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Familienberatung in Zeiten gesellschaftlichen Wandels als Auftrag evangelischer Beratungsarbeit

©2013 Hausarbeit 18 Seiten

Zusammenfassung

Familienberatung ist weder im kirchlichen noch im sozialpädagogischen Kontext neu. Die Suche nach Rat im Allgemeinen ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit, die Differenzierung von Beratungsangeboten dagegen hat erst im letzten Jahrhundert verstärkt eingesetzt. Ein Handbuch zur Familien- und Lebensberatung aus dem Jahre 1975 unterscheidet etwa zwischen Einzel-, Paar-, Familien-, Gruppen- und Organisationsberatung, sowie projektbezogener Beratung. Bauer et al. behandeln in ihrem 2012 herausgebrachten Grundlagenwerk sozialpädagogische Beratung, Schul- und Bildungsberatung im Jugendalter, Berufsberatung Jugendlicher, Weiterbildungsberatung, Familienberatung, feministische Frauenberatung und die Beratung pflegender Angehöriger als von einander abgrenzbare Beratungsformen.

Familienberatung wird da notwendig, wo Familien unter Druck geraten (sind), wo Problematiken sich häufen, die die Selbstheilungskräfte einer Familie übersteigen, oder wo komplexe Umstände zu extremer körperlicher, seelischer oder - und dies ist besonders in der kirchlichen Beratung relevant - geistlicher Belastung führen oder geführt haben. Familien geraten auch und aktuell wohl besonders in Bedrängnis, wenn die Bedingungen, die zu ihrem „Funktionieren“ notwendig sind, nicht oder in nicht ausreichendem Maße gegeben sind.

Familien - egal welcher Gestalt - brauchen Lebensraum, Raum zum Leben. Dass dieser Raum sich derzeit stark verändert, darauf deuten gesellschaftliche Vorgänge wie Urbanisierung und Gentrifizierung, stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen, später oder gar kein Kinderwunsch von Paaren, eine älter werdende Gesellschaft, die Pluralisierung von Lebensformen und -stilen, stärkere Individualisierung oder multiethnische Gemeinschaften unterschiedlichster Herkunft und Religion hin. Bedeuten die gesellschaftlichen Veränderungen eine Krise der Familie? Welchen Auftrag hat Beratung angesichts politischer, wirtschaftlicher und sozialer Bedrängnisse von Familien heute?

Im Folgenden soll dabei besonders die Frage nach dem Auftrag evangelischer Beratungsarbeit aufgeworfen werden. Mit Blick auf die im Juli diesen Jahres vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) veröffentlichte Orientierungshilfe soll sie auf ihre Kriterien und Ziele befragt werden. Welche Orientierung kann diese Orientierungshilfe professionellen Beratern und Beraterinnen bieten?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Gesellschaftlicher Wandel
2.1 Frauenerwerbstätigkeit und die Forderung nach gerechterer Verteilung der häuslichen Reproduktionsarbeit
2.2 Neue Lern- und Verhaltensschwierigkeiten
2.3 Globalisierte und transnationale Familien

3. Familienberatung
3.1 Warum Familienberatung heute die gesellschaftlichen Veränderungen berücksichtigen muss und welche Folgen das hat
3.2 Begleitung Rat suchender Familien als Auftrag der evangelischen Kirche
3.3 Die Orientierungshilfe des Rates der EKD und ihre Bedeutung für die evangelische Beratungsarbeit

4 Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Familienberatung ist weder im kirchlichen noch im sozialpädagogischen Kontext neu. Die Suche nach Rat im Allgemeinen ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit, die Differenzierung von Beratungsangeboten dagegen hat erst im letzten Jahrhundert verstärkt eingesetzt. Ein Handbuch zur Familien- und Lebensberatung aus dem Jahre 1975 unterscheidet etwa zwischen Einzel-, Paar-, Familien-, Gruppen- und Organisationsberatung, sowie projektbezogener Beratung.1 Bauer et al. behandeln in ihrem 2012 herausgebrachten Grundlagenwerk sozialpädagogische Beratung, Schul- und Bildungsberatung im Jugendalter, Berufsberatung Jugendlicher, Weiterbildungsberatung, Familienberatung, feministische Frauenberatung und die Beratung pflegender Angehöriger als von einander abgrenzbare Beratungsformen.2

