir sowohl Congas als auch eine Akustik- gitarre. Im Verlauf des Abends ergab es sich, dass der Musiker unter den drei Chi- lenen und meine Wenigkeit eine kleine „Session“ abhielten. Gitarre spielen und singen fielen unter meine Zuständigkeit, während der Chilene mich mit den Congas rhythmisch unterstützte. Mal davon abgesehen, dass der Chilene ein mu- sikalisch weitaus professionelleres Bild abgab als ich, stellte sich für mich die Schwierigkeit, ein paar Songs aus dem Gedächtnis abzurufen. Tja, und die 4-5 Stücke, die mir gerade einfielen, waren allesamt englischsprachig. Eine Tatsache, die von den Chilenen nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen wurde, statt- dessen bat man mich, doch etwas deutsches zum Besten zu geben (Deutsche scheinen in Chile generell wesentlich angesehener zu sein als Amerikaner9 ). Ich musste (auch zu meinem eigenen Erstaunen) leider passen. Dies zu erklären nötig- te mir im folgenden einen kleinen Vortrag über die deutsche „Volksmusik“ und über die Allgegenwärtigkeit amerikanischer Musik in Deutschland ab.
Diese kurze Geschichte soll zwei Sachverhalte verdeutlichen: Zum einen, das amerikanische Musik (wenn sie denn eindeutig als solche identifizierbar ist) nicht überall so beliebt ist, wie es Götz Alsmann oben enthusiastisch beschrieben hat (wenn auch in diesem Fall mehr aus politischen Gründen) und zum anderen, dass in Deutschland Musik, die nicht den Kriterien der bürgerlichen Kunstmusik entspricht, fast ausschließlich anglo-amerikanischer Prägung ist und diese Prä- gung nur noch selten als solche wahrgenommen wird. Zugegeben mögen der deut- sche Schlager und die volkstümliche Musik im Vergleich zu ihrer medialen Präsenz einen bedeutenden wirtschaftlichen Faktor innerhalb der deutschen Mu- sikindustrie darstellen, allerdings sprechen sie Zielgruppen an, die etwas abseits stehen von dem Teil der Gesellschaft, der durch seine massenmediale Allgegen- wärtigkeit unser Bild von der Gesellschaft bestimmt und der für die Zukunft ent- scheidend sein wird.
Der dritte Grund schließlich ist der, dass musiktechnologischen Innova- tionen in der populären Musik meist schneller Verwendung finden als etwa in der Kunstmusik10
Aus diesen Gründen möchte ich mich im wesentlichen auf die populäre Musik heutigen Zuschnitts beschränken. Aber das Folgende ist auch für Musikinter- essierte und Musiker aus anderen Bereichen von Interesse, da die technischen In- novationen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stilübergreifender Na- tur sind. Die technischen Möglichkeiten sind prinzipiell ja für alle verfügbar, nur würde deren Verwendung häufig einen Stilbruch, wenn nicht sogar eine Verletzung des künstlerischen Selbstverständnisses bedeuten.
Letztendlich möchte ich herausarbeiten, inwieweit die populäre Musik, die wie beschrieben ohne die technischen Fortschritte der letzten (über) 100 Jahre so nicht existieren würde, einen Ersatz für die folkloristische Musik bieten kann. Bietet der Siegeszug der Digitaltechnik mehr Chancen des Musizierens auf breiter gesellschaftlicher Ebene oder untergräbt der schnelle technologische und der mit ihm gekoppelte ökonomische Wandel die potentielle Demokratisierung mu- sikalischer Ausdrucksmittel?
Im folgenden werde ich versuchen dieser Frage von verschiedenen Posi- tionen aus nachzugehen. Dabei werde ich meine Argumentation von der soziolo- gischen Mikro- hin zur Makroebene aufbauen. Soll heißen, dass ich zuerst versu- chen werde, die Wechselwirkungen zwischen „Musik machen“ und technischem Fortschritt zu klären.
Auf einer zweiten Ebene soll geklärt werden, inwieweit der aktuelle technische Fortschritt die Wechselwirkungen zwischen den Musikschaffenden und der Musikindustrie beeinflusst. Vor allem das Internet und seine Möglichkeiten der (auch ungesetzlichen) Distribution lösen Streit aus.
