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Empowerment durch Mikrokredite als Wundermittel gegen Armut? Foucault und die „Subprimekrise“ in Indien

©2013 Bachelorarbeit 57 Seiten

Zusammenfassung

In dieser Arbeit wird zuerst eine vertiefende Einführung in Foucaults spätere Konzepte von Macht (wie Bio-Macht, Panoptismus, Gouvernmentalität u.a.) gegeben, welche als Analyserahmen dienen, um das Modell der Mikrokredite zu untersuchen, mit dem Fallbeispiel Indien.

Es soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern ein ökonomisches Modell, wie das der Mikrofinanzierung, eine Strategie für das komplexe Konzept von Frauen-Empowerment darstellt und ob es als solches über eine wirtschaftliche Besserstellung hinausgehen und längerfristig Machtbeziehungen umformen kann.

Die Sekundärfragen der Arbeit lauten: Kam es zu einer „Finanzialisierung des Alltags“ und zu einer „Feminisierung der Armut “ statt zu Empowerment und Armutsreduktion? Werden die erklärten Ziele der Armutsreduktion und des Empowerment durch marktstrategische Interessen in den Schatten gestellt? Unterliegen Mikrokredite also grundlegenden Funktionen kapitalistischer Verwertungslogik und können sie herrschende Verhältnisse, Ursachen von Armut und Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands hinterfragen und ändern? Mein Ziel ist nicht, Mikrofinanzierung per se als gut oder schlecht zu befinden, sondern ihrem Potential für Empowerment und ihren Implikationen im Bezug auf Armutsreduktion nachzugehen.

In erster Linie sollen jene Machtbeziehungen freigelegt werden, die in diesem Kontext Wissen und Wahrheiten produzieren um so herauszufinden, welche Mechanismen hemmend oder fördernd wirken, wie sie funktionieren, zwischen wem, wie und wo sie wirken und zu welchem Zweck sie ablaufen, sowie welche Subjekte und Wirklichkeiten sie produzieren. Zentral dafür ist ein Verständnis von Macht an sich. Darum scheint Foucaults Machtbegriff, wie er ihn in seiner genealogischen Phase entwickelte, als wertvoller theoretischer Bezugsrahmen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Begriffsbestimmungen
Armut
Entwicklung: Entwicklungstheorien im Wandel

1 Einleitung
1.1 Fragestellung und Ziel der Arbeit

2 Foucaults Konzept von Macht
2.1 Disziplinarmacht
2.2 Panoptismus
2.3 Disziplinargesellschaft
2.4 Bio-Macht und Sexualitätsdispositiv
2.4.1 Bio-Macht
2.4.2 Sexualitätsdispositiv
2.5 Gouvernmentalität
2.6 Zusammenfassung Macht

3 Frauen Empowerment durch Mikrokredite
3.1 Die Geschichte des (Mikro)-Kredits
3.2 Die „Entdeckung der Frauen“
3.3 Polarisierung im Entwicklungskontext
3.4 Entwicklungspolitischer und ökonomischer Wandel im historischen Kontext
3.4.1 Bedeutungsgewinn der NGOs als Entwicklungsagenten
3.5 Veränderungen im Entwicklungsdispositiv
3.6 Empowerment: Die Problematik des Empowerment-Konzepts
3.6.1 Verschiedene Machtansätze
3.6.2 Was also ist Empowerment?
3.6.3 Bedeutungsverschiebung im Entwicklungsdiskurs
3.7 Das Konzept der Mikrokredite
3.7.1 Das Grameen Modell
3.7.2 Disziplinierung durch Kredite – eine panoptische Machttechnologie
3.7.3 Empowerment durch Mikrokredite: Konzeptueller Rahmen

4 Der Mikrofinanz-Boom: Ein Makrophänomen mit Auswirkungen auf die Mikroebene Fallbeispiel Indien

5 Zusammenfassung der kritischen Gesichtspunkte

6 Fazit

Bibliographie

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieserLeseprobenichtenthalten

Begriffsbestimmungen

Armut

Wenn ich mich in meiner Arbeit auf den Begriff Armut beziehe, meine ich eine Situation, welche über eine Abwesenheit von Geld und Finanzdienstleistungen hinausgeht. Es handelt sich um einen relationalen Begriff, dessen Inhalt sich mit der historischen Entwicklung von Gesellschaften verändert und nicht auf Einkommen und materielle Güter beschränkt ist. Armut wird als soziales und kulturelles Phänomen, das geringe Bildungschancen und den (Selbst-) Ausschluss von politischer Partizipation ebenso umfasst, wie den Mangel an reichen sozialen Beziehungen (vgl. Dörre, 2010: 39).

