Die ideologische Bedeutung vom Alter der Muttersprache bei Philologen des 17. Jahrhunderts
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 die Wurzeln des Sprach- oder Kulturpatriotismus
1.2 nationale Sprachpflege
1.3 Sprachpflege im 17. Jahrhundert
2. Sprachgeschichtsschreibung im 17. Jahrhundert
2.1 das zeitgenössische Sprachgeschichtskonzept
2.2 Alter, Verwandtschaft und Bedeutung der einzelnen Sprachen
2.3 die Besonderheit des Alters der Teutschen HaubtSprache
2.4 Sprachwandel
3. Ausblick
3.1 Kritik
3.2 weiterführende Sprachgeschichtsschreibung
3.3 Zusammenfassung
Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Einleitung
In der vorliegenden Arbeit soll die ideologische Bedeutung des Sprachalters für die Argumentation der Sprachpfleger des 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum erörtert werden. Dazu wird zunächst auf die kulturpatriotische Strömung der damaligen Zeit eingegangen, um die Grundlagen für eine tiefer gehende Analyse zu schaffen. Wir betrachten also im folgenden Kapitel die Entstehung, Verbreitung und Etablierung des Sprach- oder Kulturpatriotismus in Europa, später im deutschsprachigen Raum, sowie deren bedeutendste Vertreter und ihre Ideen.[1] Im weiteren Verlauf der Arbeit wird das zeitgenössische Sprachgeschichtskonzept des 17. Jahrhunderts dargelegt. Dazu wird insbesondere Schottelius’ Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache genutzt, welche „die umfassendste und fundierteste Einbeziehung sprachhistorischer Fragestellungen in ein grammatikographisches Werk vor Adelung[2] bietet“ (Rössing-Hager 1985, S. 1566). Dabei wird der Fokus der Betrachtung auf der Betonung und Begründung des hohen Alters der deutschen Sprache liegen. Abschließend werden die weiteren sprachphilosophischen und -wissenschaftlichen Auswirkungen der Sprachpfleger des 17. Jahrhunderts betrachtet.
1.1 die Wurzeln des Sprach- oder Kulturpatriotismus
Entgegen dem weit verbreiteten, stammesgeschichtlichen, lokalen oder regionalen Patriotismus bezeichnet Kulturpatriotismus eine größere, umfassendere Denkweise. Der Bogen wird hier auf eine Kulturgemeinschaft gespannt, die überregional und länderübergreifend sein kann. Er bezeichnet in Deutschland[3] eine späthumanistisch-aufklärerische Sozietätenbewegung des 17. Jahrhunderts (vgl. Polenz 1994, S. 116). Betrachtet man Kultur als die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Äußerungen der Gemeinschaft eines Volkes, sowie Patriotismus als begeisterte Liebe zum Vaterland, als emotionale Bindung an die Werte, Traditionen und kulturhistorischen Leistungen dieses Volkes, dann ergibt sich eine mögliche Definition. Kulturpatriotismus ist die „Liebe zum Vaterland ob der Kulturgüter, die es besitzt“ (Robert Michels, zitiert in Polenz 1994, S. 108). Aufgrund der kulturell und politisch mehr als angeschlagenen Situation Deutschlands nach dem Dreißigjährigen Krieg mussten diese Kulturgüter erst wieder oder neu erschaffen werden. Huber (1984, S. 16) definiert Kulturpatriotismus also als eine Liebe zum Vaterland ob der Kulturgüter, die „noch geschaffen bzw. zu kulturell wertvollen erst erhoben werden müssen“ (vgl. auch Polenz 1994, S. 108).