Auf der dritten und letzten Ebene schließlich wird der Musiker als Teil der Gesellschaft betrachtet. Wobei auch hier der Bezug zur Technik fokussiert werden soll. Eine große Rolle spielt dabei das Bermuda-Dreieck aus technischem Fort- schritt, Ökonomie und Alltags-/Lebenswelt, da man von Kunst allein leider auch nicht satt wird. Allerdings werde ich diese Makroebene nur in ihren Umrissen beschreiben, der wesentliche Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sind die Mu- siktechnologien selbst. Daraus ergeben sich allerdings auch Folgerungen für die Techniksoziologie als solches. Auch diese sollen kurz beschrieben werden.
Es wird sich zeigen, dass diese drei Ebenen unmittelbar miteinander verwoben sind, sie dienen mehr text-strukturierenden Zwecken als dass sie inhaltlich voneinander zwingend zu trennen wären.
Diesen drei Ebenen voranstellen möchte ich allerdings die Besprechung eines Klassikers der Kunstsoziologie, namentlich den Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ von Walter Benjamin. Seine aus dem Jahr 1936 stammenden Erörterungen bieten auch heute noch eine hervorragende Grundlage für jedwede Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und moderner Technik.
1. Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeit-alter seiner technischen Reproduzierbarkeit“
a) Zur Person Walter Benjamin
Geboren wurde Walter Benjamin 1892 als Kind eines vermögenden jüdischen Mitinhabers eines Auktionshauses. Er studierte von 1912 bis 1919 Phi- losophie, Germanistik und Kunstgeschichte. Mitte der zwanziger Jahre wandte er sich zunehmend marxistischen Theorien zu, die er in seine vorwiegend kunstphi- losophischen Arbeiten einfließen ließ. Während seines Exils in Paris (ab 1933) war er freier Mitarbeiter der von Max Horkheimer herausgegebenen kulturkri- tisch-neomarxistischen Zeitschrift für Sozialforschung. Auf der Flucht vor der deutschen Besatzungsmacht nahm er sich 1940 in der katalonischen Provinz Ge- rona (Spanien) das Leben.
b) Der Verlust der „Aura“ als zentrale These
Schon mit früheren Arbeiten wie „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ oder dem Goethe-Essay „Wahlverwandtschaften“ distanzierte sich Benjamin von der klassischen Vorstellung des autonomen Kunstwerks. In „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ schließlich beschreibt er grund- legend, warum diese Vorstellung in der Moderne obsolet geworden ist. Hauptar- gument ist die Tatsache, dass durch die technische Reproduktion das Kunstwerk nicht mehr die (von Benjamin so bezeichnete) „Aura“ des Originals besitzt:
„Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks - sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. An diesem einmaligen Dasein aber und an nichts sonst vollzog sich die Geschichte, der es im Laufe seines Bestehens unterworfen gewesen ist.“11
Durch die technische Reproduktion wird dem Kunstwerk (unabhängig von der Kunstgattung) seine historische Einmaligkeit genommen und damit auch die „...Autorität der Sache.“12. Auch verliert das Kunstwerk durch die frei verfügbare technische Reproduzierbarkeit seine rituelle Fundierung13. Dabei ist es gerade das Ritual, worin einst die eigentliche Verwendung des Kunstwerks lag14. An dieser Stelle vollzieht Benjamin nun aber eine „Umwertung aller Werte“ (wie Nietzsche sagen würde): Anstatt dem originär-historisch-autonomen Charakter des Kunstwerks nachzuweinen, schreibt er:
„ die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual In dem Augenblick [...] , da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.“15
Benjamins Frage scheint berechtigt: Wenn das Kunstwerk seine (von Benjamin konstatierte) bisherige Funktion verloren hat, zu was ist es dann überhaupt noch gut? Welchen Gebrauchswert hat es noch?16
c) Die kulturell-wissenschaftliche Bedeutung des Essays
