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Hintergründe und Ursachen der Pestpogrome im 14. Jahrhundert

©2010 Hausarbeit (Hauptseminar) 37 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich im Rahmen des Hauptseminars „Geschichte der Juden in Südwestdeutschland“ sowohl mit den allgemeinen Ursachen der spätmittelalterlichen Pestpogrome, als auch mit den jeweiligen Motiven der ausführenden Kräfte. Vor diesem Hintergrund müssen die Basisfaktoren bezüglich der Judenverfolgungen, welche zweifelsohne als die schwerwiegendste jüdische Katastrophe vor dem Holocaust angesehen werden kann, einer differenzierten Analyse unterzogen werden. Zu diesen überregional wirksamen Konstanten, welche für die Gesamtheit der Pestpogrome gelten können, zählen neben den poltischen und ökonomischen Aspekten im Reich auch die Stellung der Juden innerhalb der Gesellschaft. Diesbezüglich gilt es insbesondere das sich im Spätmittelalter konstant verschlechternde Verhältnis zwischen der christlichen Gesellschaft und den Juden zu untersuchen. Die Darstellungen hinsichtlich dieser Aspekte werden eingebettet in den Gesamtrahmen des „Schwarzen Todes“, welcher sowohl die Pesttheorien des Spätmittelalters als auch den tatsächlichen Verlauf der tödlichen Seuche beinhaltet. All jene Faktoren, die in Teilen nur scheinbar peripher mit der Thematik der vorliegenden Arbeit zusammenhängen, sind notwendig, um ein Gesamtbild der Situation in der Mitte des 14. Jahrhunderts zu erhalten.
Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit drei speziell ausgewählten Beispielen, welche einen tieferen Einblick in die Einzelkomponenten der Pestpogrome erlauben. In diesem Kontext wird vornehmlich die Thematik der angeblichen Brunnenvergiftung durch die Juden sowie deren vordergründige Verwendung zur Anklage gegen dieselben näher betrachtet. Auch wenn die exemplarischen Beispiele nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtbild der Pestpogrome widergeben können - sind doch die einzelnen Verläufe in aller Regel sehr vielschichtig und komplex, so sollen die Ereignisse der Städte Freiburg im Breisgau, Nürnberg und Straßburg stellvertretend behandelt werden. Der Fokus liegt dabei insbesondere auf den Umbrüchen innerhalb der urbanen Räume, welche sich hauptsächlich in den Machtkämpfen zwischen Patriziern und den sukzessiv in die Räte drängenden Zünften widerspiegelten. Welche Rolle der jüdischen Bevölkerung in diesem Konflikt zukam und inwiefern die zu Beginn angesprochenen fiskalischen Interessen der Gewalttäter als wirkliches Motiv für das Judenmorden angeführt werden können, sollen die Analysen im letzten Teil der Arbeit aufzeigen.

Leseprobe

Inhalt

1. Einleitung

2. Europa am Vorabend der Pest – Das 14. Jahrhundert in der Krise
2.1 Agrarkrise und gesamtwirtschaftliche Rezession

3. Spätmittelalterliche Pesttheorien - Versuche der Deutung und Begründung der Pestilencia Magna 4

4. Tatsächlicher Ursprung und Verlauf des „Schwarzen Todes“

5. Die Stellung der Juden im Spätmittelalter – Ein Verhältnis der Ausgrenzung
5.1 Gewalttätigkeiten an Juden im Spätmittelalter – Voraussetzung für die Pestpogrome?
5.2 Legenden um Hostienschändung und Ritualmord –Die Vorwände für Gewalttätigkeiten gegen die jüdische Bevölkerung

6. Die angebliche Brunnenvergiftung jüdischer Verschwörer – Die spätmittelalterliche Gesellschaft zwischen Hysterie und Judenhass

