Einleitung:
Als eine „Insel der Glückseligen“, so habe ich Skandinavien bislang insgeheim bezeichnet – und zwar wegen oder trotz mehrerer Reisen nach Schweden und Norwegen. Gewiss ein einigermaßen undifferenzierter Eindruck, der im Seminar jedoch zunächst verstärkt wurde, sind doch die skandinavischen Länder in vielerlei Hinsicht ein großes Vorbild. Nachdem wir unter anderem das Jante-Gesetz kennengelernt hatten, erschienen nicht nur zahlreiche selbst erlebte und berichtete interkulturelle Erlebnisse mit Skandinaviern im Nachhinein verständlicher, auch begann sich mein Eindruck von allgegenwärtiger skandinavischer Hygge und Harmonie zu relativieren.
Eine Frage jedoch blieb: Die skandinavischen Gesellschaften scheinen einerseits unsichtbar regiert von besagten Jante-Regeln, einer sozialen Verhaltensnorm, die Gleichheit und Bescheidenheit zu zentralen kulturellen Werten erhebt und individuelle, herausragende Leistungen zu ignorieren oder gar zu strafen scheint. Andererseits stiftete ein als genial bezeichneter schwedischer Erfinder und Unternehmer Ende des 19. Jahrhunderts einen Preis, der exzellente Leistungen auszeichnen soll: Der Nobelpreis katapultiert jährlich brillante Köpfe aus fünf Disziplinen ins internationale öffentliche Rampenlicht.
Widersprechen sich nun diese beiden Phänomene und, wenn ja, inwiefern? Wie tritt dies in der Gesellschaft zu Tage, und wie gehen die Skandinavier damit um? Diesen Fragen widmet sich diese Arbeit, indem sie eine ausschnitthafte kulturwissenschaftliche Betrachtung der skandinavischen Länder anzustellen versucht.
Das erste Kapitel führt zunächst kurz in die theoretischen Grundlagen der Arbeit ein. Der zweite Abschnitt geht ausführlich auf das Gesetz von Jante einschließlich seiner kulturellen Hintergründe seiner ambivalenten Beurteilung und inhärenten Widersprüche und weiteren Besonderheiten ein und beschreibt Gegenbewegungen. Das dritte Kapitel widmet sich der Person Alfred Nobels und seinem Preis und thematisiert Kontroversen und Widerstände. Neben einer Würdigung des Renommees des Nobelpreises werden Kritik sowie ergänzende und alternative Preise angeführt. Der Hauptteil dieser Arbeit beschäftigt sich mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Nobelpreis und Jante-Gesetz und versucht, mögliche Widersprüche und Vereinbarkeiten zu interpretieren und zu erklären. Die Arbeit schließt mit einem Fazit und wagt einen kritischen Ausblick.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung.
1. Theoretische Grundlagen .
2. Das Jante-Gesetz .
2.1 Definition und Herkunft
2.2 Kulturelle Charakteristika und Hintergründe.
2.3 Beispiele aus dem Alltag.
2.4 Ambivalente Beurteilung.
2.5 Weitere Besonderheiten und Widersprüche.
2.6 Gegenbewegungen.
3. Der Nobelpreis .
3.1 Leben Alfred Nobels.
3.2 Nobels Erbe: Kontroverse und Widerstände.
3.3 Renommee und Kritik.
3.3.1 Ergänzende und alternative Preise.
4. Zusammenhang von Jante-Gesetz und Nobelpreis .
4.1 Widersprüche.
4.2 Vereinbarkeit
5. Fazit und Ausblick .
Literaturverzeichnis.
Anhang.
Einleitung
Als eine „Insel der Glückseligen“, so habe ich Skandinavien bislang insgeheim bezeichnet – und zwar wegen oder trotz mehrerer Reisen nach Schweden und Norwegen. Gewiss ein einigermaßen undifferenzierter Eindruck, der im Seminar jedoch zunächst verstärkt wurde, sind doch die skandinavischen Länder in vielerlei Hinsicht ein großes Vorbild. Nachdem wir unter anderem das Jante-Gesetz kennengelernt hatten, erschienen nicht nur zahlreiche selbst erlebte und berichtete interkulturelle Erlebnisse mit Skandinaviern im Nachhinein verständlicher, auch begann sich mein Eindruck von allgegenwärtiger skandinavischer Hygge[1] und Harmonie zu relativieren.