Benjamin findet darauf anscheinend nur eine Antwort: Die Kunst wird von nun an der Politik dienen. Darin bestand Benjamins große Hoffnung, stellte er doch fest, dass der Faschismus die Politik ästhetisierte. Die Politisierung der Kunst sollte das (kommunistische) Gegenmittel dazu darstellen17. Diese Haltung wurde gerade von den 68ern wieder aufgegriffen, wobei sich besonders Herbert Marcuse (übrigens als einziger Vertreter der kritischen Theorie) profilierte, indem er seine (theoretisch-politische) Zuneigung zur populären Musik kundtat18. Ador- no als weiterer Vertreter der Frankfurter Schule stand der gesamten 68er Bewe- gung allerdings wesentlich skeptischer gegenüber. Zwar verteidigte er die Stu- dentenbewegung in der Öffentlichkeit, schien ihr aber in der gegebenen gesell- schaftlichen Situation nur mäßigen Erfolg zuzutrauen und konzentrierte sich auch weiterhin auf seine kritisch-theoretische Arbeit19. In dieser hatte er schon Jahr- zehnte zuvor den Benjaminschen Ansatz kritisiert. Die Thesen Adornos bezüglich der „Kulturindustrie“ (zusammen mit Max Horkheimer war es Adorno selbst, der diesen Begriff geprägt hatte20 ) sind zu einem nicht unerheblichen Teil auch als Antwort auf die Ausführungen Benjamins zu verstehen21. Während Adorno aber in seinen Arbeiten zu einem nicht unerheblichen Teil die Bedeutung der Musik in der Kulturindustrie untersuchte, schrieb Benjamin überhaupt nichts über Musik22. Seine Überlegungen stehen fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Photo- graphie und dem Film.
Viele dieser auf den Film bezogenen Thesen lassen sich aber auch auf die populäre Musik übertragen, wie generell auf alle Formen von Massenkultur23. Dieser Meinung ist zumindest Richard Middleton, und er geht sogar noch darüber hinaus, indem er eine Benjaminsche Tradition in der Diskussion um populäre Musik und Massenkultur konstatiert und die Diskussionen der 30er Jahre zwischen Benjamin und Adorno als möglichen Prüfstein für spätere Streitgespräche betrachtet24. Und in der Tat ist mir bei den Recherchen zu dieser Arbeit kein Autor begegnet, der es gewagt hätte, die Theorien Benjamins und Adornos zu unterschlagen, oder ihre Bedeutung zu negieren25, was allerdings nicht heißen soll, dass diese Theorien allgemeine Zustimmung erhalten.
d) Die qualitativen Eigenheiten der technischen Massenmedien und -kunst- formen
Worin aber sieht Benjamin die Eigenheiten der technischen Massenmedien nun genau? Zuerst einmal stellt Benjamin fest, dass Kunstwerke schon immer reprodu- zierbar waren, denn: „Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden.“26. Aber die Nachahmung des Meisters durch den Schüler ist etwas qualitativ anderes als die technische Reproduktion. Ein- drucksvoll beschreibt Benjamin die Entwicklung der technischen Reproduktions- weisen von den Griechen bis heute27. Durch die neuen Reproduktionsweise war eine immer schnellere, kostengünstigere und eigenständigere (weil das Kunstwerk leichter veränderbare) Verbreitung von Kunstwerken möglich. Erst aber mit der Photographie wurde auch der Künstler von handwerklichen Aufgaben entlastet, das mühselige Zeichnen mit der Hand wurde ersetzt durch einen Knopfdruck. Derart beschleunigt konnte die visuelle Reproduktion mit dem Sprechen schritt- halten und es war nur noch ein kleiner Schritt hin zum Film: „Wenn in der Litho- graphie virtuell die illustrierte Zeitung verborgen war, so in der Photographie der Tonfilm.“28 Mit Verweis auf Paul Valéry war für Benjamin damit eine Entwick- lung eingeleitet, durch die Bilder oder Tonfolgen ähnlich abrufbar wurden wie Wasser, Gas und elektrischer Strom. Mit Photographie und Film waren Kunst- formen entstanden, die der technischen Reproduktion einen eigenen Stellenwert unter den künstlerischen Verfahrensweisen verschafften29.
