Im Jahre 1516 veröffentlicht der englische Gelehrte Thomas Morus sein Werk Utopia, eine Erzählung über eine gleichnamige, ferne Insel, die mit ihrer anscheinend perfekten Staatsverfassung gewissermaßen den Grundstein einer ganzen literarischen Gattung legt und ihren Titel zu einem heute vielfältig besetzten und verwendeten Terminus werden lässt.
Zwar ist das Denken einer idealen Staatsverfassung nicht neu, finden sich solche Ansätze schon bei Plato, Pythagoras oder Hippodamos, doch seit Morus wird die Wortneuschöpfung “Utopie” nicht nur als Begriff eines literarischen Genres verwendet, sie verankert sich auch im Alltagsgebrauch, der Wissenschaft und als politischer Kampfbegriff.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit aus der Utopia Rückschlüsse auf Kritikansätze zur sozialen und politischen Ordnung des 15. und 16. Jahrhunderts in England möglich sind, die damit dem Werk eine sozialkritische Tragweite und nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommen lassen.
Gibt es weiterhin Indizien, die Thomas Morus als einen Visionär eines Idealstaates herausstellen, der mit seinem Bild der Utopia eine konkrete Zukunftsvision anstrebte und umsetzten wollte?
Oder erscheinen im Kontext der Betrachtung auch andere Deutungsversuche möglich?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Struktur derUtopia
3. Ausarbeitung möglicher Kritik
3.1 Historische Ereignisse im relevanten Zeitkontext
3.2 Die Kritik derUtopia
3.3 Zwischenfazit:Utopiaals kritische Schrift
4. Die Intention des Thomas Morus
4.1 Textimmanente Hinweise auf die Intention des Autors
4.2 Weitere Hinweise: Der Blick über den Tellerrand
5. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im Jahre 1516 veröffentlicht der englische Gelehrte Thomas Morus sein Werk Utopia, eine Erzählung über eine gleichnamige, ferne Insel, die mit ihrer anscheinend perfekten Staatsverfassung gewissermaßen den Grundstein einer ganzen literarischen Gattung legt und ihren Titel zu einem heute vielfältig besetzten und verwendeten Terminus werden lässt.[1]
Zwar ist das Denken einer idealen Staatsverfassung nicht neu, finden sich solche Ansätze schon bei Plato, Pythagoras oder Hippodamos,[2] doch seit Morus wird die Wortneuschöpfung “Utopie” nicht nur als Begriff eines literarischen Genres verwendet, sie verankert sich auch im Alltagsgebrauch, der Wissenschaft und als politischer Kampfbegriff.[3]
Utopia bedeutet aus dem Griechischen abgeleitet soviel wie “Nichtort”, aber auch “g uter Ort”. [4]Schon hier zeigt sich die erste Kontroverse um die Deutungsmöglichkeit. Tatsächlich ist dieses Werk von Thomas Morus bis heute Gegenstand vielfältiger Diskussionen, die Intention des Autors heiß debattiert. So berufen sich die Einen auf die Utopia als ernsten Entwurf eines sozialistischen Idealstaates, gar eine Grundlage des Kommunismus, andere titulieren sie als geistreichen Scherz und führen so ihre Bedeutung ad absurdum.[5]
Die vorliegende Arbeit soll einen relativierenden Beitrag zu dieser Debatte liefern.
Es stellt sich die Frage, inwieweit aus der Utopia Rückschlüsse auf Kritikansätze zur sozialen und politischen Ordnung des 15. und 16.
Jahrhunderts in England möglich sind, die damit dem Werk eine sozialkritische Tragweite und nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommen lassen. Gibt es
weiterhin Indizien, die Thomas Morus als einen Visionär eines Idealstaates herausstellen, der mit seinem Bild der Utopia eine konkrete
Zukunftsvision anstrebte und umsetzten wollte? Oder erscheinen im Kontext der Betrachtung auch andere Deutungsversuche möglich?
Zur Klärung dieser Fragen werden zunächst Hinweise auf potentielle Kritikpunkte Morus´ aus der Utopia herausgestellt und ihr möglicher Bezug zum damaligen Zeitgeschehen erörtert. Dies hat zum Ziel, die Relevanz der Utopie als eine satirisch untermauerte Zeitkritik herauszustellen. Darüber hinaus erfolgt eine weitergehende Untersuchung, ob konkrete Anhaltspunkte gefunden werden können, die Rückschlüsse auf die Intention des Autors zulassen. Im Fokus der Betrachtung soll dabei stehen, inwieweit sich aus der Utopia ein möglicher Umsetzungsanspruch oder eine eindeutige Identifizierung des Autors mit ebendieser ergibt. Hinweise sowohl aus der Schrift selbst, wie auch begeleitende Umstände und nicht zuletzt die Lebensgeschichte des Morus werden dazu dienlich sein.
2. Die Struktur der Utopia
Inhaltlich besteht das Werk Utopia aus zwei Teilen, die zusammen eine Einheit bilden.
