Fallbearbeitung aus der schulischen Psychologie. Erklärungshypothesen und pädagogische Unterstützungsmöglichkeiten
Zusammenfassung
Eine Möglichkeit, schulische Leistungsentwicklung von Kindern zu erklären, ist die Analyse von internen und externen Bedingungen. Während zu den internen Faktoren beispielsweise die Intelligenz, die Motivation und das Lernverhalten zählen, spielen bei den externen Faktoren unter anderem die Schichtzugehörigkeit, die Familienstruktur und das elterliches Engagement eine große Rolle. Im Folgenden wird versucht, einige Erklärungshypothesen für J.s schulische Situation aufzustellen, um anschließend anhand pädagogischer Unterstützungsmöglichkeiten aufzuzeigen, wie in J.s Fall zukünftig vorgegangen werden könnte.
2.1 Erklärungshypothese 1: Familiäre Situation
2.2 Erklärungshypothese 2: Vorkenntnisdefizite
2.3 Erklärungshypothese 3: Geringes Fähigkeitsselbstkonzept
2.4 Erklärungshypothese 4: Außenseiterrolle in der Klasse
3. Aufzeigen pädagogischer Unterstützungsmöglichkeiten, um Jessicas häusliche sowie schulische Situation zu verbessern
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Falldarstellung
1.1 Beratungsanlass
1.2 Gespräche
1.2.1 Gespräch mit der Schülerin
1.2.2 Gespräche mit Schülern
1.2.3 Gespräche mit den Eltern
1.3 Informationen von Lehrkräften
1.4 Schulische Dokumente
2. Mögliche Erklärungshypothesen für die schulische Situation
2.1 Erklärungshypothese 1: Familiäre Situation
2.2 Erklärungshypothese 2: Vorkenntnisdefizite
2.3 Erklärungshypothese 3: Geringes Fähigkeitsselbstkonzept
2.4 Erklärungshypothese 4: Außenseiterrolle in der Klasse..
3. Aufzeigen pädagogischer Unterstützungsmöglichkeiten, um häusliche sowie schulische Situation der Schülerin zu verbessern
3.1 Erziehungs-/Familienberatung
3.2 Professioneller Nachhilfeunterricht
3.3 Maßnahmen auf Schul- und Klassenebene: Anti-Mobbing-Arbeit auf Basis des
Gegen Gewalt-Konzepts
3.3.1 Kontaktaufnahme und Erstgespräch
3.3.2 Gespräch mit den Tätern
3.3.3 Beratungsstunde
3.3.4 Nachbesprechung und Abschlussrunde
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Falldarstellung
1.1 Beratungsanlass
Nachdem mittlerweile ein zweiter Elternabend im Schuljahr 2010/11 angesetzt wurde und die Eltern der Schülerin erneut auch nach Beratung durch die Lehrkraft weder gemeinsam noch getrennt erschienen (wie beim ersten Termin), fragte sie die Eltern höflich, ob sie nicht doch einmal in die Sprechstunde kommen wollten, um die schulischen Probleme ihrer Tochter zu besprechen. Schon seit Beginn des Schuljahres ist die Schülerin auffallend still, niemand möchte neben ihr sitzen, was ein Soziogramm durch die Lehrkraft zeigte. Sie wird offensichtlich von ihren Mitschülern/innen gemobbt, da diese in ihrer, sowie in der Gegenwart der Lehrkraft, immer wieder Beleidigungen und Schimpfwörter ihr gegenüber verwenden. Nachdem die Ausgrenzung in der Klasse schlimmer wurde, ihre Noten und zudem auch ihre Mitarbeit zu wünschen übrig ließen, sah die Lehrkraft sich gezwungen, zu handeln, und suchte das Gespräch mit dem Schulleiter.