7. Die Pestpogrome: Verlauf und Ursache anhand drei exemplarischer Beispiele
7.1 Unrast in den Städten – Das spätmittelalterliche System im Umbruch
7.2 Der Pestpogrom in Freiburg i. Breisgau
7.3 Der Pestpogrom in Nürnberg
7.4 Der Pestpogrom in Straßburg

8. Die Rolle der Geißler im Kontext der Pestpogrome

9. Fazit

10. Literaturverzeichnis
Quellen
Sekundärliteratur

1. Einleitung

wan werent sü (die Juden) arm gewesen und werent in die landesherren nüt schuldig gewesen, so werent sü nüt gebrant worden.[1]

Diese kurz gehaltene Beurteilung bezüglich des Straßburger Pestpogroms im Frühjahr 1349 stellt der spätmittelalterliche Geschichtsschreiber Jakob Twinger von Königshofen ans Ende seines Berichts und beschreibt dabei die Motive für ein Massaker, welches wenige Jahre zuvor über seine Geburtsstadt hinwegfegte. Auch wenn der Satz im Folgenden des Berichts nicht weiter kommentiert wird, birgt die Darstellung des Chronisten eine hochbedeutende Brisanz. Will man den Worten des Verfassers Glauben schenken, so war nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, die Seuche der Pest, welche zwischen 1347 und 1352 große Teile Europas nahezu entvölkerte, für die antijüdischen Ausschreitungen verantwortlich, sondern ganz andere Faktoren. Sicherlich, die Äußerung müsste im näheren Kontext geprüft und analysiert werden, doch gibt sie gleichwohl den Anstoß, die tiefergehenden Gründe für die Pestpogrome sowie die eigentlichen Triebfedern der Täterschaft einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen.

In diesem Sinne beschäftigt sich die vorliegende Arbeit im Rahmen des Hauptseminars „Geschichte der Juden in Südwestdeutschland“ sowohl mit den allgemeinen Ursachen der spätmittelalterlichen Pestpogrome, als auch mit den jeweiligen Motiven der ausführenden Kräfte. Vor diesem Hintergrund müssen die Basisfaktoren bezüglich der Judenverfolgungen, welche zweifelsohne als die schwerwiegendste jüdische Katastrophe vor dem Holocaust angesehen werden kann, einer differenzierten Analyse unterzogen werden. Zu diesen überregional wirksamen Konstanten, welche für die Gesamtheit der Pestpogrome gelten können, zählen neben den poltischen und ökonomischen Aspekten im Reich auch die Stellung der Juden innerhalb der Gesellschaft. Diesbezüglich gilt es insbesondere das sich im Spätmittelalter konstant verschlechternde Verhältnis zwischen der christlichen Gesellschaft und den Juden zu untersuchen. Die Darstellungen hinsichtlich dieser Aspekte werden eingebettet in den Gesamtrahmen des „Schwarzen Todes“, welcher sowohl die Pesttheorien des Spätmittelalters als auch den tatsächlichen Verlauf der tödlichen Seuche beinhaltet. All jene Faktoren, die in Teilen nur scheinbar peripher mit der Thematik der vorliegenden Arbeit zusammenhängen, sind notwendig, um ein Gesamtbild der Situation in der Mitte des 14. Jahrhunderts zu erhalten.

Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit drei speziell ausgewählten Beispielen, welche einen tieferen Einblick in die Einzelkomponenten der Pestpogrome erlauben. In diesem Kontext wird vornehmlich die Thematik der angeblichen Brunnenvergiftung durch die Juden sowie deren vordergründige Verwendung zur Anklage gegen dieselben näher betrachtet. Auch wenn die exemplarischen Beispiele nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtbild der Pestpogrome widergeben können - sind doch die einzelnen Verläufe in aller Regel sehr vielschichtig und komplex, so sollen die Ereignisse der Städte Freiburg im Breisgau, Nürnberg und Straßburg stellvertretend behandelt werden. Der Fokus liegt dabei insbesondere auf den Umbrüchen innerhalb der urbanen Räume, welche sich hauptsächlich in den Machtkämpfen zwischen Patriziern und den sukzessiv in die Räte drängenden Zünften widerspiegelten. Welche Rolle der jüdischen Bevölkerung in diesem Konflikt zukam und inwiefern die zu Beginn angesprochenen fiskalischen Interessen der Gewalttäter als wirkliches Motiv für das Judenmorden angeführt werden können, sollen die Analysen im letzten Teil der Arbeit aufzeigen. Die Untersuchung dieser Sachverhalte überführt letztendlich die eigentliche Täterschaft - vielleicht nicht unbedingt die vordergründig ausführenden Kräfte, in jedem Fall aber jene, welche es verstanden, im Hintergrund die mörderischen Fäden zu ziehen.