An dieser Stelle nun beschreibt Benjamin den oben schon dargestellten Verlust der Aura und der Echtheit des Originals. Allerdings erweise sich die technische Reproduktion als selbstständiger gegenüber dem Original als jede ma- nuelle Reproduktion. So kann man etwa mit der Photokamera das Photographierte so manipulieren, dass Dinge zum Vorschein kommen, die mit bloßem Auge so nicht erkennbar waren30. Hier aber zeigt sich ein kleiner Denkfehler Benjamins: Wenn nämlich das Photographierte bewusst manipuliert wird, so handelt es sich ja nicht mehr um eine reine technische Reproduktion, sondern schon wieder um einen künstlerischen Akt. Wenn die Manipulation aber nicht gewollt ist, so handelt es sich entweder um mangelnde Beherrschung des Photoapparates, oder aber um eine technische Unzulänglichkeit des Photoapparates bzw. der spezifischen technischen Reproduktionsweise selbst. Außerdem wird vieles von dem, was ein Photoapparat wahrnehmen kann, durchaus auch mit dem menschlichen Auge wahrgenommen, wird aber im Moment des Sinneseindrucks vom Gehirn nicht fokussiert. Die Aufmerksamkeit ist auf etwas anderes gerichtet, und erst durch die längere Betrachtung des per Kamera festgehaltenen Augenblicks werden bisher nicht wahrgenommene Details deutlich.
Auch das zweite Argument Benjamins hinkt: Durch die technische Repro- duktion kann das Abbild des Originals in Situationen wahrgenommen werden, die dem Original vorbehalten bleiben, beispielsweise kann ein Chorwerk, welches normalerweise in einem Konzertsaal oder ähnlichem aufgeführt wird, nun auch zuhause in den eigenen vier Wänden genossen werden. Vordergründig mag das zwar stimmen, es wird aber ein wesentlicher Punkt unterschlagen: Der „Konsum“ eines (bleiben wir bei dem Beispiel) Chorwerks in einem Konzertsaal oder dessen Genuss zuhause, sind etwas qualitativ verschiedenes, und zwar in vielerlei Hin- sicht. Erstens ist ein öffentliches Konzert ein primär sozial-gesellschaftliches Er- eignis, niemand wird seine beste Abendgarderobe für das heimische Hören einer CD anziehen, zweitens ist man bei einem öffentlichen Konzert auf die vor- handenen Örtlichkeiten angewiesen. Im Gegensatz dazu kann man zuhause so- wohl durch bewusste Auswahl der technischen Geräte als auch durch Bestimmung und Gestaltung der Räumlichkeiten bis zu einem gewissen Grad die Klangqualität beeinflussen. Drittens fehlt generell der optische Eindruck, der die Wahrnehmung mitbeeinflusst.
Man könnte dem sicherlich noch einige Punkte hinzufügen, worum es mir aber geht, ist die Beschränktheit der technischen Reproduktion. Im Grunde ge- nommen ist sie eine Illusion (die technische Reproduktion, nicht ihre Beschränkt- heit). Unabhängig von der Kunstart ist jede Wahrnehmung eines Kunstwerks abhängig von dem jeweiligen „setting“. Ein „setting“ ist hier das Konglomerat aller Umwelteinflüsse, die ein Mensch bewusst und unbewusst wahrnimmt. Bis die technische Simulation solcherlei „settings“ möglich ist, bleibt die technische Reproduktion lediglich die Neuauflage einer bestimmten Form, die wir als ein be- stimmtes Kunstwerk identifizieren. Aber genau so wenig wie ein C-Dur-Akkord in allen Tonarten die gleiche harmonische Funktion innehat, so wenig kann man ein Kunstwerk von seiner Umgebung isolieren. Wäre dem nicht so, welchen Sinn würde es dann machen, überhaupt in ein Konzert, ins Theater oder ins Museum zu gehen. Benjamin geht hier eigentlich nicht weit genug: Nicht nur, dass das Kunstwerk seine Aura und Echtheit verliert, sondern letztlich ist das Kunstwerk nie dasselbe und seine technische Reproduktion nur das Abbild von dem, was wir als Kunstwerk definieren, nicht aber von dem, was ein Kunstwerk alles sein kann. Genau diese (eigentlich unzureichende) technische Reproduktion eröffnet aber alle Möglichkeiten, das Kunstwerk neu zu definieren.