1.2 Gespräche
1.2.1 Gespräch mit der Schülerin
Die Schülerin suchte leider bisher nicht das Gespräch mit der Lehrkraft über ihre häusliche sowie schulische Situation und die damit verbundenen Probleme. Sie sprach sie aber auf ihre verschlechterten Schulleistungen an. Diesbezüglich antwortete Jessica, ihr falle es momentan schwer, sich zu konzentrieren und der Unterricht mache ihr keinen Spaß. Auf die Frage, ob die Trennung ihrer Eltern ihr zu schaffen mache, und sie deshalb momentan keine guten Noten schreibe, entgegnete sie, sie habe ihre Eltern schon lange nicht mehr glücklich gesehen und sich mit dieser Situation abgefunden. Sie fügte hinzu, dass das, was sie denke und fühle, ebenfalls schon lange keine Rolle mehr spiele. Eine direkte Antwort auf die Frage erhielt die Lehrkraft nicht. Auf weitere Nachfragen sagte die Schülerin, jeder lebe daheim sein Leben und keiner habe viel Zeit für sie. Bei den Hausaufgaben verstehe sie oft die Aufgaben nicht und weil niemand da sei, der ihr helfen würde, lasse sie es aus Angst, etwas falsch zu machen, oft lieber gleich.
1.2.2 Gespräche mit Schülern
Spricht man mit den Mitschülerinnen, sagen diese, ihre Mitschülerin würde einfach nicht in ihre Clique passen oder sie sei „komisch“. Eine Begründung gaben die Sechstklässlerinnen erwartungsgemäß nicht. Sie machten sich lustig über ihr Aussehen und ihre Kleidungsstücke, welche sie oft mehrere Tage trägt. Die männliche Seite der Klasse findet sie eigenen Angaben zufolge, ‚uncool‘. Auch ein Soziogramm, welches die Klassenleitung erstellen ließ, brachte dies zum Ausdruck. Auf die darin gestellte Frage, wen jeder einzelne gern auf seine Geburtstagsparty einladen oder neben wem er gerne sitzen würde, fielen viele Namen, nur kein einziges Mal der von der Schülerin. Offene Beleidigungen ihr gegenüber im Klassenzimmer wurden durch die Lehrkraft nur insofern bemerkt, als dass die Mitschüler sie verbal mit Sprüchen angehen, wie beispielsweise „Ach, du weißt sowieso nichts, dann brauchst du dich auch gar nicht erst melden.“ Auch bei Partner- oder Gruppenarbeiten möchte niemand freiwillig mit ihr zusammenarbeiten, was hin und wieder verbal ausgesprochen wird, wenn jene Schüler/innen ihr zugeteilt werden: ‚,Kann ich nicht bitte lieber mit XY zusammenarbeiten?‘ ohne dabei ihren Namen zu nennen. In der Klasse konnte sie bisher keinen Anschluss finden und wird auch nicht akzeptiert.
1.2.3 Gespräche mit den Eltern
Ein gemeinsames Gespräch mit den Eltern stellt sich als äußerst schwierig heraus, da diese weder telefonisch erreichbar, noch offen für Gespräche sind. Lediglich der Vater kam einmal ohne Begleitung seiner Frau zu einem Termin. Auf die Frage, ob es familiäre Veränderungen gäbe, die zu ihrem verändertem Verhalten hätten führen können, entgegnete der Vater lediglich, dass er und seine Frau sich vor einiger Zeit getrennt hätten, aber er noch nicht ausgezogen sei. Da er als Schichtarbeiter kaum daheim sei, würde er nicht viel mitbekommen. Die schlechten Noten seiner Tochter aber ärgerten ihn, wofür er seine Tochter dann auch zurechtweise. Diese Zurechtweisung äußere sich auch in Form einer „kleinen Ohrfeige“, wenn es mal wieder schlechte Noten hagele. Durch das geführte Gespräch wurde ersichtlich, dass der Vater sich nicht für die Ursachen, die hinter den schlechten Noten stecken könnten, interessiert. Ebenso wenig beschäftigte er sich tiefergehend mit dem Gemütszustand der Tochter. Versuche der Lehrkraft, ihm bewusst zu machen, dass elterliches Interesse und elterliche Unterstützung im Fall von der Schülerin hilfreich wären, um die Notensituation zu verbessern und den häuslichen Druck abzubauen, scheiterten. Der Vater vertritt nach wie vor die Ansicht, dass sie sich eben mehr anstrengen müsse.