2. Europa am Vorabend der Pest – Das 14. Jahrhundert in der Krise

Die katastrophale Pestpandemie in Europa zwischen 1347-1352, auch bekannt als „Schwarzer Tod“[2], bettet sich in die Mitte eines Jahrhunderts voller Umbrüche und Krisen, wobei das damit einhergehende Massensterben den traurigen Höhepunkt derselben darstellt. Diese Krisen des auslaufenden Mittelalters lassen sich nicht nur an den politischen Umstrukturierungen und einer allgemeinen wirtschaftlichen Rezession des 14. Jahrhunderts festmachen, sondern finden ihren Ursprung vor allem in den klimatischen Veränderungen und den damit einhergehenden Versorgungsengpässen für große Teile der europäischen Bevölkerung. Der Begriff „Krise“ als solcher soll vor dem Hintergrund der vorliegenden Untersuchung sowohl in seiner ursprünglichen Bedeutung (grch., „Entscheidung“) aufgefasst, als auch im heutigen Sprachgebrauch verstanden werden. Die vielfältigen Krisen des 14. Jahrhunderts, welche in weiten Teilen Europas herrschten, können somit als klar definierter Wende- und Entscheidungspunkt für die weitere soziokulturelle Entwicklung des Kontinents vom Mittelalter in die Neuzeit gesehen werden, gelten jedoch auch für die größtenteils desolaten und schwierigen Lebensverhältnisse der spätmittelalterlichen Bevölkerung.

2.1 Agrarkrise und gesamtwirtschaftliche Rezession

Die mittelalterliche Antiphon vita in morte sumus[3] kann vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Gesellschaftskrise am Vorabend der Pestpandemie als programmatischer Leitsatz für die mittelalterliche Gesellschaft gesehen werden.[4]

Um die Jahrhundertwende war die Bevölkerungsentwicklung des Mittelalters auf ihrem Höhepunkt angekommen, sodass sich bereits zu diesem Zeitpunkt eine Ernährungskrise in weiten Teilen Westeuropas abzeichnete.[5] Eine fast gleichzeitig einsetzende Abkühlung des Klimas war somit besonders auf dem Gebiet der Agrarwirtschaft und folglich für den Großteil der Bevölkerung verheerend.[6] Die meisten Menschen kämpften auf Subsistenzebene um das tägliche Überleben und waren am Existenzminimum angelangt. Insbesondere in den Jahren nach 1315 folgte eine europaweite, lang anhaltende Hungersnot, wodurch die spätmittelalterliche Wirtschaft in eine Stagnations- bzw. Rezessionsphase geriet, aus welcher sie sich bis in die Jahre der Pest nicht wieder erholen konnte.[7]

