Sprachentwicklung im Vorschulalter
Eine exemplarische Analyse zweier Sprachstandserhebungen unterschiedlicher Altersgruppen anhand des Instrumentes HAVAS 5
Zusammenfassung
Die Frage nach einer „normalen“, störungsfreien Sprachaneignung eines Kindes interessiert neben den Eltern auch diejenigen Institutionen und ihre Vertreter, die die Kinder in diesem Verlauf unterstützen. Die Verantwortung den Prozess der Sprachaneignung zu überwachen und bei Bedarf zu fördern, liegt letztlich in der Verantwortung des Staates (vgl. Ehlich, 2009: 16). Die Umsetzung dieser Verantwortung wird zunehmend in Form von institutionalisierten Verfahren umgesetzt, die den individuellen Sprachstand eines Kindes zum Zwecke des Vergleichens, sowie dem Fördern messen sollen. Diese Messungen werden zunehmend nicht nur für die Schulzeit, sondern auch für frühere Lebensalter heran gezogen (vgl. ebd.). „Die Befassung mit der kindlichen Sprachaneignung hat unterschiedliche Konjunkturen“ (ebd.: 17), gegenwärtig scheint das Interesse stetig anzusteigen, so dass gerade zu von einer Inflation unterschiedlicher Verfahren zur Sprachstandsmessung gesprochen werden kann (vgl. ebd.).
„Der Trend in den Bundesländern geht zur früheren Einschulung“ (11.09.2009, WELT ONLINE) berichtet WELT ONLINE. Die Idee der früheren Einschulung ist umstritten, da zahlreiche Fakten dagegen sprechen. Der PISA-2000-Bericht des Deutschen PISA-Konsortiums wird vielfach dahingehend interpretiert, dass Früheinschulungen vorteilhaft seien (siehe Baumert u. a. 2001, Tabelle 9.17, Seite 474).
Diese Interpretation ist jedoch fraglich. So beginnen Kinder im Pisa-Siegerland Finnland erst ab dem siebten Geburtstag ihre Schullaufbahn. Dennoch, die Tendenz zur früheren Einschulung scheint zu existieren und bedarf der Reaktionen entsprechender Institutionen. So plädiert mancher für eine Veränderung der Einschulungspraxis. „Wenn die Einschulungstests früher, also schon bei viereinhalb jährigen Kindern, gemacht würden, könnten im letzten Kindergartenjahr diejenigen gefördert werden, die spezifische Defizite in Verarbeitungskompetenzen haben (…)“sagt der Psychologe M. Hasselborn der WELT ONLINE (11.09.2009, WELT ONLINE).
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Sprachentwicklung beim Kind
2.1.1 Vorrausetzungen
2.1.2 Basisqualifikationen
2.1.3 Entwicklungsschritte
2.2 Sprachstand und Sprachaneignung
2.3 Normalitätserwartungen und Normalität
3. HAVAS
Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstands bei Fünfjährigen
3.1 Entstehung
3.2.1 Konzeption
3.2.1 Die Indikatoren
3.2 Erhebung und Auswertung
3.2.1 Erhebung
3.2.2 Auswertung
3.3 Kritik an HAVAS
4 Die Sprachprobenerhebung
4.2 Sampling
4.3 Exemplarische Auswertung und Analysen
4.3.1 Aufgabenbewältigung
4.3.2 Bewältigung der Gesprächssituation
4.3.3 (Verbaler) Wortschatz
4.3.4 Formen und Stellungen des Verbs
4.3.5 Verbindung von Sätzen
4.4 Ergebnisse
4.5 Kritische Reflexion
5 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang:
Sprachprobe 1
Sprachprobe 2
1. Einleitung