Eine Frage jedoch blieb: Die skandinavischen Gesellschaften scheinen einerseits unsichtbar regiert von besagten Jante-Regeln, einer sozialen Verhaltensnorm, die Gleichheit und Bescheidenheit zu zentralen kulturellen Werten erhebt und individuelle, herausragende Leistungen zu ignorieren oder gar zu strafen scheint. Andererseits stiftete ein als genial bezeichneter schwedischer Erfinder und Unternehmer Ende des 19. Jahrhunderts einen Preis, der exzellente Leistungen auszeichnen soll: Der Nobelpreis katapultiert jährlich brillante Köpfe aus fünf Disziplinen ins internationale öffentliche Rampenlicht.
Widersprechen sich nun diese beiden Phänomene und, wenn ja, inwiefern? Wie tritt dies in der Gesellschaft zu Tage, und wie gehen die Skandinavier damit um? Diesen Fragen widmet sich diese Arbeit, indem sie eine ausschnitthafte kulturwissenschaftliche Betrachtung der skandinavischen Länder anzustellen versucht.
Das erste Kapitel führt zunächst kurz in die theoretischen Grundlagen der Arbeit ein. Der zweite Abschnitt geht ausführlich auf das Gesetz von Jante einschließlich seiner kulturellen Hintergründe seiner ambivalenten Beurteilung und inhärenten Widersprüche und weiteren Besonderheiten ein und beschreibt Gegenbewe-gungen. Das dritte Kapitel widmet sich der Person Alfred Nobels und seinem Preis und thematisiert Kontroversen und Widerstände. Neben einer Würdigung des Renommees des Nobelpreises werden Kritik sowie ergänzende und alternative Preise angeführt. Der Hauptteil dieser Arbeit beschäftigt sich mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Nobelpreis und Jante-Gesetz und versucht, mög-liche Widersprüche und Vereinbarkeiten zu interpretieren und zu erklären. Die Arbeit schließt mit einem Fazit und wagt einen kritischen Ausblick.
1. Theoretische Grundlagen
Die theoretische Basis dieser Arbeit bildet das im Seminar erworbene Wissen über die skandinavische(n) Kultur(en) im Allgemeinen und das Jante-Gesetz im Besonderen. Zur Vertiefung wurde entsprechende, zahlreich vorhandene Literatur herangezogen wie etwa Werke von Ethnologen und Kulturwissenschaftlern, Beratungsliteratur für Auswanderer und Expatriates in der Wirtschaft, Aufsätze aus Fachzeitschriften, Zeitungsartikel, ferner Aufsätze von Schriftstellern und interkulturell interessierten Privatpersonen. Was den Nobelpreis angeht, so wurde auf Chroniken, Preisträgerverzeichnisse und Biographien über den Stifter des Preises, Alfred Nobel, zurückgegriffen. Wesentlich übersichtlicher ist die Literatur, die die beiden Phänomene, das Jante-Gesetz und den Nobelpreis, explizit miteinander in Verbindung bringt. Mit der vorliegenden Arbeit soll ein Versuch unternommen werden, ebendies zu tun.
Wenn in dieser Arbeit von Skandinavien die Rede ist, sind damit die drei zentralnordischen Staaten Dänemark, Norwegen und Schweden mit ihren sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten gemeint, stellenweise wird auch auf Finnland Bezug genommen. Grönland und die Faröer Inseln, die beide zum Königreich Dänemark gehören, sowie Island werden hier nicht betrachtet. An vielen Stellen liegt der Schwerpunkt auf Schweden, einerseits da es Herkunftsland des Nobelpreises ist, andererseits weil sich der Großteil der verwendeten Literatur im Besonderen auf dieses skandinavische Land bezieht.
2. Das Jante-Gesetz
Im Folgenden werden kulturelle Hintergründe und Herkunft des Jante-Gesetzes sowie seine Auswirkungen und Ambivalenzen in der Gesellschaft beleuchtet.