Der Wirtschaftskrise aus agrarhistorischer Sicht folgten im gleichen Atemzug „Münzverschlechterung“ sowie vermehrt politische Konflikte im europäischen Kernland, welche nicht selten durch Kriege und damit einhergehender Gewalt an der spätmittelalterlichen Gesellschaft ausgetragen wurden.[8] Der verheerenden Seuche war somit ein - für mittelalterliche Verhältnisse schlechtes - halbes Jahrhundert der wirtschaftlichen Umbrüche vorausgegangen, welches eine zutiefst geschwächte und regressive Bevölkerung hinterließ.[9] Eine Zeit der Unsicherheit, des Hungers und des Sterbens musste erlitten werden. Der „Schwarze Tod“ und selbst und das damit einhergehende Massensterben forcierten letztendlich die ökonomische Krise des beginnenden 14. Jahrhunderts zu einer wirtschaftliche- und soziale Katastrophe. Die Pest kann daher – im wirtschaftlichen und sozialen Sinne – als weiterer bzw. hauptsächlicher „Katalysator“ für den sich stetig verschlechternden, „krisenhaften Charakter des Spätmittelalters“ gesehen werden.[10]

Die tiefgreifenden und weit verbreiteten Aversionen verschiedenster Schichten der Gesellschaft Mitteleuropas gegen die jüdische Bevölkerung, welche ihren Höhepunkt in der Ermordung und Enteignung zehntausender Juden in den Jahren 1348-1350 fand, müssen folglich mit der Ernährungs-, Umwelt- und Wirtschaftskrise am Vorabend der Pest in Zusammenhang gebracht werden.

3. Spätmittelalterliche Pesttheorien - Versuche der Deutung und Begründung der Pestilencia Magna

Als ideologische Basis für viele Judenpogrome ab 1348 diente der Vorwurf, „die Juden“ hätten öffentliche Brunnen und Quellen vergiftet, um in einer angeblich groß angelegten Verschwörung die Christenheit zu vernichten.[11] Obwohl diese Vorwürfe oftmals nur unter Folter in Form von erzwungenen Geständnissen unterlegt waren, wurde die Behauptung von der Brunnenvergiftung, neben der allgemeinen antijüdischen Polemik, integraler Bestandteil mitteleuropäischen Pesttheorien.[12] Neben der These des vergifteten Trinkwassers, welche in aller Regel dann zur Anwendung kam, wenn es darum ging, im Speziellen die Juden in irgendeiner Form anzuklagen, kursierten viele weitere Theorien in ganz Europa, die die schreckliche Seuche zu erklären suchten.[13] Das wilde Nebeneinander von Deutungen und Begründungen bestätigt zum einen die Ratlosigkeit gegenüber der verhältnismäßig hohen Mortalität, welche die Pest mit sich brachte, ist zum anderen allerdings auch Indikator für ein zwischen Glaube und Aberglaube gespaltenes Bewusstsein des spätmittelalterlichen Kollektivs.

Aus heutiger Sicht lässt sich feststellen, dass die meisten spätmittelalterlichen Gelehrten und Ärzte, bis auf die hohe Infektiosität, äußerst wenig bis gar keine Kenntnis über die Pest hatten.[14] Sie standen der Seuche und folglich dem daraus resultierenden Tod meist hilf- und machtlos gegenüber. Weder die eigentliche Ursache noch der Modus der Verbreitung der Pest war bekannt[15], sodass sich die verschiedenen Theoriemodelle aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen speisten.

Das am weitesten verbreitete und über alles geordnete Erklärungsmodell für die Pest war der theologische Ansatz, welcher die Seuche als Strafe Gottes über die Menschheit interpretierte.[16] Laut dieser Theorie bestrafe Gott, ganz im alttestamentarischen Sinne, die sündige und hedonistische Lebensweise der Menschen und fordere so gleichzeitig zur Umkehr und zur Buße auf. In diesem Zusammenhang wurde auch oft von der Pest als „Gottesgeißel“ gesprochen. Im Weiteren wurden, so der astrologisch-medizinische Ansatz, schlechte Sternenkonstellationen für die Krankheit verantwortlich gemacht, welche die Leibessäfte negativ beeinflussten.[17] Die rein medizinischen Erklärungsversuche für die Ursprünge der Pest reichen von der „Miasmen-Theorie“, die besagt, dass durch feuchtschwüles Klima begünstigte Ausdünstungen den Menschenleib infizieren, bis hin zu Modellen, bei welchen von Fäulnis durchdrungene Nahrung für die Krankheit verantwortlich sein würde.[18] Gerade die Machtlosigkeit und Angst gegenüber der tödlichen Erkrankung begünstigte jedoch auch immer mehr Erklärungsversuche, die vor allem im mitteleuropäischen Raum vor der Beschuldigung, andere Mitmenschen seien für den Ursprung der Krankheit verantwortlich, nicht Halt machten. Die Verschwörungstheorien wandten sich dann in aller Regel gegen die Juden, betrafen jedoch auch andere Randgruppen, welche in irgendeiner Weise aus der Gesellschaft ausgeschlossen und somit für die allgemeine Bevölkerung „verdächtig“ waren.