Familienberatung wird da notwendig, wo Familien unter Druck geraten (sind), wo Problematiken sich häufen, die die Selbstheilungskräfte einer Familie übersteigen, oder wo komplexe Umstände zu extremer körperlicher, seelischer oder - und dies ist besonders in der kirchlichen Beratung relevant - geistlicher Belastung führen oder geführt haben. Familien geraten auch und aktuell wohl besonders in Bedrängnis, wenn die Bedingungen, die zu ihrem „Funktionieren“ notwendig sind, nicht oder in nicht ausreichendem Maße gegeben sind.

Familien - egal welcher Gestalt - brauchen Lebensraum, Raum zum Leben. Dass dieser Raum sich derzeit stark verändert, darauf deuten gesellschaftliche Vorgänge wie Urbanisierung und Gentrifizierung, stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen, später oder gar kein Kinderwunsch von Paaren, eine älter werdende Gesellschaft, die Pluralisierung von Lebensformen und -stilen, stärkere Individualisierung oder multiethnische Gemeinschaften unterschiedlichster Herkunft und Religion hin. Bedeuten die gesellschaftlichen Veränderungen eine Krise der Familie? Welchen Auftrag hat Beratung angesichts politischer, wirtschaftlicher und sozialer Bedrängnisse von Familien heute?

Im Folgenden soll dabei besonders die Frage nach dem Auftrag evangelischer Beratungsarbeit aufgeworfen werden. Mit Blick auf die im Juli diesen Jahres vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) veröffentlichte Orientierungshilfe soll sie auf ihre Kriterien und Ziele befragt werden. Welche Orientierung kann diese Orientierungshilfe professionellen Beratern und Beraterinnen bieten?

2. Gesellschaftlicher Wandel

Die Rede vom gesellschaftlichen Wandel kann mittlerweile als ein historisches Phänomen aufgefasst werden. Dass sie Wandlungen unterworfen sind, gehört wohl zum Wesen von Gesellschaften. Im Rahmen dieser Arbeit wird vom Wandel, der sich in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts abzuzeichnen begann und der Auswirkungen bis in unsere Zeit hat, die Rede sein. Anhand dreier Beispiele sollen Merkmale dieses gesellschaftlichen Wandels skizziert werden.

2.1 Frauenerwerbstätigkeit und die Forderung nach gerechterer Verteilung der häuslichen Reproduktionsarbeit

Beck-Gernsheim zufolge ist es Picht, der mit seinem Buch „Die deutsche Bildungskatastrophe“ Mitte der 60er Jahre den Anstoß zu einem Wandel gab, der im Bildungsbereich seinen Anfang nahm: „[...] Die Bildungsbenachteiligung der Mädchen, lange Zeit selbstverständlich, wurde nun als soziales Problem erkannt [...]“3. Tatsächlich führten die politisch eingeleiteten Maßnahmen dazu, dass mehr Mädchen höhere Bildungsabschlüsse erlangten und mehr Frauen Erwartungen an berufliche Entwicklungsmöglichkeiten hegten. Beck zufolge bestimmte aber die Kluft zwischen entstehenden Gleichheitserwartungen der weiblichen Bevölkerung und fortbestehenden Ungleichheitserfahrungen die zukünftige Entwicklung. Die jungen Frauen hätten „[...] in der Angleichung der Bildung und in der Bewusstwerdung ihrer Lage [...] Erwartungen auf mehr Gleichheit und Partnerschaft in Beruf und Familie aufgebaut [..] [die aber durch, J.V.] männliche Gemeinsamkeitsparolen und Festhalten an den alten Zuweisungen[...]“4 nicht lebbar wurden. Das „Gegeneinander der Geschlechter“ werde die kommenden Jahre bestimmen, so Beck.5 Er sieht die industrielle Marktgesellschaft grundlegend auf den individualisierten, d.h. nicht in familialen Bindungen lebenden Menschen hin konzipiert und führt aus, dass Partnerschafts- und Familienkonflikte durch die Gegensätzlichkeiten Markt und Familie so lange fortbestehen werden, wie das sie produzierende System besteht.