2.1 Definition und Herkunft
Sucht man eine Begriffsdefinition des schwedischen jantelagen (im Norwegischen und Dänischen: janteloven) im Wörterbuch der Schwedischen Akademie, so erhält man die Meldung, dass die Suche keinen Treffer erzielte (vgl. Svenska Akademiens Ordbok 2010). Ein deutsch-schwedisches Online-Wörterbuch definiert den Begriff schließlich so:
Das Jantegesetz beschreibt den kulturellen und politischen „Code“ des Umgehens miteinan-der, nach dem es verpönt ist, sich selbst zu erhöhen oder sich als besser und klüger darzustellen als andere. (Deutsch-Schwedisches Wörterbuch 2011).
Es handelt sich also um eine soziale Verhaltensnorm mit Bescheidenheit und Gleichheit als zentralen Werten, die die Gemeinschaft über das Individuum stellt.
Nach Henningsen (2001: 458) basiert das Jante-Gesetz auf dem Postulat des Mittelmaßes des dänisch-norwegischen Dichters Ludvig Holberg (1683-1754), das wiederum auf die in der Antike verehrte „Tugend des gerechten Abwägens“ (ebd.) bezogen ist. Sprachlich zeigt sich dieses Prinzip im schwedischen Sprichwort Lagom är bäst, zu Deutsch etwa: das gerade richtige Maß ist am besten. Aksel Sandemose, ebenfalls dänisch-norwegischer Schriftsteller, brachte das soziale Phänomen schließlich 1933 in seinem sozialkritischen Roman Ein Flüchtling kreuzt seine Spur[2] in parodistischer Form von „Zehn Geboten“ zu Papier. Jante, die fiktionale Heimatstadt des Protagonisten Espen Arnakke, spielt auf Sandemoses Kindheit und Jugend in der Kleinstadt Nykøbing auf der dänischen Insel Mors an (vgl. Carlsson 1974: 2). Spätestens seit dieser Zeit ist jantelagen oder janteloven ein soziologischer Begriff und in den Mentalitäten aller skandinavischen Ländern (Dänemarks, Norwegens, Schwedens und auch Finnlands) teils bewusst, teils unbewusst verankert [3] . Die zehn scheinbar unverwüstlichen Regeln zeigen deutlich den Gegensatz von „Ich“ und „Wir“, von Individuum und Gemeinschaft. So lautet etwa das erste Gebot: „Du sollst nicht glauben, daß du etwas bist.“ (Sandemose 1933, zit. n. von Schnurbein 2001: 240f.). Der Wortlaut der anderen neun Gesetze befindet sich im Anhang.
Bei Nichtbeachtung der Jante-Gebote drohen Sanktionen wie Ächtung oder gar Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft. Das Individuum soll nicht etwa mit persönlichen Talenten, Leistungen oder Reichtum aus der Masse herausragen, vielmehr ist für den Einzelnen ein konformes Verhalten ratsam, wenn er von seinem sozialen Umfeld akzeptiert werden möchte. In Folge sind die skandinavischen Gesellschaften vergleichsweise homogen. Es gibt wenige Subkulturen, und im Sinne von „Es kann nicht sein, was nicht sein darf.“ werden Probleme nicht selten ignoriert und Konflikte kaum ausgetragen (vgl. Bögershausen o. J.: 2; Rasmusson 2007: 113) – das Miteinander soll möglichst hyggelig sein.
2.2 Kulturelle Charakteristika und Hintergründe
Die kulturhistorischen Erklärungsversuche für die Besonderheiten der skandinavischen Länder sind vielfältig. Was den stark ausgeprägten Sinn für die Gemeinschaft angeht, so wird zunächst auf das raue nordische Klima verwiesen, auf die Größe der Länder (dieser Punkt trifft auf Dänemark weniger zu) und deren dünne Besiedelung: Die Menschen waren aufeinander angewiesen – allein auf sich gestellt konnte unter diesen Bedingungen, insbesondere in vorindustrialisierten Zeiten, kaum jemand überleben. Mit dem kulturellen Ursprung im Bauerntum begründet Henningsen (2001: 458) die tendenzielle skandinavische Vorliebe für ein einfaches, bodenständiges Leben. Skandinavischer Pragmatismus (vgl. Daun 1996: 199) in Kombination mit Egalitarismus zeigt sich dabei etwa in der „Stilisierung der Armut“ (Henningsen 2001: 458): Die im Überfluss vorhandene Armut wird zur Tugend erklärt, sodass Arme ohne größeres eigenes Zutun in die Gemeinschaft aufgenommen sind. Eine zentrale Rolle spielt auch die in Skandinavien mehrheitlich verbreitete evangelische Religion mit ihrer protestantischen Arbeitsethik, die Arbeit, Enthaltsamkeit und Bescheidenheit betont. Henningsen (ebd.: 457) weist darauf hin, dass Menschen puritanischen Glaubens Angst davor verspürten, glücklich zu sein und dies ihren Mitmenschen zeigen zu wollen. Die daraus ableitbare Tendenz zu rationalem Denken und Verhalten sowie zu zurückhaltender Emotionalität vieler Skandinavier mag ein weiterer Grund dafür sein, warum sich die Jante-Prinzipien so stark im kollektiven (Unter-)Bewusstsein verankert haben[4] .