Werden die wissenschaftlichen Standards der Ärzte und Gelehrten in Bezug auf einzelne Regionen Europas geprüft, so lässt sich feststellen, dass nördlich der Alpen weitaus dürftigere Kenntnis über die Seuche vorhanden war als im südlichen Europa. Dies belegen einige wenige Schriftstücke aus dem italienischen Raum, welche den von der heutigen Forschung weitgehend akzeptierte Ursprung und Verlauf der Pest aufzeigen. Anhand dieser Aufzeichnungen sollen im Weiteren der eigentliche Ursprung und die Entwicklung der Pest zur europäischen Epidemie dargestellt werden.

4. Tatsächlicher Ursprung und Verlauf des „Schwarzen Todes“

Betrachtet man die spätmittelalterlichen Pestgutachten[19] und deren Ergebnisse bezüglich des Ursprungs und Verlaufs der Seuche, lässt sich konstatieren, dass die wenigen italienischen Chroniken, welche die tatsächliche Herkunft der Pest darstellen, eher zu den Ausnahmen gehören. Was die Behandlung von Pestkranken anbelangt, fehlen allerdings auch hier die lebensrettenden Methoden. Nichtsdestotrotz weisen diese Chronisten erstaunliches Fachwissen auf. Vor diesem Hintergrund muss besonders die richtige Lokalisation des Seuchenherdes in Asien sowie das langsame Vordringen der Pest von Osten nach Westen hervorgehoben werden.

Der Florentiner Chronist Matteo Villani, welcher wenige Zeit nach Verfassen seiner Chronik der Pest erlag, berichtet über das Jahr 1346:

„In diesem Jahr begann sich im Osten, in China und Nordindien und weiteren Gebieten, die an die dortigen Küstenregionen grenzen, unter den Menschen jeden Alters und Geschlechts eine Pestseuche auszubreiten. Man fing an, Blut zu spucken, und der eine starb sofort, der andere nach zwei oder drei Tagen … Die Pest kam in Schüben und erfaßte ein Volk nach dem anderen und innerhalb eines Jahres ein Drittel des Erdteils, der Asien heißt. Und zuletzt erreichte sie die Völker am Schwarzen Meer, in Syrien, der Türkei und Ägypten, ferner die Küsten des Roten Meeres und im Norden Rußland, Griechenland, Armenien und die angrenzenden Landstriche…“[20]

Für das Übergreifen der Pest auf den europäischen Kontinent sollen der traditionellen Erzählung nach die Genueser verantwortlich sein.[21] Bei der Belagerung der Genueserstadt Kaffa (heute Fedosia auf der Krim) durch Khan Djanibek, sollen durch die Pest infizierte Leichname im Sinne einer „biologischen Kriegsführung“ in die Stadt geschleudert worden sein. Die Flucht der Genueser beschrieb der angesehene Rechtsgelehrte Gabriel de Mussis aus Piacenza folgendermaßen:

„So gelangte man aus der erwähnten Stadt Caffa mit einigen Schiffen, welche von zwar noch lebenden, aber bereits mit der Seuche infizierten Seeleuten gesteuert wurden, nach Genua, mit anderen nach Venedig, mit wieder anderen in weitere Regionen der Christenheit.“[22]