Entwicklung: Entwicklungstheorien im Wandel

Die Begriffe Entwicklung, Entwicklungsländer, Entwicklungspolitik und Entwicklungshilfe werden häufig unterschiedlich ausgelegt und sind Teil stark normativ akzentuierter wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Vor allem geht es um eine Stigmatisierung, wie sie etwa in der - begrifflichen Entwicklungslinie rückständige – unterentwickelte – nicht entwickelte – Entwicklungsländer zum Ausdruck kommt. In der entwicklungstheoretischen Diskussion lassen sich zwar über die Zeit Akzentverschiebungen und begrenzte Lerneffekte beobachten, aber durchgängig konkurrieren zwei Grundansätze, auf die sich die Vielzahl ausdifferenzierter Einzelansätze stark vereinfachend reduzieren lässt: Modernisierungs- und Dependenzansätze (vgl. Andersen, 2008: 79). Um diese normativen Zuschreibung zu umgehen, werde ich in meiner Arbeit die Begriffe „globaler Süden“ (ehemals als Entwicklungsländer bezeichnet) und „globaler Norden“ (Industrienationen) verwenden.

Anmerkung: Einige Anglizismen werden in dieser Arbeit beibehalten, da eine deutsche Übersetzung meiner Meinung nach nicht möglich ist, ohne den ursprünglichen Sinn zu verlieren oder aber weil mehrere Übersetzungen möglich wären.

1 Einleitung

„Empowering women is smart economics“ (President Robert Zoellick, Weltbank) (OECD, 2012)

Frauen machen 50 Prozent der Weltbevölkerung aus, sind am formellen globalen Arbeitsmarkt aber unterrepräsentiert. Die Weltbank sieht in dieser Kluft ein großes ökonomisches Potential um Jobs zu kreieren, die Wirtschaft anzukurbeln und sogar Krisen zu überwinden. Also sollen die „unsichtbaren Frauen“ als „ungenutzte Ressource“ in die Entwicklung integriert werden. Außerdem ist Gendergerechtigkeit und Frauenermächtigung als Ziel in der Millennium Declaration definiert worden: „to promote gender equality and the empowerment of women as effective ways to combat poverty, hunger and disease and to stimulate development that is truly sustainable“. (MDG: Paragraph 20, 2000)

Die ökonomische Ermächtigung der Frau wurde also ins Zentrum des Entwicklungsdiskurses gerückt. Das Modell der Mikrofinanzierung (MF) kam diesem Ziel nicht nur entgegen, sondern wurde explizit als „die“ Strategie für Empowerment und Armutsbekämpfung beworben: Mikrofinanzierung soll Frauen ökonomisch unabhängig machen, indem sie Zugang zu Kapital und finanziellen Ressourcen erhalten. Ökonomische Unabhängigkeit soll zu mehr Verhandlungsmacht der Frauen im eigenen Haushalt und ihren Communities führen, und im Weiteren zu mehr Prestige und Selbstwertgefühl. So würde also eine Serie von „virtuous spirals“ ökonomischen, sozialem und politischen Empowerment und gesteigerten Wohlergehens induziert werden (vgl. Mayoux, 2000: 3; Kulkarni, 2011).

1.1 Fragestellung und Ziel der Arbeit

In der vorliegenden Bachelorarbeit möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern ein ökonomisches Modell, wie das der Mikrofinanzierung, eine Strategie für das komplexe Konzept von Frauen-Empowerment darstellt und ob es als solches über eine wirtschaftliche Besserstellung hinausgehen und längerfristig Machtbeziehungen umformen kann, unter gleichzeitiger Berücksichtigung der heterogenen soziokulturellen Realitäten von Frauen.

Die Sekundärfragen der Arbeit lauten: Kam es zu einer „Finanzialisierung des Alltags“ und zu einer „Feminisierung der Armut[1] “ statt zu Empowerment und Armutsreduktion? Werden die erklärten Ziele der Armutsreduktion und des Empowerment durch marktstrategische Interessen in den Schatten gestellt? Unterliegen Mikrokredite also grundlegenden Funktionen kapitalistischer Verwertungslogik und können sie herrschende Verhältnisse, Ursachen von Armut und Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands hinterfragen und ändern? Mein Ziel ist nicht, Mikrofinanzierung per se als gut oder schlecht zu befinden, sondern ihrem Potential für Empowerment und ihren Implikationen im Bezug auf Armutsreduktion nachzugehen.