An dieser Stelle wage ich mich noch ein Stück weiter über den Benjamin- schen Tellerrand hinaus: Wenn also das Kunstwerk nie dasselbe ist, so ist es letzt- lich doch immer wieder einmalig. Das Kunstwerk entsteht eigentlich erst durch die Umgebung und durch die Wahrnehmung des Betrachters (der französische So- zialphilosoph Michel Foucault sprach in diesem Zusammenhang auch vom „Tod des Autors“) , demnach ist die Aura des Kunstwerkes nicht unbedingt in einem materiellen Original zu suchen. Dieses Verständnis von Aura scheint mir eher in einem bürgerlichen Besitzdenken fundiert zu sein, mit welchem sich Macht stabilisieren lässt. Denn nur wer im Besitz des Originals ist, kann über die (so verstandene) Aura verfügen.
Die wahre Aura (sofern es überhaupt eine gibt) liegt nicht unbedingt in einem bestimmten Werk als formale und identifizierbare Einheit, sondern vielleicht eher in der Einmaligkeit des augenblicklichen Zusammenspiels zwi- schen Werk/Akteur und Betrachter31. Man muss nur lernen, sie zu sehen. Dabei spielt es dann letztlich auch keine so große Rolle, ob es sich um ein Original oder eine Reproduktion handelt, da diese Kategorien eigentlich obsolet geworden sind. Zumal die neuen technischen Kunstformen (wie Photographie und Film) von ihrer technischen Herstellungsweise her schon auf Reproduktion ausgelegt sind. Dessen war sich auch Benjamin bewusst: „Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks.“32 Man könnte zur genaueren Unterscheidung auch anstatt von Re- produktionen von Duplikaten sprechen. Auch wenn es im Einzelfall nicht immer zutreffen mag, so hat die technische Vervielfältigung eines nur aufgrund der neu- en Technologien überhaupt möglichen Kunstwerkes mehr den Charakter eines Duplizierens, als den des Nachbildens.
e) Die Notwendigkeit der technischen Reproduzierbarkeit für die neuen Kunstformen
Wie Benjamin sehr richtig bemerkt, könnten einige dieser neuen Kunstformen ohne die Vervielfältigung eines Werkes auch gar nicht überleben. Prominentestes Beispiel ist der Film. Filmproduktionen sind meist dermaßen teuer, dass sie ohne ein Massenpublikum finanziell nicht realisierbar wären33. Der technische Größenwahn des Machbaren, das schnell gelangweilte Publikum und der enorme Konkurrenzdruck führten zu einer Spirale des Sich-ewig-steigern- müssens, die auch heute noch die Filmindustrie beherrscht34.
Mit dem Film kommt Benjamin auf ein Medium zu sprechen, das wie kein anderes mit dem, was Adorno als Kulturindustrie bezeichnet, assoziiert wird. Ein wesentlicher Kritikpunkt Adornos ist übrigens, dass der Film die Musik funktio- nalisiert und sie überwiegend zur emotionalen Steuerung des Zuschauers miss- braucht wird. Erstaunlicherweise gelingt dies auch mit Klängen und Werken aus der Neuen Musik, die Adorno so favorisiert. Nur ist nicht Emotionalität, sondern Autonomie der Leitbegriff des Adornoschen Kunstverständnisses.