Unabhängig davon, ob die Belagerung von Kaffa tatsächlich in dieser Weise vonstatten gegangen ist, sind es die von de Mussis beschriebenen, sich überlagernden Räume, welche offensichtlich für die rasche Verbreitung der Pest sorgten. Es liegt somit nahe, die Ursache für die schnelle Verbreitung der Pest besonders in den extensiven Seefahrts- und Handelsrouten zwischen Europa und Asien auszumachen.[23] Die politische, kulturelle und wirtschaftliche Expansion hatte ein Netzwerk geschaffen, das zum „Multiplikator des Schwarzen Todes“ in Europa werden sollte.[24]

Obwohl weder die Chronisten noch Ärzte und Heiler die Ursache der Pest eruieren konnten, scheinen der eigentliche Ausgangspunkt der Seuche sowie der Übertragungsweg im Südeuropäischen Raum zumindest teilweise bekannt gewesen zu sein. De Mussis schreibt dazu in seinem Bericht:

„Nachdem uns die Seuche ereilt hatte und von tausend Schiffen gerade zehn übriggeblieben waren, strömten Freunde, Verwandte und Nachbarn aus allen Richtungen zu unserem Empfang. Ach, wir selbst trugen die Todespfeile, als man uns umarmte und küßte und festhielt. Wir wurden gezwungen, mit dem eigenen Mund beim Erzählen das Gift auszustreuen.“[25]

Neben der konkreten Lokalisation des Seuchenherdes und dem weitgehend korrekten Nachvollzug der Pestausbreitung findet sich somit auch der von der heutigen Seuchenforschung bestätigte Übertragungsweg der „Tröpfcheninfektion“ (Lungenpest) in den Schriften de Mussis wieder. Es lässt sich also konstatieren, dass das Wissen um die richtigen Hintergründe der Pestilentia Magna zumindest in Teilen Italiens vorhanden gewesen sein muss.

Die Frage ob dieses Fachwissen über die Seuche aus dem Osten, Einfluss auf den Umgang mit der jüdischen Bevölkerung in Italien hatte, bleibt noch zu klären, zumal für den italienischen Raum keine nennenswerten Ausschreitungen gegen Juden in der Zeit zwischen 1348-1350 verzeichnet sind.[26] Vor dem Hintergrund dieser Perspektive müssen die vielen weiteren, die Pestpogrome betreffenden Komponenten zusammengefügt und geprüft werden, um den Gesamtkomplex der Judenpogrome im mitteleuropäischen Raum nachvollziehen zu können.

5. Die Stellung der Juden im Spätmittelalter – Ein Verhältnis der Ausgrenzung

Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, befanden sich große Teile der spätmittelalterlichen Bevölkerung sowohl am physischen als auch psychischen Abgrund menschlicher Existenz. Die Pest traf auf eine völlig verängstigte und verunsicherte Gesellschaft, bei welcher panische Reaktionen im Angesicht realer oder vermeintlicher Bedrohungen nicht auszuschließen waren.

In Verbindung mit dem jederzeit zu erwartenden Tod lässt sich zudem eine Form der Heilsangst feststellen, welche die Menschen, wie die Pesttheorien zeigen, zwischen fundamentaler Gottesfurcht und realer Furcht vor einem strafenden Gott ihr Dasein fristen ließ. Diese Grundstimmung wurde durch eschatologische und chiliastische Strömungen, welche besonders aus dem klerikalen Bereich tief in die Gesellschaft hineinwirkten, verstärkt. Auch wenn diese Faktoren, wie sich zeigen wird, nicht unmittelbar mit den Verfolgungen der Juden in den Pestjahren zusammenhängen, dürfen sie bei der Analyse der Pestpogrome keinesfalls außer Acht gelassen werden. Das zwischenmenschliche Verhältnis von Juden und Christen sowie die Stellung der Juden in der Gesellschaft müssen neben jenem Bewusstsein und den bereits aufgezeigten sozial-ökonomischen Aspekten als weitere Grundlage für die Pestpogrome gesehen werden.[27]