In erster Linie möchte ich jene Machtbeziehungen freilegen, die in diesem Kontext Wissen und Wahrheiten produzieren und so herausfinden, welche Mechanismen hemmend oder fördernd wirken, wie sie funktionieren, zwischen wem, wie und wo sie wirken und zu welchem Zweck sie ablaufen, sowie welche Subjekte und Wirklichkeiten sie produzieren. Zentral dafür ist ein Verständnis von Macht an sich. Darum werde ich mich theoretisch auf den Machtbegriff Foucaults beziehen, wie er ihn in seiner genealogischen Phase entwickelte, und als Analyserahmen heranziehen. Da sein Werk heterogen und fragmentiert ist, habe ich auch Vorlesungen, Interviews und Sekundärliteratur zu seinen, für mich relevanten, Hauptwerken Überwachen und Strafen und Sexualität und Wahrheit, herangezogen, um sein Konzept so gut wie möglich erfassen zu können. Dieses werde ich Eingangs vorstellen um darauf aufbauen zu können und um Begriffe, die ich verwenden werde, zu definieren.

Da das Konzept der Mikrokredite, sowie jenes des Empowerment nicht als alleinstehende Phänomene betrachtet werden können, werde ich diese in einen geschichtlichen und entwicklungspolitischen Kontext einbetten und den Fokus auf das politische, institutionelle und ökonomische Umfeld, in welchem die Ideen entstanden und sich etablierten richten, um die nicht offenkundigen Entwicklungen diesbezüglich aufzuzeigen. Im darauffolgenden werde ich das Konzept der Mikrokredite und das des Empowerment vorstellen, und darauf aufbauend einen konzeptionellen Rahmen, in welchem die Idee von Empowerment durch Mikrokredite sich bewegt, zeichnen. Als Fallbeispiel ziehe ich Indien heran, da hier seit der Liberalisierung des Finanzmarktes 1991 mehr als 3000 kommerzielle Mikrofinanzinstitute (MFIs) entstanden sind. Es scheint mir ein gutes Beispiel zu sein, um die möglichen Auswirkungen dieser Entwicklungsstrategie zu veranschaulichen und Rückschlüsse für meine Analyse zu ziehen. Um ein umfassendes Bild zu erhalten, habe ich versucht, möglichst viel verschiedene Literatur heranzuziehen, die unterschiedliche Auffassungen zu dem Thema vertritt und verschiedene Sichtweisen eröffnet. Studien, Analysen und Konzepte unterscheiden sich teilweise sehr in ihrem Fokus, ihren grundlegenden Ansichten und ihren Schlussfolgerungen, je nach Ziel, Methode und Interesse der WissenschaftlerInnen.

2 Foucaults Konzept von Macht

„Es ist unmöglich, die Entwicklung eines wissenschaftlichen Wissens zu begreifen, ohne die Veränderungen der Machtmechanismen einzubeziehen. Der typische Fall wäre der der Ökonomie.“ (Foucault, 2005: 146)

Um das Konzept von Empowerment durch Mikrokredite diskutieren und verstehen zu können, scheint es mir wichtig den Fokus auf jene Sphäre zu richten, in welcher Machtbeziehungen und Macht an sich behandelt werden. Somit soll eine Definition von Macht gegeben werden, welche als Basis für ein breiteres Verständnis dieses Entwicklungskonzeptes einerseits, und als Rahmen zur Analyse von Machtbeziehungen andererseits fungiert.

Dabei werde ich mich auf den Machtbegriff Foucaults konzentrieren, wie er ihn in seiner genealogischen Phase entwickelte, und der die rein diskursanalytische Archäologie erweitert. Vorrausschickend möchte ich jedoch anmerken, dass Foucaults Werk heterogen und vielfältig ist und ich daher nicht beanspruchen kann, eine geschlossene Machttheorie beschreiben zu können. Ich werde jedoch versuchen, seinen Machtbegriff möglichst umfassend und adäquat darzustellen.