f) Die unterschiedliche Bedeutung des Schauspielers in Film und Theater
Benjamin hingegen stellt die Möglichkeiten des neuen Mediums in den Vordergrund, und versucht, die Unterschiede zum Theater, dem traditionellen Fo- rum der Schauspielkunst, herauszuarbeiten. Es tritt deutlich zutage, dass dem Schauspieler im Film eine wesentlich untergeordnetere Rolle zukommt als im Theater, denn erstens ist der Zuschauer auf das angewiesen, was die Kamera ihm vermittelt: „Das Publikum fühlt sich in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfühlt. Es übernimmt also dessen Haltung: es testet.“35, zweitens muss der Schauspieler auf den Zuschauer ohne seine persönliche Anwesenheit (also ohne seine Aura) und ohne die Möglichkeit, sich auf das Publikum einzu- stellen, wirken. Das Publikum wird von der Filmkamera ersetzt.36 Drittens schließlich wird das Schauspiel zu einem Stilmittel unter anderen degradiert. Es ist nicht mehr unbedingt der Schauspieler, der eine Rolle spielt, sondern sein Schauspiel zerfällt in einzeln zu spielende Episoden, die erst später zusammenmontiert werden. Es besteht keine zeitliche Kohärenz der zu filmenden Szenen37, der Schauspieler kann sich von dem letztendlichen Film bis zu dessen Fertigstellung kaum eine Vorstellung machen.
g) Benjamins Kritik der Filmindustrie
Interessant ist der folgende Abschnitt in Benjamins Aufsatz38, da er an dieser Stelle die spätere Filmindustrie-Kritik Adornos in Ansätzen vorwegnimmt: Zuerst einmal konstatiert Benjamin, dass die Filmindustrie die verlorengegangene Aura des Schauspielers durch den (wiederum medial vermittelten ) Starkult ersetzt:
„Der vom Filmkapital geförderte Starkultus konserviert jenen Zauber der Persönlichkeit, der schon längst nur noch im fauligen Zauber ihres Warencharakters besteht.“39
Wie das Zitat zeigt, ist sich Benjamin des Warencharakters des Mediums Film bewusst und ist sich auch im klaren darüber, dass sich an dieser Situation nicht viel ändern wird, solange die Filmindustrie die Fäden in der Hand hält:
„Solange das Filmkapital den Ton angibt, lässt sich dem heutigen Film im allgemeinen kein anderes revolutionäres Verdienst zu- schreiben, als eine revolutionäre Kritik der überkommenen Vorstel- lungen von Kunst zu befördern. Wir bestreiten nicht, dass der heutige Film in besonderen Fällen darüber hinaus eine revolutionäre Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, ja an der Eigentumsordnung be- fördern kann. Aber darauf liegt der Schwerpunkt der gegenwärtigen Untersuchung ebenso wenig wie der Schwerpunkt der westeuro- päischen Filmproduktion darauf liegt.“40
[...]
1 Je mehr gestalterischen Ausdruck ein Instrument dem Musiker bietet, umso schwieriger scheint seine technische Imitation.
2 Vielmehr wird Technik in der Anthropologie als ein konstituierendes Element der Gattung Mensch begriffen. (vgl. Popitz 1989, S.40)
3 Im folgenden werde ich der Kürze (und nur der Kürze) wegen nur die männliche Form verwenden. Die weibliche möge bitte immer mitgedacht werden.
4 Der Begriff der „Konkurrenzfähigkeit“ ist in künstlerischen Fragen natürlich von zwiespältiger Natur: Einerseits lässt sich der „Wert“ eines Kunstwerkes kaum an seinem kommerziellen Erfolg messen, andererseits zwingen die bestehenden ökonomischen Verhältnisse den Künstler zum Kon- kurrenzdenken. Allerdings sind auch Künstler nicht immer frei von Profitgier und Ruhmessucht.
5 Dieser Tatsache war sich Adorno durchaus bewusst. Gerade die Verwertung von zeitgenössischer klassischer Musik (der ersten Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts) in kommerziellen Kinofilmen war ein wesentlicher Denkanstoss, der mit zu Adornos von Verbitterung zeugender „Kulturindustrie“-These geführt hat (siehe Behrens 1996, S.92).
6 Vor allem die sich auf die Arbeiten Pierre Bourdieus (im besonderen das Buch „Die feinen Unter- schiede“) stützende Form der Kultursoziologie untersucht, inwieweit intellektuelle Positionen, wie etwa die Adornos, Ausdruck sozialer Machtkämpfe sind. Auch philosophisch wurde schon die Auseinandersetzung mit Adornos Thesen gesucht, so etwa von Roger Behrens („Pop Kultur Indus- tie“)
7 Alsmann, S. 8
8 ebd.