Der deutsche Sprachraum bietet dafür mit seiner Lage in Mitteleuropa und dem regen Austausch und Einfluss mit anderen Kulturnationen ein großes Potential. Problematisch ist jedoch bereits die Bezeichnung deutsch, was auf althochdeutsch diutisc oder mittellateinisch theodiscus soviel wie volkssprachlich oder zum Volk gehörig bedeutet. „In der Geschichte des Wortes >deutsch< spiegelt sich die Herausbildung des deutschen Sprach- und Volksbewusstsein gegenüber den romanischen und romanisierten Teilen der Bevölkerung im Frankenreich und gegenüber dem Lateinischen“ (Duden 2007, S. 142), sowie von außerhalb als Abgrenzung der überregionalen sprachlichen Zusammengehörigkeit der kontinental-südgermanischen Stammesdialekte gegenüber dem Latein, den slawischen, romanischen und nordgermanischen Sprachen (vgl. Polenz 1991, S. 81). Die Fremdbezeichnung deutsch ist „kein primär ethnischer Volksname, sondern ist als ‚übergreifender Sprachname’ verwendet worden“ (ebd.). Die bestehenden Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten dürfen aber nicht den Eindruck einer politischen oder kulturellen Einheit erwecken.
Ein allgemeines, vages Bewusstsein der sprachlichen Gemeinsamkeit (nicht ‚Einheit’!) hat also bereits Jahrhunderte vor der Entwicklung der Nationalsprache (16.-18. Jh.) und des Nationalstaates (19./20. Jh.) existiert. Es war aber bis ins 17. oder 18. Jh. verbunden mit einem starken Bewusstsein der (mündlichen und schriftlichen) Eigenständigkeit der Landschaftssprachen (Polenz 1991, S. 81).
Durch die Kleinstaaterei Mitte des 17. Jahrhunderts war man von einer politischen Einheit weit entfernt. Betrachten wir die Unterschiede zwischen den Städten der Hanse und der Sprache am Wiener Hof, werden die bereits um 1300 von Hugo von Trimberg so bezeichneten lantsprâchen deutlich (vgl. Polenz 1991, S. 82).
Zur Sprachgeschichte gehört die Entwicklung des Sprachgeschichtsbewusstseins, was sich in der Geschichte der Sprachnormierung und der Sprachenpolitik zeigt (vgl. Polenz 1991, S. 20). Diese hatten im deutschsprachigen Raum ihren Anfang im 15. und 16. Jahrhundert (ebd., S. 19). Seinen Ursprung hatte das Sprachgeschichtsbewusstsein jedoch in Italien.
Woolard/Schieffelin (1994) analysierten unter anderem den Zusammenhang zwischen Sprache und Ideologie.
Ideologies of languages are significant for social as well as linguistic analysis because they are not only about language. Rather, such ideologies envision and enact links of language to group and personal identity, to aesthetics, to morality, and to epistemology. […] A definition of language is always, implicitly or explicitly, a definition of human beings in the world (Woolard/Schieffelin 1994, S. 56).
Sie definieren Sprachideologien als “set of beliefs about language articulated by users as a rationalizion or justification of perceived language structure and use” (ebd., S. 57). Im Verlauf der Arbeit wird der enorme Einfluss der eben genannten Aspekte von Sprachideologie – Gruppen- und Persönlichkeitsidentität, Ästhetik, Moral und Erkenntnistheorie – auf die Spracharbeit im 17. Jahrhundert herausgearbeitet.
1.2 nationale Sprachpflege
Der Trend hin zur Pflege der Muttersprache und einem verstärkten Interesse in die Kulturgeschichte des Vaterlandes geht mit dem Aufkommen der Renaissance, bzw. des Frühhumanismus im Italien des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts einher. In dieser vor- oder frühhumanistischen Zeit waren es Schriftsteller und Philosophen wie Giovanni Boccaccio, Dante Alighieri, Cola di Rienzo und Petrarca, die vor allem ihre Muttersprache Italienisch unterstützten, gebrauchten und ausbauten (Rössing-Hager 1985, S. 1564). Sie schufen gleichzeitig kulturelle Werte und wirkten damit identitätsstiftend. In den Zentren Padua, Bologna und später auch Florenz kam es zu Zusammenkünften humanistischer Denker, die sich unter anderem für die Volkssprache engagierten. Durch kulturellen Austausch gelangten diese Ideen mit einem gewissen zeitlichen Abstand nach Frankreich, England, die Niederlande und schließlich über den Prager Hof auch nach Deutschland. Der „übergreifende Gedanke vom Wert der Muttersprache […] hat zu Beginn des 16. Jhs. auch in Deutschland die bewusste Hinwendung der Gelehrten zur Muttersprache gefördert“ (Rössing-Hager 1985, S. 1564). Neben Versuchen, frühere Sprachstufen zu identifizieren und Stilepochen zu bestimmen, fand seit 1512/13 mit Vadians Vorlesungen in Wien zu alter deutscher Dichtung auch eine Hinwendung zur deutschen Literaturgeschichte statt (vgl. ebd., S. 1565).