1.3 Informationen von Lehrkräften
Da die Lehrkraft die Klasse erst seit diesem Schuljahr unterrichtet, kann sie nicht sagen, ob sie schon immer eine Einzelgängerin war. Aber seit Beginn des Schuljahres war dies der Fall. Da die Klasse eine ungerade Anzahl an Schülern hat und jeder sich einen Banknachbarn aussuchte, blieb einer ohne Sitzpartner. Dies betraf die ruhige besagte Schülerin. Die Lehrkraft versuchte, nachdem sie ihre isolierte Stellung in der Klasse bemerkte, sie zu integrieren, indem sie diese nach ein paar Wochen zur vorlauten, ständig in den Unterricht hereinrufenden Nadine[1] setzte. Sie hoffte dadurch, die beiden einander näher zu bringen und dass die Mädchen sich eventuell doch anfreunden oder einen Draht zueinander finden würden. Darüber hinaus hoffte die Klassenlehrerin, dass so auch Nadine ruhiger würde, wenn sie eine etwas stillere Banknachbarin hätte. Diese Hoffnung wurde jedoch enttäuscht, denn Nadine zog ihr öfters den Stuhl weg, wenn sie sich von der Pause kommend auf ihren Platz setzen wollte, oder schmiss ihr Mäppchen in den Stunden mehrmals wortlos hinunter. Zeitwiese saß die Schülerin neben der integrierten, dennoch ruhigen Schülerin Janine[2]. Doch nach Aussagen der Lehrkraft fehlt diese aufgrund einer chronischen Krankheit häufiger im Unterricht, so dass ihre Mitschülerin in jenen Stunden nach wie vor allein sitzt. Die Lehrkraft aus der fünften Klasse berichtete, die besagte Schülerin war zwar immer schon eine ruhigere Schülerin, jedoch habe sie diese als lebensfroh und oft lachend in Erinnerung. Diese Meinung konnten die Lehrer der jetzigen Jahrgangsstufe nicht teilen. Bezüglich des äußeren Erscheinungsbildes, sagten die Klassenlehrer, sie habe zwar nie Markenkleidung getragen, jedoch fiel den Lehrern kein dauerhaftes Tragen bestimmter Kleidung auf. Ein ungepflegtes Äußeres mit Akne und fettigen Haaren jedoch war gelegentlich schon zu bemerken, was man auf die Pubertät zurückführte.
1.4 Schulische Dokumente
Zeugnisnoten des Abschlusszeugnisses der fünften Klasse
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Noten der Schülerin sind gerade in den Kernfächern Deutsch, Mange, Englisch ausreichend bis mangelhaft, so dass das Erreichen des Klassenziels gefährdet ist. Vor allem in den Lernfächern wie Religion, PCB, GSE oder AWT fallen markante Verschlechterungen verglichen mit den Leistungen des Vorjahres auf.
2. Mögliche Erklärungshypothesen für die schulische Situation
Nach den Informationen der Falldarstellung leidet die Schülerin an einem starken inneren Druck. Diese Art der Anspannung ist vermutlich sehr komplex und wird sowohl durch äußere, als auch innere Faktoren verursacht. Wie sich in vielen Studien herauskristallisiert hat, gibt es keine einheitlichen Faktoren, auf welche man Schulversagen zurückführen könnte. Stattdessen kommen viele „unterschiedliche Bedingungen infrage, die den Schulerfolg gefährden können.“[3] Eine Möglichkeit, schulische Leistungsentwicklung von Kindern zu erklären, ist die Analyse von internen und externen Bedingungen. Während zu den internen Faktoren beispielsweise die Intelligenz, die Motivation und das Lernverhalten zählen, spielen bei den externen Faktoren unter anderem die Schichtzugehörigkeit, die Familienstruktur und das elterliches Engagement eine große Rolle.[4] Im Folgenden wird versucht, einige Erklärungshypothesen für die besagte Schülerin, ich nenne sie Jessica[5], und für ihre schulische Situation aufzustellen, um anschließend anhand pädagogischer Unterstützungsmöglichkeiten aufzuzeigen, wie in Jessicas Fall zukünftig vorgegangen werden könnte.