Auch Literaten rühmen die skandinavische Bescheidenheit: Grundtvig[5] besingt mit der Metapher des flachen Landes die dänische Bodenständigkeit, Kaalund[6] mahnt „Bleibe schlicht, bleibe schlicht, das ist des Lebens Siegeshymne.“ (zit. n. Henningsen 2001: 458). In paradoxer Weise beschreibt die Reformpädagogin Ellen Key die nordische Identitätskonstruktion: Angesichts der Weite des Landes werde der Mensch (moralisch) groß dadurch, dass er sich als klein empfinde (zit. n. Bögershausen o. J.: 2; Henningsen 1997). Sandemose habe dieses Selbstverständnis schließlich in seinem Roman zementiert. Bei all dem spielt die Fähigkeit zur Selbstironie eine wichtige Rolle, die sich etwa im sprichwörtlichen Ausspruch des Schweden Almqvist[7] zeigt: Das Besondere an Schweden sei, dass es nur in Schweden schwedische Stachelbeeren gebe (vgl. Henningsen 2001: 459.)[8] .
Obwohl zuweilen als „vorindustrialisierte, vorkapitalistische Idylle“ (Anz 2004: 119f.) verklärt, haben sich die skandinavischen Länder zu sprachlich, kulturell, ethnisch und religiös homogenen, modernen Wohlfahrtsgesellschaften mit relativ geringen sozialen Klassenunterschieden entwickelt (vgl. Henningsen 2001: 459). Nicht zuletzt werden diese Errungenschaften auf die Anwendung der janteschen Grundsätze zurückgeführt und scheinen daher Beleg für deren Richtigkeit und Erfolg.
[...]
[1] Hygge (dänisch), bezeichnet ein auch für die anderen skandinavischen Länder charakteristisches Lebensgefühl und Bedürfnis nach Harmonie, Gemütlichkeit, Entspanntheit und Sorgenfreiheit. Auch das Adjektiv hyggelig kommt im Sprachgebrauch sehr häufig vor.
[2] Im norwegischen Original: En flyktning krysser sitt spor.
[3] Anz (2004: 115) weist auf die zentrale Rolle hin, die Literatur als Leitmedium bei der Konstruktion von Identität und Gemeinschaft seit dem 18. Jahrhundert im Allgemeinen und mit Sandemoses Roman für Skandinavien im Besonderen zukomme.
[4] Vgl. auch die Verbindung aus Rationalismus und Egalitarismus in Kunst und Design, sichtbar im Funktionalismus: Die Objekte sollen funktional und für jedermann erschwinglich sein und dadurch eine Schönheit erlangen, die der von Dingen für die Reichen ebenbürtig ist (vgl. Waldmann/Mason 2006: 789).
[5] Der Däne Nikolai Fredrik Severin Grundtvig (1783-1872), u. a. Schriftsteller und Politiker, erschuf gewissermaßen die dänische Identität im Begriff der folkelighed (Summe der Werte, Normen und Benehmen des dänischen Volkes in Religion, Politik, Wirtschaft, Erziehung und Arbeit). Er gründete außerdem die weltweit erste Volkshochschule.
[6] Hans Vilhelm Kaalund (1818-1885), dänischer Lyriker.
[7] Carl Jonas Love Almqvist (1793-1866), schwedischer Schriftsteller und Komponist, u. a. Essay „Die Bedeutung der schwedischen Armut“ von 1835 (vgl. Henningsen 2001: 459).
[8] Auch für Anz (2004: 119) ist beispielsweise die humoristische Revue, in der sich die Zuschauer über ihre gemeinsame soziale und politische Lebenswelt amüsieren, zentral für Dänemarks und Norwegens Identitätsgeschichte.