Einleitend ist es wichtig festzuhalten, dass es Foucault in erster Linie nicht darum geht, eine Theorie der Macht zu beschreiben, sondern vielmehr um eine Analyse der Machtverhältnisse und die Offenlegung ihrer Funktionsweisen. “My objective, instead, has been to create a history of the different modes by which, in our culture, human beings are made subjects.“ (Foucault, 1983: 208) Dieser Anspruch ist es, warum ich gerade Foucaults Begriff von Macht für meine Arbeit als produktiv erachte. Die Fragen lauten demnach wo, zwischen wem, auf welche Weise und zu welchem Zweck Machtmechanismen ablaufen. Mit den Werken Überwachen und Strafen (1975) und in dem ersten Band von Sexualität und Wahrheit (1976) weitete er seine Untersuchungen über das Wissen durch Einbeziehung der Macht aus, und denkt beide Begriffe zusammen. Dabei übernimmt er Nietzsches Haltung und fragt nach der intrinsischen Verbindung zwischen der Produktion von Macht und Wissen sowie nach der Herkunft und Konstitution des modernen Subjekts (vgl. Lemke, 2001: 108).

In Überwachen und Strafen beschreibt Foucault, wie sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein neuer Machttypus etabliert. Die Praxis der körperlichen Marter von Gefangenen wurde durch strenge Überwachung mittels Gefängnisregeln ersetzt. „Discipline and Punish marks a new stage. Even a thing like a prison is seen as an environmental formation (the prison environment) and a form of content (where the content is the prisoner).“ (Deleuze, 1988: 31) Diese Transformation interpretiert er nicht als eine Humanisierung der Bestrafung sondern als Ökonomie von Macht. Dieser Wandel bedeutet die Implementierung einer neuen Machttechnologie welche er Disziplinarmacht nennt (vgl. Sadan, 2004: 55; Foucault, 2008). Dem Terminus inhärent sind sowohl die (strafende) Disziplinierung als auch die (Wissens-) Disziplinen.

Im Folgenden werde ich genauer auf die Techniken der Disziplinarmacht, des Panoptismus und der Normalisierungsmacht eingehen, sowie auf die Bio-Macht, das Sexualitätsdispositiv und den Gouvernmentalitätsbegriff.

2.1 Disziplinarmacht

Prinzipiell ist die Disziplinarmacht eine Mikro-Macht, welche auf Körper und Individuen und deren räumliche Verteilung zielt (vgl. Knipp, o.J.: 2; Foucault, 2008).

Die Mechanismen, die Disziplinarmacht hervorbringt und durch die sie operiert, sind:

Die hierarchische Überwachung: Die Fähigkeit der AufseherInnen alles mit einem Blick zu überwachen (vgl. Sadan, 2004: 55). Die Überwachung beruht zwar auf Individuen, wirkt aber wie ein „Beziehungsnetz“ in alle Richtungen: von oben nach unten, von unten nach oben und nach den Seiten. Das Netz „hält“ und durchsetzt „das Ganze“ mit Machtwirkungen, „die sich gegenseitig stützen: pausenlos überwachte Überwacher. […] Macht [ist] […] keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt; sondern eine Maschinerie, die funktioniert.“ (Foucault, 2008: 882) Die Disziplinargewalt erhält so eine ökonomische Funktion welche auf die jeweilige Institution zugeschnitten ist, und wird so zu einer „vielfältigen, autonomen und anonymen Gewalt.“ (ebd.)

Die normierende Sanktion: Die Fähigkeit zu entscheiden, wer normal ist und wer nicht, und jene zu bestrafen, welche die Norm verletzen. Sie ist eine „Mikro-Justiz“ die fast alle Lebensbereiche erfasst. Individuen werden in einer „Mikro-Ökonomie [der] pausenlosen Justiz“ (ebd.: 886) differenziert und bewertet und dadurch an der Norm ausgerichtet und an sie angeglichen.

Die Prüfung: Die prüfende Beobachtung der Menschen und die Beurteilung ob sie der Norm entsprechen. Dieser Mechanismus macht wissenschaftliche Forschung möglich. Er macht Gebrauch von der hierarchischen Observation und benützt Wissenschaft um Standards von Normalität in allen Sphären des Lebens zu bestimmen (vgl. Sadan, 2004: 55f).

Durch diese Mechanismen wird der Macht-Wissen Komplex vervollständigt. Das Wissen, welches aus wissenschaftlichen Untersuchung und Bewertung fließt, wird weitergeleitet um Normalitätsstandards in allen Sphären des Lebens zu etablieren, und berechtigt die Gesellschaft (mit ihren Institutionen und ihrem Regime), Gesetze zur Durchsetzung dieser Standards zu erlassen. Dadurch wird die Überwachung aller BürgerInnen der Disziplinargesellschaft ermöglicht, um so Abweichungen von diesen Gesetzen verhindern zu können (vgl. ebd.: 56). Macht und Wissen bedingen und steigern sich also gegenseitig: Machtmechanismen bringen Wissen hervor, welches wiederum die Wirksamkeit der selbigen erhöht.