2.1 Erklärungshypothese 1: Familiäre Situation
Jessicas Schulleistungen sind durch die schwierige familiäre Situation bedingt, insbesondere durch die zu geringe häusliche Unterstützung. Helmke und Weinert versuchten in einer Studie Prozessmerkmale des Elternverhaltens, die für die Entwicklung von Schulleistung von Bedeutung sind, zu klassifizieren. Demnach lassen sich vier Funktionen des Elternverhaltens unterscheiden, die für die Schulleistungsentwicklung von Kindern entscheidend sind: Diese sind die Stimulation, die Instruktion, die Motivation und die Imitation. Unter Stimulation versteht man die Schaffung einer anregenden, familiären sowie materiellen Lernumwelt mit gemeinsamen familiären Aktivitäten. Instruktion umfasst alle „unmittelbar schul- und leistungsbezogenen Maßnahmen und direkte Interventionen […], die direkt oder indirekt auf eine kognitive Förderung durch Unterweisung, Korrektur, Unterricht und Training hinauslaufen“[6], wie beispielsweise Nachhilfeunterricht.
Zudem können die Schulleistungen auch indirekt durch die Eltern beeinflusst werden, indem diese auf die motivationalen und emotionalen Eigenschaften ihrer Kinder Einfluss nehmen, wie zum Beispiel durch das Vermitteln von persönlichen Einstellungen und Überzeugungen.
Zuletzt können die Eltern auch durch das Wahrnehmen der Vorbildfunktion die daraus folgende Imitation des Kindes lenken und dadurch enormen Einfluss auf ihre Kinder nehmen, indem sie über Beobachtungslernen ihr Verhalten auf die Kinder übertragen. Sie dienen ihren Kindern als Vorbild, indem sie ihnen beispielsweise aufzeigen, wie man mit Erfolg und Misserfolg, unterschiedlichen Leistungsanforderungen oder Leistungsangst umgeht.[7]
Was Kinder und Jugendliche in der Schule lernen, hängt folglich in einem hohen und oft unterschätzten Ausmaß von externen Bedingungen ab, nämlich beispielsweise, wie die Eltern schulisches Lernen indirekt oder direkt unterstützen oder behindern. Leider ist vielen Eltern nicht bewusst, dass ein großer Teil der Lernvoraussetzungen des Schülers durch die Qualität der familiären Lernbedingungen bestimmt ist. Unter diesem Aspekt, nämlich, dass sich die Entwicklung der Schülerpersönlichkeit von unterschiedlichen sozialen Entwicklungsumwelten beeinflussen lässt, die zudem miteinander interagieren können, wird Folgendes deutlich: „[F]amiliäre Unterstützung [bietet] Schutz vor negativen Schuleinflüssen und verhindert, da[ss] negative schulische Leistungsbewertungen Prüfungsangst und ungünstige Selbstbewertungen […] nach sich ziehen“[8] und somit „[u]nterstützendes Verhalten seitens der Eltern positiv mit dem allgemeinen Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen korreliert.“[9]
Die Eltern-Kind-Bindung sowie die elterliche Unterstützung, die die Kinder erhalten oder die ihnen versagt wird, spielt für die Schulleistung ebenso eine große Rolle. Bekannt ist, dass ein
„durch emotionale Kälte, Ablehnung und übermäßige Strenge charakterisierter Erziehungsstil, aber auch unsicheres oder gar inkonsistentes Verhalten der Eltern das Lernen in der Schule eher belasten als fördern. Ähnliches gilt für eine zu geringe Zuwendung bei Zeitmangel oder Desinteresse der Eltern. Kinder, die nur geringe Unterstützung durch ihre Eltern erleben, zeigen ein beeinträchtigendes Selbstwertgefühl [wie in Punkt 2.2 bereits geschildert].“[10]
[...]
[1] Name geändert
[2] Name geändert
[3] Klauer, Karl J.: Leistungsversagen in der Schule. In: Hasselhorn, Marcus; Schneider, Wolfgang
(Hrsg.): Handbuch der Pädagogischen Psychologie. Hogrefe: Göttingen 2008, S. 655.
[4] Pekrun, Reinhard; Helmke, Andreas: Schule und Persönlichkeitsentwicklung. Theoretische Perspektiven und Forschungsstand. In: Pekrun, R. (Hrsg.): Schule und Persönlichkeitsentwicklung. Ein Resümee der Längsschnittforschung. Stuttgart, Enke, 1991, S. 37.
[5] Name geändert
[6] Helmke, A.;Weinert, F.E.: S. 122.
[7] Vgl ebd.: S. 122f.
[8] Pekrun, R.; Helmke, A.: S. 40.
[9] Pekrun, R.; Helmke, A.: S 46f.
[10] Klauer, K.J.: S. 658.