Dem ersten Buch schickt Morus eine Vorrede in Form eines persönlichen Briefes voran, in dem er sein Vorgehen schildert und den Adressaten, seinen Freund
Peter Aegid, bittet, über einige Unklarheiten sowie Fragen zur Veröffentlichung des Werkes aufzuklären.
Das erste Buch berichtet von dem Zusammentreffen des fiktiven, im Buch handelnden Morus mit Peter Aegid, der sich in Begleitung eines gewissen Raphael Hythlodaeus befindet.[6] Dieser sei ein ehemaliger Reisegefährte Amerigo Vespuccis und scheint durch seine weitreichende Welterkundung einiges Bemerkenswertes über fremde Völker berichten zu wissen, welches kurzerhand das Interesse seiner Gesprächspartner weckt. Dies zum Anlass nehmend folgt ein längeres Gespräch der drei Protagonisten, innerhalb dessen nicht nur von Erlebnissen Raphaels mit geistlichen und politschen Würdenträgern Englands berichtet wird, sondern auch Näheres zu den von ihm besuchten Völkern, hauptsächlich das der Utopier, kundgetan wird.[7] Erstere erwähnte Erlebnisse sollen zu einem späteren Zeitpunkt dieser Arbeit genauer thematisiert werden.
Die Darstellung des Staates der Utopier erfolgt nun durch Raphael Hythlodaeus als Monolog, der als geschlossener Bericht den zweiten Teil des Werkes bildet. Hythlodaeus beschreibt detailierte Informationen über die geografische Gegebenheit des Landes, die Struktur der Städte, sozialökonomische Ordnungen, Kriegswesen und Religion des sich laut Raphael druch eine “perfekte Staatsverfassung”[8] auszeichnenden Staates Utopia. Eine Gesamtübersicht über die Einrichtungen Utopias soll an dieser Stelle entbehrlich sein, da auf die im Kontext dieser Arbeit relevante Punkte später näher eingegangen wird.
3. Ausarbeitung möglicher Kritik
Um zu untersuchen, inwieweit Morus mit Inhalten seiner Utopia eine Kritik an den sozialen und politischen Umständen seiner Zeit formuliert, ist zunächst ein Blick auf wesentliche historische Ereignisse der Zeit unerlässlich. Darauf folgend werden konkrete Anhaltspunkte aus der Schrift herausgestellt und mit dem Zeitgeschehen in Verbindung gebracht.
3.1 Historische Ereignisse im relevanten Zeitkontext
In der Tat gingen Morus´ Schrift einige beutsame Entwicklungen und Zeitgeschehnisse voraus.
Der Blick wird zunächst auf die zusammenhängenden Entwicklungen der sozialen Ordnung sowie der Landwirtschaft gerichtet: Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts
unterlag England einer stetigen Entwicklung in Richtung Ablösung der Leibeigenschaft. Zudem stieg das Bevölkerungswachstum rapdie an. Die Grenzen der
Nahrungsmittelproduktion aus kultiviertem Land wurden bald erreicht, sodass die Nahrungsmittelnachfrage letztlich das Angebot übertraf. Diese Entwicklungen
kamen noch den wohlhabenden Gutsherren zugute, konnten diese nun aus einem kostengünstigen Überangebot an Arbeitskräften wählen.[9]
Doch dann sollte ein katastrophales Ereignis den Grundstein für erhebliche Veränderungen legen: Die Pest, die zwischen 1348 und 1440 große Teile der
Bevölkerung, Schätzungen sprechen von bis zu 50 %, buchstäblich dahinraffte.
Die Epidemien hatten neben ihren schecklichen Auswirkungen auch eine Art Umkehrung der vorherigen Verhältnisse zur Folge: Aufgrund der drastisch zurückgegangenen Nachfrage sanken die Lebensmittelpreise. Vorzüglich Lohnarbeiter und Kleinbauern waren gefragt und mussten besser bezahlt werden, auch der Grund und Boden der Gutsherren verlor an Wert. Versuche der Grundbesitzer, unter anderem durch Repressionen der Situation Herr zu werden, mündeten neben innerpolitischen Ursachen, die später näher erläutert werden, im großen Bauernaufstand von 1381. Die Konsequenz daraus war eine Verbesserung der ökonomischen und rechtlichen Bedingungen der Bauernschicht.[10] Die Lebensbedingungen derer Bauern, die die Pest überlebten, verbesserten sich also sichtlich.[11]
[...]
[1] Vgl. Schölderle 2011, S.15
[2] Vgl. Süssmuth 1967, S. 12
[3] Vgl. Schölderle 2011, S. 15
[4] Vgl. Schölderle 2011, S. 18
[5] Vgl. Schölderle 2011, S. 25
[6] Vgl. Utopia, S. 17
[7] Vgl. Utopia, S. 19-20
[8] Utopia, S. 58
[9] Vgl. Wende 1995, S. 85
[10] Vgl. Krieger 2009, S. 185-186
[11] Vgl. Wende 1995, S. 86