Die Disziplinarmacht ist eine alltägliche Machttechnologie, welche in allen Institutionen in denen Körperdisziplin (wie in Schulen, im Militär, im Strafvollzug, etc.) präsent ist, ist also eine Machtform, welche durch Normierung und Normalisierung die Körper einerseits besetzt und andererseits produziert. Sie soll ihre Effizienz steigern und Widerstandspotential minimieren. Macht unterdrückt somit nicht nur, sondern produziert auch - wird also positiv (vgl. Knipp, o.J.: 2). Mit den Worten Deleuzes: „there is a human technology which exists before a material technology.“ (Deleuze, 1988: 39)

2.2 Panoptismus

Das Panopticon ist ursprünglich ein Konzept von dem britischen Philosophen Jeremy Bentham (1785) zum Bau von Haftanstalten (und anderen Institutionen der modernen Gesellschaft), welches die gleichzeitige Überwachung aller Insassen durch einEn einzelnEn ÜberwacherIn ermöglicht, ohne dass diese wissen, wann und ob sie gerade beobachtet werden. Das Panopticon besitzt an der Peripherie ein ringförmiges, in Zellen unterteiltes Gebäude und in der Mitte einen Turm, von dem aus man alles überschauen kann. Foucault sieht dieses Ordnungsprinzip als ein Wesen der Disziplinargesellschaft und entwickelt in Anlehnung daran seinen Begriff des Panoptismus (vgl. Foucault, 2008: 905).

Durch die räumliche Anordnung der einzelnen Individuen wird ein permanenter und bewusster Sichtbarkeitszustand der Gefangenen erzeugt, der sich auf ihr Verhalten auswirkt. Die „Sichtbarkeit wird zur Falle“. Die Demonstration der Übermacht des Souveräns wird obsolet, da es eine Maschine gibt, die Unterschiede, Asymmetrien und ein Gefälle gewährleistet. Daraus ergibt sich, dass es wenig Bedeutung hat, wer die Macht ausübt - jedes beliebige Individuum kann im Turm sitzen und die Maschine am Laufen halten. Dadurch wird Macht automatisiert und endindividualisiert. Sie wird unkörperlich und geht von einer physischen in eine psychische Ausübung über. Durch diese Internalisierung des Machtverhältnisses wird der/die Unterworfene zum „Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“. Außerdem ist das Panopticon ein „Laboratorium“ der Macht, eine „Maschine für Experimente zur Veränderung des Verhaltens, zur Dressur und Korrektur von Individuen.“ (ebd.: 908 f) Die moderne Macht besetzt die Köpfe und Körper der freien und disziplinierten Individuen und spinnt somit ein Netz, in dem jeder gefangen ist.

Zusammengefasst ist Panoptismus das perfekte Beispiel einer politischen Körpertechnologie, da es die Etablierung und Auferlegung von Rechten und Pflichten ermöglicht (vgl. Dreyfus & Rabinow, 1983: 192). Die letzte Komponente im Panoptismus ist die Verbindung zwischen Körpern, Raum, Macht und Wissen. Durch seine Funktionen der hierarchischen Überwachung, der normierenden Sanktion und der Prüfung wirkt der Panoptismus in die verstecktesten Winkel der Lebens- und Gefühlswelten sowie Identitäten. Er ist eine neue Form durchgehender und kontinuierlicher Verwaltung und Kontrolle des alltäglichen Lebens. Diese Machttechnologie ist also ein Typ von Macht, eine „Physik“ oder eine „Anatomie“ der Macht und dient als pragmatisches Beispiel einer Disziplinartechnologie - welche eine Disziplinargesellschaft hervorbringt (vgl. ebd.: 922).

Im Folgenden werde ich nun genauer auf den Begriff der Disziplinargesellschaft eingehen.

2.3 Disziplinargesellschaft

„Die Formierung [dieser] Disziplinargesellschaft vollzieht sich innerhalb breiter historischer Prozesse, die ökonomischer, rechtlich-politischer und wissenschaftlicher Art sind.“ (Foucault 2008: 924) Im Zusammenspiel von klassifizierenden Diskursen – vor allem medizinischen und rechtlichen- und einer Unterwerfung der Individuen, werden diese durchschaubar und kontrollierbar gemacht.