Verschiedene Einflüsse wie die extreme Kleinstaaterei, welche im späten 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt fand, der vorherrschende Feudalabsolutismus, sowie die fremdsprachlichen Einflüsse in verschiedenen Lebensbereichen verzögerten den Kulturpatriotismus in Deutschland verglichen mit den benachbarten Kulturnationen. Während das Französische am Hof zur ersten Sprache wurde und Kirche und Wissenschaft vom Latein dominiert wurden, war ein Einfluss des Spanischen auf das Militärwesen zu verzeichnen. Der Einfluss des Italienischen und Englischen beschränkte sich auf das Bankwesen, die Kunst oder spielte eine untergeordnete Rolle. Durch diese Gründe also wurde das Phänomen des Sprach- oder Kulturpatriotismus in Deutschland gehemmt, kam jedoch um etwa 50 bis 100 Jahre retardiert doch noch zur vollen Entfaltung.
Kulturpatriotische Bestrebungen hatten ihre Impulse von Vertretern der Mystik, religiösen Laienbewegungen, von Reformatoren und Humanisten erhalten.
Bei einigen von diesen, z. B. Luther und Ikkelsamer, verschmolzen humanistisches und tradiertes heimisches Gedankengut so stark, dass in ihren sprachbezogenen Äußerungen die beiden Komponenten oft untrennbar erscheinen. […] Eine Beschäftigung mit der Geschichte der dt. Sprache war daher notwendig verbunden mit dem genaueren Kennenlernen der dt. Sprache auch der eigenen Zeit (Rössing-Hager 1985, S. 1564).
Sprachgeschichte ist also immer mit Kulturgeschichte verbunden, Spracharbeit immer mit Kulturarbeit. Im Zeitraum des 16. bis 18. Jahrhunderts umfasst das Forschungsgebiet der Geschichte der deutschen Sprache unter anderem die Geschichte der Völker, die die deutsche Sprache sprechen oder gesprochen haben, die Untersuchung von Herkunft und Alter der (deutschen) Sprache, ihre Verwandtschaft mit den übrigen Sprachen, sowie ihren Rang unter ihnen. Ferner auch die Geschichte des Schicksals der deutschen Sprache in Bezug auf die Auseinandersetzung mit fremden Sprachen und die Herausstellung ihrer Leistungsfähigkeit oder -schwäche (vgl. Rössing-Hager 1985, S. 1567 f.).