Die Forderung der Frauen nach gerechterer Verteilung der häuslichen Reproduktionsarbeit war und ist eine logische Konsequenz ihrer vermehrten Arbeitsmarktbeteiligung. Jedoch fand und findet sie kaum Gehör, beziehungsweise fuhrt nicht in ausreichendem Maß zu Lösungsmöglichkeiten, scheint sie doch auch auf alte Zuweisungen6 seitens der Männer zu stoßen. Im siebten Familienbericht der Bundesregierung veröffentlichte Daten unterstützen die Vermutung, dass von einer gerechte(re)n Verteilung der häuslichen Arbeiten noch nicht die Rede sein kann: im Durchschnitt verbringen Frauen über drei Viertel ihres Tages mit Hausarbeit sowie Kinderbetreuung und nur 16 Prozent der Zeit mit Erwerbstätigkeit, Männer hingegen wenden weniger als 40 Prozent ihrer Zeit für Haushalt und Kinder auf, bringen aber knapp zwei Drittel der Tageszeit für Erwerbstätigkeit auf.7

2.2 Neue Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

Auch neue Verhaltensschwierigkeiten und Lernprobleme sind Anzeichen einer sich im Wandel befindlichen Gesellschaft. Schier ausufernd ist die pädagogische und psychologische Ratgeberliteratur geworden, die überforderten Eltern und pädagogischen Kräften Anleitungen zur Therapie aller möglichen Verhaltensauffälligkeiten an die Hand zu geben verspricht. Im populären wie auch wissenschaftlichen Diskurs zum Themenfeld des als defizitär bewerteten kindlichen Verhaltens fällt dabei auch eine Pluralisierung der Interpretationen, Begründungen und Handlungsanleitungen auf. Das Phänomen des „Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts-)Syndroms“ ist ein Beispiel, an dem sich zeigt, dass imzuge des gesellschaftlichen Wandels nicht nur die Zugänge zu andersartigem Verhalten sich ausdifferenzieren,8 sondern der Wandel zum Teil selbst als Erklärung des Phänomens dient.9

Wie nun können Stress- und Aggressionsverhalten von Kindern und Jugendlichen, die nicht selten in familiäre Krisen fuhren, Folgeerscheinungen des gesellschaftlichen Wandels sein? Mittlerweile befinden wir uns am Übergang von der Industrie- zur postindustriellen Gesellschaft,10 sodass neben Becks Analyse und seinen Vorhersagen neue Verstehenszugänge zu suchen sind. Die postindustrielle Gesellschaft ist die Informations- beziehungsweise Wissensgesellschaft.11 Bildung wird dabei unter den Bedingungen marktwirtschaftlicher Zwänge zum Kapital schlechthin. Der Druck, sich Bildung anzueignen, beziehungsweise (möglichst hohe) Bildungsabschlüsse zu erlangen, wächst und führt zu vermehrtem Stress aufseiten ihrer Adressaten: der Schüler, Schülerinnen, Auszubildenen und Studierenden. Dieser gesteigerte Leistungsdruck kann eine Ursache für als neu empfundene Lernprobleme oder gar als „Leistungsverweigerung“ tituliere Phänomene im schulischen Alltag sein.12 Möglicherweise hängen Syndrome wie die AD(H)S oder das sogenannte „oppositionelle Trotzverhalten“ aber auch auf andere Weise mit den sich wandelnen gesellschaftlichen Bedingungen zusammen. In einem Text zum dissozialen Verhalten im Kindes- und Jugendalter erwähnt selbst ein Doktor der Medizin die Möglichkeit gesellschaftlicher Bedingtheit: „[...] Es führt kein Weg an der bitteren Erkenntnis vorbei: Die einst (?) fest gefügten gesellschaftlichen Strukturen wanken, die Verhaltenskonsequenzen werden immer deutlicher, das Fehlverhalten in seiner vielfältigsten Form schlägt auf immer jüngere Jahrgänge durch [...]“13.