9 Dies dürfte vor allem historisch-politische Gründe haben, leider ist es mir im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, näher darauf einzugehen. Nur eines: Der wahren Charakter des ame- rikanischen Freiheitsbegriffs lässt sich an den Umständen der Machtergreifung Pinochets im Jahre 1973 wohl mit am eindeutigsten ersichtlich machen.
10 vgl. Behrens 1996, S.23
11 Benjamin 1963, S.11
12 a.a.O., S.13
13 Ein Beispiel hierfür liefert John Blacking in seinem Buch „How musical is man?“ (Blacking 1973, S.40f)
14 In diesem Zusammenhang soll Anthony Giddens nicht unerwähnt bleiben, wies er doch darauf- hin, dass wir in einer posttraditionalen Gesellschaft leben, in welcher (sozial fundierte) Rituale und Traditionen von (individuellen) Süchten abgelöst werden (siehe Giddens 1996). Kombiniert man diesen Ansatz mit der These Benjamins, so bilden gerade die technischen Möglichkeiten des Reproduzierens eine ideale Grundlage zur ständigen Befriedigung von (medial befriedigbaren) Süchten.
15 Benjamin 1963, S.17f
16 Allein schon die Frage an sich zeigt, wie wenig Autonomie er der Kunst zuspricht, da ihm die Möglichkeit des ästhetischen Selbstzwecks gar nicht in den Sinn kommt.
17 a.a.O., S.44
18 vgl. Behrens 1996, S.161
19 s. Müller-Doohm 1996, S.175f
20 um genau zu sein im Buch „Dialektik der Aufklärung“ (Erstveröffentlichung 1947); s. MüllerDoohm 1996, S.201
21 Leider machen nach meiner Erfahrung viele Autoren den Fehler, in ihren Arbeiten über Massenkunst und/oder Kulturindustrie zuerst Adorno zu erwähnen, und erst später auf Benjamin einzugehen. Leicht kann so ein etwas verfälschter Eindruck des tatsächlichen „Tathergangs“ ent- stehen.
22 vgl. Middleton 1990, S.64
23 Die Tatsache, dass wir im Zusammenhang mit Benjamin von Massenkultur sprechen können,
zeigt schon den großen Graben zwischen Benjamin und Adorno auf, da letzterer ganz bewusst von „Kulturindustrie“ anstatt von „Massenkultur“ spricht, um zu betonen, dass es sich eben nicht um eine von den unteren gesellschaftlichen Schichten herkommende Kultur handelt. Adorno betont die industrielle Produktion von Kulturgütern, welche der „Kunde“ dann über sich ergehen lässt. (s. Müller-Doohm 1996, S.201)
24 s. Middleton 1990, S.64
25 Natürlich ist diese Aussage nur auf diejenigen Autoren zu beziehen, die sich auf theoretischer Ebene mit populärer Musik, Technik, Massenkultur und -medien auseinandersetzen. Die Bedeutung von Benjamin und Adorno für diesen Themenbereich kann man durchaus auf eine Stufe stellen mit der von Karl Marx für die politische Ökonomie.
26 Benjamin 1963, S.10
27 Wie es sich für einen Bildungsbürger in unserem Kulturkreis gehört, betont er natürlich beson- ders die Bedeutung der Reproduzierbarkeit der Schrift durch die Erfindung des Buchdrucks.
28 a.a.O., S.11
29 ebd.
30 a.a.O., S.12
31 Benjamin hingegen war der Meinung, dass „...Veränderungen im Medium der Wahrnehmung...sich als Verfall der Aura begreifen lassen,...“ (Benjamin 1963, S.15)
32 a.a.O., S.17
33 ebd.
34 Allzu deterministisch darf dies aber auch nicht verstanden werden. Auch Hollywood unterläuft bisweilen der „Fehler“, dass kleine, kostengünstige Produktionen wider Erwarten große Erfolge feiern.
35 Benjamin 1963, S.24
36 s. a.a.O., S.25
37 s. a.a.O., S. 26f
38 a.a.O., S. 27-30
39 a.a.O., S. 28
40 Ebd.