Allgemein gesagt sind Disziplinen Ordnungstechniken, die versuchen eine Machttaktik zu definieren, die drei Kriterien entspricht, welche auch die Hauptmerkmale des Panoptismus sind: die Machtausübung soll möglichst wenige Kosten verursachen und möglichst effizient sein; die Wirkung der gesellschaftlichen Macht soll möglichst intensiv und weitläufig sein; und schließlich soll sich die „ökonomische“ Steigerung der Macht mit der Leistungsfähigkeit der Apparate verbinden, innerhalb derer sie ausgeübt wird. Diese Machtmechanismen wirken durch Wertschöpfung und folgen dem Prinzip der Milde/Produktion/Profit. Es geht also um die gleichzeitige Steigerung der Fügsamkeit und Nützlichkeit aller Elemente des Systems (vgl. ebd.: 924 f).

Das Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft hat die Eigenart der Disziplinargewalt hervorgerufen, deren allgemeine Formeln, deren Prozeduren zur Unterwerfung der Kräfte und der Körper, deren ´politische Anatomie´ in sehr unterschiedlichen politischen Regimen, Apparaten oder Institutionen eingesetzt werden können.“ (ebd.: 928)

Die „Verstaatlichung der Disziplinarmechanismen“ im klassischen Zeitalter sowie das Aufkommen des Kapitalismus spielten für die Durchsetzung der neuen Machtformen eine wesentliche Rolle.

Die elementare, technisch-materielle Ebene der panoptischen Macht ist zwar nicht direkt von den großen rechtlichen Strukturen einer Gesellschaft abhängig, darf nach Foucault aber auch nicht als gänzlich unabhängig davon gesehen werden. Der Panoptismus arbeitete an den Rechtsstrukturen von unten her und lässt die Machtmechanismen im Gegensatz zu ihren formellen Rahmen wirken (vgl. Foucault, 2008: 928).

Die Ausweitung der Disziplinarverfahren ist in einen breiten historischen Prozess eingeschrieben. Wissen und Machtsteigerung verstärken sich dabei gegenseitig in einem geregelten Prozess. Spitäler, Schulen etc. sind zu Apparaten geworden, die als Subjektivierungs-/Unterwerfungsinstrumente fungieren. Hier werden unerwünschte Eigenschaften unterdrückt und erwünschte modelliert und somit Individuen produziert (vgl. ebd.: 930 ff).

Die äußerste Verdichtung produktiver Macht enthält für Foucault das „Kerkersystem“, welches Bestrafungstechniken in die harmlosesten Disziplinen einführt und Individuen an der allgemeinen Norm der Industriegesellschaft ausrichten will (vgl. Foucault, 2005: 167, 1014 f).

2.4 Bio-Macht und Sexualitätsdispositiv

2.4.1 Bio-Macht

Die „Bio-Macht“ stellt eine Art Gegenkonzept zu der psychoanalytisch-marxistischen „Repressionshypothese“ dar, welche davon ausgeht, dass es im 17. Jahrhundert noch eine völlige Freiheit in Bezug auf den Sex gegeben hätte („radschlagende Körper“), es im 19. Jahrhundert aber mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Veränderung des freizügigen Diskurses gekommen wäre („die monotonen Nächte des viktorianischen Bürgertums“). Foucault will nicht behaupten, dass es keine Unterdrückung der Sexualität gegeben hat, sondern dass in der abendländischen Zivilisation Sexualität so wichtig geworden ist, dass sie ständig problematisiert wird und so eine „Diskursivierung“ des Sexes stattgefunden hat: es bildete sich ein „neues Regime der Diskurse“ (vgl. Foucault, 2008:1029, 1048).

Im Gegensatz zur Disziplinarmacht, welche eine Mikromacht ist, verkörpert die Bio-Macht eine nicht-disziplinäre Makromacht, die global auf Bevölkerungen wirkt und deren Gegenstand und Ziel das Leben ist (vgl. Foucault, 1976: 7 ff). Ihr Ziel ist die Regulierung der Bevölkerung, insbesondere durch Regulierung der Fortpflanzung, der Geburten- und Sterblichkeitsrate, des Gesundheitsniveaus und der Wohnverhältnisse etc. Wachstum und Gesundheit der Bevölkerung werden zu zentralen Anliegen des Staates, der eine neue politische Rationalität entwickelt – eine „Bio-Politik“, die das Leben zunehmend verstaatlicht (vgl. ebd.: 6 f). Die Bio-Macht war laut Foucault sicher ein unerlässliches Element bei der Entwicklung des Kapitalismus, der Körper in Produktionsapparate integrierte und Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse anpasste sowie die Bevölkerung als Reichtum und als Arbeitskraft identifizierte (vgl. Foucault, 2008: 1135, 1046 f).