2.3 Globalisierte und transnationale Familien

Dass wir Zeugen eines gesellschaftlichen Wandels werden und schon geworden sind, darauf deutet auch das Phänomen transnationaler Familien hin. Hierzulande ist - obwohl Deutschland seit den 60er Jahren ein temporäres14 und später dauerhaftes Einwanderungsland geworden ist - die Wirklichkeit von Familienstrukturen, die sich über Ländergrenzen hinweg erstrecken (müssen), erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wahrgenommen und wissenschaftlich untersucht worden.15 Als transnational werden solche Familien verstanden, deren Glieder in unterschiedlichen Staaten leben.

[...]


1 Vgl. Junker (1975): Beratungs- (und Therapie-)formen, S. 130-140.

2 Vgl. Bauer et al. (2012): Grundwissen Pädagogische Beratung, S. 84-211.

3 Beck-Gernsheim (2006): Die Kinderfrage heute, S. 88.

4 Beck (1986): Risikogesellschaft, S. 162.

5 Vgl. ebda..

6 Vgl. Beck (1986): Risikogesellschaft, S. 162.

7 Vgl. BMFSFJ (2006): Familie zwischen Flexibilitätund Verlässlichkeit, S. 31. Vgl. dazu auch Rat der EKD (2013): Zwischen Autonomie und Angewiesenheit, S. 15.

8 Beispielhaft sei auf die Lesart alternativer Pädagogik wie der Waldorfpädagogik hingewiesen, deren Vertreter in der Diagnose ADHS einen „ [...] defektionistischen Erklärungsansatz [...] für außergewöhnliche kindliche Wesenzüge [...]“ (Köhler (2007): Schwierige Kinder gibt es nicht, S. 20, Hervorhebung im Original) sehen. Anders Blech, der von einer „ADHS-Hysterie“ (Blech (2003): Die Krankheitserfinder, S. 112) spricht, die hauptsächlich aggressivem Vermarktungsinteressen der Pharmafirmen zu verdanken sei; vgl. ebda., S. 109-130. Einen dritten Weg des Verständnisses von AD(H)S gehen Hüther / Bonney, die nach den hirnphysiologischen Ursachen des Phänomens forschen (vgl. Hüther / Bonney (2010): Neues vom Zappelphilipp).

9 So geben Hüther / Bonney an, dass bei der Suche nach Ursachen der ADHS die einen behaupteten, die Verhältnisse, unter denen Kinder heutzutage aufwachsen, wären für die motorische Unruhe, die gestörte Aufmerksamkeit und die mangelnde Impulskontrolle verantwortlich (vgl. Hüther / Bonney (2010): Neues vom Zappelphilipp, S. 8).

10 Vgl. Bertram (1997): Familienleben, S. 11.

11 Vgl. Tiefel (2004): Beratung und Reflexion, S. 18.

12 Vgl. u.a. Hüther / Bonney (2010): Neues vom Zappelphilipp, S. 8.

13 Faust (o.J.): Kinder- und Jugendpsychiatrie, S. 3.

14 Damit ist an dieser Stelle die Anwerbephase von Gastarbeitern in den 50er und 60er Jahren gemeint.

15 Als einer der ersten Wissenschaftler ist wohl der Soziologe Pries zu nennen, dessen Veröffentlichungen zu transnationaler Migration dieses Thema und seine Bezüge in den 90er Jahren einer breiteren (Fach-)Öffentlichkeit zugänglich machten (vgl. u.a. Pries (1997): Neue Migration im transnationalen Raum).

Details

Seiten
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783656518259
ISBN (Paperback)
9783656518051
DOI
10.3239/9783656518259
Dateigröße
441 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Philipps-Universität Marburg – Institut für Erziehungswissenschaften
Erscheinungsdatum
2013 (Oktober)
Note
1,3
Schlagworte
Familien evangelisch kirchlich Beratungsarbeit Beratung evangelische Beratung EKD Orientierungshilfe Rat der EKD gesellschaftlicher Wandel Gesellschaft Familie Familienberatung Pädagogik Kirche Frauenerwerbstätigkeit Frauenemanzipation Reproduktionsarbeit transnationale Familien Verhaltensschwierigkeiten Verhaltensstörungen
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Titel: Familienberatung in Zeiten gesellschaftlichen Wandels als Auftrag evangelischer Beratungsarbeit