Betrachtet man die Stellung der Juden in der Gesellschaft, so lässt sich feststellen, dass besonders im Spätmittelalter endzeitliche Auffassungen in starker Verbindung mit generellen antijüdischen Tendenzen standen.[28] Die zwischenmenschlichen Verhältnisse von Christen zu Juden waren somit, nicht ohne Zutun der abendländischen Kirche[29], hauptsächlich durch Ausgrenzung, religiöse Abneigung und Fremdenhass geprägt.

[...]


[1] Jakob Twinger von Königshofen, in: Straßburger Chronik, Bd. 9/2, S. 764. Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. Bis ins 16. Jahrhundert, Die Chroniken der oberrheinischen Städte, Bd. 9, Straßburg, Bd. 2., hrsg. durch die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1870, S. 761. (Im Folgenden abgekürzt durch: Straßburger Chronik, Bd. 9/2)

[2] Der Terminus „Schwarzer Tod“ als Bezeichnung für die Pestwelle zur Mitte des 14. Jahrhunderts wird erst seit dem 16.-17. Jahrhundert verwendet. Zeitgenössische Bezeichnungen waren eher „pestilencia maxima“, „pestis“ oder „mortalitas magna“. Vgl. hierzu: William Naphy u.a., Der schwarze Tod. Die Pest in Europa, Essen 2003, S. 50., Neidhard Bulst, Der Schwarze Tod. Demographische, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Aspekte der Pestkatastrohe von 1347-1352. Bilanz der neueren Forschung, in: Saeculum, Bd. 30, Freiburg/München 1979, S. 45.

[3] Zitiert in: Ranz-Reiner Erkens, Buße in Zeiten des Schwarzen Todes. Die Züge der Geißler, in: Zeitschrift für historische Forschung, Bd. 26, Berlin 1999, S. 484.

[4] Die Intensität der negativen ökonomischen Auswirkungen durch die Klimaabkühlung sowie das Ausmaß der Hungersnöte schwanken innerhalb der verschiedenen Regionen Europas beträchtlich. Diese Einschränkung gilt es bei etwaigen Pauschalaussagen zu berücksichtigen.

[5] Vgl. Neidhard Bulst, Der Schwarze Tod (1979), S. 47., Manfred Vasold, Die Ausbreitung des Schwarzen Todes in Deutschland nach 1348, in: Historische Zeitschrift, Bd. 277, München 2003, S. 287.

[6] Vgl. Alfred Haverkamp, Der Schwarze Tod und die Judenverfolgungen von 1348/1349 im Sozial- und Herrschaftsgefüge deutscher Städte, in: Fragen des älteren Jiddisch. Trierer Beiträge, SH 2, Trier 1977, S. 78., Vgl. zudem: Barbara Tuchmann, Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert. München 1984, S. 37f.

[7] Vgl. František Graus, Pest-Geissler-Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 1987, S. 15.

[8] Vgl. Neidhard Bulst, Der Schwarze Tod (1979), S. 47.

[9] Vgl. Manfred Vasold, Die Ausbreitung des Schwarzen Todes in Deutschland nach 1348 (2003), S. 308.

[10] Vgl. Alfred Haverkamp, Die Judenverfolgung zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte, in: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 24, Stuttgart 1981, S. 28. Vgl. auch hierzu: František Graus, Pest-Geissler-Judenmorde (1987), S. 35f.

[11] Vgl. František Graus, Judenpogrome im 14. Jahrhundert: Der Schwarze Tod, in: Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München 1981, S. 71.