Es geht also darum, das Leben zu optimieren indem Disziplinarmechanismen errichtet werden, welche gelehrige Körper produzieren, verwalten und manipulieren um das Leben rechnerisch planen zu können. Diese verbinden sich mit regulatorischen Mechanismen, welche auf die Bevölkerung wirken, Haltungen des Sparens hervorbringen und Druck auf Hygieneregeln, Schulpflicht oder Konsum ausüben (vgl. ebd.).

2.4.2 Sexualitätsdispositiv

Prinzipiell versteht Foucault unter Dispositiv alle diskursiven, aber auch nicht-diskursiven Strategien oder Praktiken innerhalb eines Macht-Wissens-Komplexes. Für ihn stellen Institutionen nicht-diskursive Verhaltensweisen dar, da sie in der Gesellschaft als Zwangssystem funktioniert und keine Aussage sind. Alle Elemente eines Dispositivs, wie zum Beispiel eben Institutionen, Diskurse, wissenschaftliche Aussagen, Moral, philanthropische Thesen etc. sind zu einem Netz geknüpft. Dieses selbst ist das Dispositiv (vgl. Breifuß, o.J.: 6 ff).

Foucaults These ist, im Gegensatz zur Repressionshypothese, zu einer beispiellosen Intensivierung kam, über Sex zu diskutieren, zu schreiben und zu denken. Dieser Diskurs gab dem Sex einen ungehörig mächtigen Antrieb, durch welchen die Bio-Macht ihr Netz bis in die „kleinsten Zuckungen des Körpers“ und die letzten Winkel der Seele spinnen konnte. Dies wurde durch die Konstruktion spezifischer Technologien ermöglicht. Mittels des Sexualitätsdispositivs wurden die Elemente Körper, Wissen, Diskurs und Macht zusammengeführt, wobei grob gesprochen diese Technologie vorrangig ein Instrument der Bourgeoisie war, um die ausgebeuteten Klassen zu kontrollieren (vgl. Dreyfus & Rabinow, 1983: 168 f; Foucault, 2008: 1125) Durch “wissenschaftliche” Durchbrüche wurde Sexualität mit einer Form von Wissen verknüpft und konnte eine Verbindung zwischen dem Individuum, der Gruppe, Inhalt und Kontrolle werden (vgl. Dreyfus & Rabinow, 1983: 168 f). Generell geht es Foucault hierbei um die Frage der ganz unmittelbaren, lokalen Machtbeziehungen welche an Wahrheitsproduktion, also Diskursivierung, gekoppelt sind. Es soll „die krebsartig wuchernde Produktion von Diskursen über den Sex in ein Feld vielfältiger und beweglicher Machtbeziehungen getaucht werden.“ (ebd.: 1102)

Foucault definiert vier Bereiche, in denen sich spezifische Wissens- und Machtdispositive um den Sex entfalten. Einer davon ist die Hysterisierung des weiblichen Körpers: Der weibliche Körper wurde in ein Feld medizinischer Praktiken integriert und schließlich in „organische Verbindung mit dem Gesellschaftskörper (dessen Fruchtbarkeit er regeln und gewährleisten muß), mit dem Raum der Familie (den er als substantielles und funktionierendes Element mittragen muß) und mit den Leben der Kinder“ (das er durch eine biologisch-moralische Erziehung schützen muss) gebracht. Die Familie wird immer mehr zum Ort und Zentrum des Sexualitätsdispositivs (vgl. Foucault 2008: 1110).