Besonders durch niederländischen Einfluss und italienische Vorbilder entstanden im 17. Jahrhundert diverse Sprachgesellschaften. Diese waren eine mehr oder minder lose Ansammlung von an der Muttersprache Interessierten aus der Adelsschicht oder dem gehobenen Bürgertum. Besonders viele später aktive Sprachpfleger haben ihre Prägung der protestantischen Universität Leiden zu verdanken (vgl. ebd., S. 1565). Hier studierten Lyriker und Sprachphilosophen wie Justus Georg Schottelius, Paul Fleming, Andreas Gryphius, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Martin Opitz und Philipp von Zesen, also fast alle noch heute bekannten Barockautoren. Die in den Niederlanden seit dem 15. Jahrhundert tätigen rederijkers, also Rhetoriker, sind Angehörige von Dichtergilden und nutzen die Volkssprache. Sie und die niederländischen Universitäten galten als besonders progressiv wegen der Erforschung der germanischen Sprachen. Ein „Einfluss der niederländischen rederijkers -Kammern ist nicht direkt nachzuweisen, aber aufgrund vieler persönlicher Beziehungen und sachlicher Parallelen anzunehmen“ (Polenz 1994, S. 115). Auch Rössing-Hager (1985, S. 1565) spricht von verstärkten „internationalen Beziehungen zwischen den Humanisten.“
Niederländische Städte galten als beliebte Aufenthaltsorte für Studienreisen, so auch für Ludwig I., Fürst von Anhalt-Köthen, der später unter anderem auch nach Italien reiste. In Florenz wurde er als erster Deutscher Mitglied der 1582 gegründeten Accademia della Crusca, welche als älteste Sprachgesellschaft gilt und zum Ziel hatte, die italienische Sprache zu bewahren und zu fördern. Nach ihrem Vorbild wurde 1617 in Weimar die Fruchtbringende Gesellschaft als deutschsprachiges Pendant gegründet, mit Ludwig I. als Oberhaupt (vgl. Polenz 1994, S. 115). Ihre Aufgabe war neben der Förderung der Tugenden[4] auch die Reinhaltung, Verbesserung und Säuberung der deutschen Sprache.[5] Die Sprachpatrioten gingen von einer engen Rückkopplung zwischen Sprache und Verhaltensnormen aus (vgl. Hundt 2000, S. 405). In der Satzung der Fruchtbringenden Gesellschaft (Neumark 1668, S. 25 f.) ist geschrieben:
[...]
[1] Zitate aus den Originaltexten werden entweder original belassen und kursiv gesetzt oder behutsam der neuen deutschen Rechtschreibung in Orthografie und Interpunktion angepasst.
[2] Mit seiner Deutschen Sprachlehre von 1781 hat Adelung den bis dato erreichten Stand der Wissenschaft so exzellent zusammengefasst und weiterentwickelt, dass sich die weitere Forschung im 19. Jahrhundert auf ihn und kaum mehr auf seine Vorgänger berief (vgl. Polenz 1994, S. 164).
[3] Wenn von Deutschland die Rede ist, sind damit die deutschsprachigen Kleinstaaten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gemeint. Das umfasst sowohl Kurfürstentümer wie Bayern, Herzogtümer wie Württemberg als auch Fürstentümer wie Anhalt-Köthen oder freie Reichsstädte wie Heilbronn. Dazu kommen noch zahlreiche geistliche Gebiete.
[4] Es steht fest, „dass die Fruchtbringende Gesellschaft noch vor der Sprachreinigung oder Sprachpflege die Ausbildung und Pflege der ‚Tugend’ (bzw. ‚Tugenden’) sich zum Ziel gesetzt hatte. Auch andere Sprachgesellschaften verlangten von ihren Mitgliedern beides: Pflege der Tugenden und der Sprache. Was mit ‚Tugend’ jeweils gemeint war und in welchem gegenseitigen Verhältnis man sich Tugendpflege und Sprachpflege dachte, ist allerdings für das 17. Jahrhundert nicht einheitlich zu beantworten“ (Blume 1991, S. 612). Die Verbindung von Sprache, Sitte und Tugend wird hier deutlich.
[5] In der Gründungssatzung (Neumark 1668, S. 12 f.) steht unter Berufung auf Caspar von Teutleben, der den Vorschlag zur Gründung einer Sprachgesellschaft nach italienischen Vorbild aussprach, dass „ bei dem bluttriefenden Kriegsjammer unsere edle Muttersprache, welche so wohl an Alter, schönen und zierlichen Reden als auch an Überfluss eigentlicher und wohlbedeutlicher Wörter, so jede Sachen besser als die Fremde recht zu verstehen geben können, einen nicht geringen Vorzug hat, welche, sag ich, uns ganz rein in der ersten Milch gleichsam eingeträufelt, nachmals aber durch fremdes Wortgepräng wässerig und versalzen worden, hinwieder in ihre uralte gewöhnliche und angeborne Teutsche Reinheit, Zierde und Aufnehmen eingeführet, einträchtig fortgesetzet, von dem fremd-druckenden Sprachenjoch befreiet, durch alte und neue Kunstwörter befestiget und also endlich in den glorwürdigsten Ehrenthron versetzet werden möchte “ (Neumark 1668, S. 13).