[12] An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass sich viele intellektuelle Zeitgenossen gegen die unsinnigen Anschuldigungen gegenüber den Juden aussprachen. Nichtsdestotrotz manifestierte sich die Fabel von der Brunnenvergiftung im kollektiven Bewusstsein der spätmittelalterlichen Bevölkerung. Vgl. hierzu: František Graus, Judenpogrome im 14. Jahrhundert (1981), S. 75.

[13] Einen zusammenfassenden Überblick über die spätmittelalterlichen Pesttheorien liefert bspw. Konrad von Megenberg in seinem Tractatus de mortalitate in Alamannia ( De epidimia magna ). Vgl. Sabine Krüger, Krise der Zeit als Ursache der Pest? Der Traktat De mortalitate in Alamannia des Konrad von Megenberg, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, Bd. 2, Göttingen 1972, S. 840ff., Vgl. im Weiteren: Klaus Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa: Die große Pest und das Ende des Mittelalters, München 1994, S. 21ff., Ranz-Reiner Erkens, Buße in Zeiten des Schwarzen Todes (1999), S. 486.

[14] Vgl. Klaus Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa (1994), S. 21ff, 172ff, Ranz-Reiner Erkens, Buße in Zeiten des Schwarzen Todes (1999), S. 484.

[15] Für Ausnahmen welche den heute bestätigten Seuchenhergang darstellen. Vgl. 4. Die Seuchenforschung kann seit August 2011 das von Alexandre Yersin in Honkong (1894) entdeckte Bakterium Yersinia pestis als Erreger der Pestpandemie von 1347-1352 bestätigen. Vgl. Verena J. Schuenemann u.a., Targeted enrichment of ancient pathogens yielding the pPCP1 plasmid of Yersinia pestis from victims of the Black Death, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (2011), URL: http://www.pnas.org/content/early/2011/08/24/1105107108.full.pdf+html (2012-01-01, 20:43).

[16] Thilo Esser, Pest, Heilsangst und Frömmigkeit. Studien zur religiösen Bewältigung der Pest am Ausgang des Mittelalters, Altenberge 1999, S. 27ff.

[17] Vgl. Klaus Bergdolt, Die Pest, Geschichte des Schwarzen Todes, München 2006, S. 31., Vgl. auch: František Graus, Pest-Geissler-Judenmorde (1987), S. 27f.

[18] Vgl. Klaus Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa (1994), S. 21ff.

[19] Vgl. bspw. Klaus Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa (1994), S. 24.

[20] Zitiert in: Klaus Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa (1994), S. 33.

[21] Vgl. William Naphy u.a., Der schwarze Tod (2003), S. 29.

[22] Zitiert in: Klaus Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa (1994), S. 39.

[23] Vgl. Neidhard Bulst, Der Schwarze Tod (1979), S. 47.

[24] Vgl. Klaus Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa (1994), S. 39.

[25] Zitiert in: Ebd. S. 41.

[26] Vgl. Klaus Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa (1994), S. 144.

[27] Vgl. František Graus, Pest-Geissler-Judenmorde (1987), S. 156.

[28] Vgl. Klaus Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa (1994), S. 119., Klaus Bergdolt, Die Pest (2006), S. 67.

[29] Der theologische Ansatz der spätmittelalterlichen Kirche postulierte hinsichtlich der Juden ein zwischenmenschliches Verhältnis der „Knechtschaft und Toleranz“: Die Juden seien, durch die Kreuzigung Jesu, zum „Knecht der Christenheit“ geworden, würden aber als unter die Völker verstreute „Bücherverwalter der Christen“ am Ende aller Tage gerettet werden. Vgl. hierzu: Thomas Klein, Judentum und Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1984, S. 69.

Details

Seiten
Jahr
2010
ISBN (eBook)
9783656518839
ISBN (Paperback)
9783656518686
DOI
10.3239/9783656518839
Dateigröße
676 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen – Institut für geschichtliche Landeskunde und historische Hilfswissenschaften
Erscheinungsdatum
2013 (Oktober)
Note
2,0
Schlagworte
hintergründe ursachen pestpogrome jahrhundert
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