2.5 Gouvernmentalität

Aus seinen Untersuchungen der Genealogie von Macht-Wissens-Regimen und der daraus resultierenden Subjektivierung und Bio-Macht ist in seinem Spätwerk der Begriff der „Gouvernmentalität“ entstanden. Gouvernmentalität stellt eine Analysemethode dar, mit der untersucht werden kann, auf welche Weise Herrschaftstechniken mit Technologien des Selbst ineinander greifen. Sie untersucht die gegenseitige Konstituierung von Machttechniken, Wissensformen und Subjektivierungsprozessen. Herrschaftstechniken zielen auf die Bestimmung des individuellen Verhaltens während Selbsttechniken Individuen dazu dienen, ihre persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten so anzunehmen, dass sie ihre persönliche Lebensführung gestalten oder auch verändern können (vgl. Bröckling, Krasmann & Lemke, 2012: 28f). Die neoliberale Regierungsrationalität stellt die Verknüpfung von Herrschaftstechniken und Subjektivierungsprozessen dar. Der Liberalismus "produziert" Freiheit und organisiert die Möglichkeitsbedingungen, in denen die Individuen frei sein können. Gleichzeitig steht diese Freiheit einer permanenten Gefährdung gegenüber, welche zu immer neuen Interventionen legitimiert. Im Neoliberalismus der Chicago-Schule wird der Markt zum organisierenden und regulierenden Prinzip des Staates. Ein begrenztes und äußerliches Prinzip wird durch ein regulatorisches und inneres ersetzt. Die Form des Marktes dient nun als Ordnungsprinzip der Gesellschaft und des Staates (vgl. ebd: 14 f).

2.6 Zusammenfassung Macht

Aus dem oben gesagten, ergibt sich ein Bild von Macht, welches ich nun zusammenfassend skizzieren will.

- Macht steht niemals frei von Wissen.
- Macht hat keinen Mittelpunkt, kein souveränes Zentrum dem sie entspringt und ist nicht etwas, was man erwerben oder teilen kann, sondern ist ein Verhältnis von ungleichen Kräften, die unablässig Machtzustände erzeugen, welche immer lokal, diffus und instabil sind und sich von einem Punkt zum anderen innerhalb eines Gewaltfeldes bewegen.
- Macht ist also allgegenwärtig und überall, da sie von überall kommt.
- Macht ist nicht eine Institution, eine Struktur, ein Besitz einiger weniger Mächtiger sondern der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.
- Macht ist ein auf Handeln gerichtetes Handeln.
- Macht kommt von unten, strahlt also nicht von BeherrscherInnen auf Beherrschte aus sondern bildet sich als vielfältiges Kräfteverhältnis in den Produktionsapparaten, den Familien, einzelnen Gruppen und Institutionen aus, wo sie als Basis für eine weitreichende Spaltung des gesamten Gesellschaftskörpers fungiert. Sie ist also eigentlich multidirektional und operiert in Form von „top-down“ genauso wie „bottom-up“ (vgl. Dreyfus & Rabinow, 1983: 185).
- Niemand kann sich also der Macht-Matrix entziehen.
- Macht wird produktiv wenn sich Disziplinartechnologien in bestimmten Institutionen festsetzen und in ökonomischen, industriellen und wissenschaftlichen Bereichen die Effizienz steigert, indem sie durch Normalisierung und Normierung die Körper der Individuen besetzt (vgl. Sadan, 2004: 58). Außerdem produziert sie Wissen vom Individuum und Diskurse.
- Machtbeziehungen sind beweglich, da eine reine Unterdrückungsfunktion die Macht zerbrechlich macht und nicht akzeptabel für das Individuum ist (vgl. Dreyfus & Rabinow, 1983: 185 ff).
- Somit schließen sich Macht und Freiheit keineswegs aus.
- „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.“ (Foucault, 2008: 1100)
- Machtverhältnisse werden nicht durch eine Ökonomie instrumentalisiert, sondern konstituieren Produktionsverhältnisse durch die Disziplinierung der Menschen. Die Unterwerfung von Zeit und Zyklus der Produktion genauso wie das System der Verschuldung und der lokalen Kontrolle bestimmen und installieren die Lebenszeit als Arbeitszeit.
- Um Macht in ihrer Materialität, ihren täglichen Operationen verstehen zu können, müssen wir das Level der Mikropraktiken untersuchen und die politischen Technologien in denen die Praktiken entstehen.

[...]


[1] Der Begriff “Femininisierung der Armut” wurde erstmals geprägt 1987 von Diana Pearce, einer Gastforscherin auf der Universität von Wisconsin, welche damit das Phänomen in den USA beschrieb, dass zwei Drittel der armen Bevölkerung über 16 Frauen waren. Seitdem wurde dieser Begriff übernommen um dieses Phänomen in Ländern des globalen Südens zu beschreiben (vgl. Friedman, 2005: 3).

Details

Seiten
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783656578574
ISBN (Paperback)
9783656578512
Dateigröße
717 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Wien – Internationale Entwicklung
Erscheinungsdatum
2014 (Januar)
Note
1
Schlagworte
Foucault Macht/Wissen Bio-Macht Gouvernmentalität Disziplinarmacht Panoptismus Mikrokredite Indien Entwicklungspolitik Empowerment
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