Aus der Sicht eines Erwachsenden mag der kindliche Spracherwerb im Vorschulalter im Nachhinein als ein einfacher, sich quasi wie von selbst vollziehender Prozess erscheinen. Diese Sicht würde jedoch jene Tatsache verkennen, dass es sich beim kindlichen Spracherwerb um die komplexeste Aufgabe handelt, die ein Kind in seiner Entwicklung bewältigt (vgl. Dittmann 2010: 9). Die Frage nach einer „normalen“, störungsfreien Sprachaneignung eines Kindes interessiert neben den Eltern auch diejenigen Institutionen und ihre Vertreter, die die Kinder in diesem Verlauf unterstützen. Die Verantwortung den Prozess der Sprachaneignung zu überwachen und bei Bedarf zu fördern, liegt letztlich in der Verantwortung des Staates (vgl. Ehlich, 2009: 16). Die Umsetzung dieser Verantwortung wird zunehmend in Form von institutionalisierten Verfahren umgesetzt, die den individuellen Sprachstand eines Kindes zum Zwecke des Vergleichens, sowie dem Fördern messen sollen. Diese Messungen werden zunehmend nicht nur für die Schulzeit, sondern auch für frühere Lebensalter heran gezogen (vgl. ebd.). „Die Befassung mit der kindlichen Sprachaneignung hat unterschiedliche Konjunkturen“ (ebd.: 17), gegenwärtig scheint das Interesse stetig anzusteigen, so dass gerade zu von einer Inflation unterschiedlicher Verfahren zur Sprachstandsmessung gesprochen werden kann (vgl. ebd.).
„Der Trend in den Bundesländern geht zur früheren Einschulung“ (11.09.2009, WELT ONLINE) berichtet WELT ONLINE. Die Idee der früheren Einschulung ist umstritten, da zahlreiche Fakten dagegen sprechen. Der PISA-2000-Bericht des Deutschen PISA-Konsortiums wird vielfach dahingehend interpretiert, dass Früheinschulungen vorteilhaft seien (siehe Baumert u. a. 2001, Tabelle 9.17, Seite 474). Diese Interpretation ist jedoch fraglich. So beginnen Kinder im Pisa-Siegerland Finnland erst ab dem siebten Geburtstag ihre Schullaufbahn. Dennoch, die Tendenz zur früheren Einschulung scheint zu existieren und bedarf der Reaktionen entsprechender Institutionen. So plädiert mancher für eine Veränderung der Einschulungspraxis. „Wenn die Einschulungstests früher, also schon bei viereinhalb jährigen Kindern, gemacht würden, könnten im letzten Kindergartenjahr diejenigen gefördert werden, die spezifische Defizite in Verarbeitungskompetenzen haben (…)“sagt der Psychologe M. Hasselborn der WELT ONLINE (11.09.2009, WELT ONLINE).Das in dieser Arbeit vorgestellte und verwendete Instrumentzur SprachstandsdiagnoseHAVAS 5 ist gerichtet an Kinder im Alter von 5-6 Jahren. Es wurde hier bewusst eine Probe mit einem viereinhalbjährigenjährigen Kind erhoben um einen Eindruck darüber zu gewinnen welche Prozesse sich in der Altersspanne von viereinhalb bis sechs Jahren vollziehen und ob das Instrument möglicherweise auch dafür genutzt werden kann, eine bereits früher angesetzte Sprachstanddiagnose zu stellen.
Der Interessenschwerpunkt dieser Arbeit liegt nicht in der Bewertung des Sprachstandes der jeweiligen Kinder. Es soll auch nicht jener Frage nachgegangen werden, wann eine Einschulung rechtzeitig oder verfrüht stattfindet. Dennoch bietet diese aktuelle Diskussion Anreiz dafür, mögliche Eignung von Messinstrumenten für frühere Altersstufen zu untersuchen. Die Ausführungen sollen einen Überblick darüber geben, welche Sprachkompetenz ein Kind in dieser Zeit erwirbt. Weiterhin soll ein Eindruck darüber gewonnen werden, wie Messinstrumente zu verwenden sind und worin ihre Schwerpunkte liegen. Denn nur durch klare Definition der Messkriterien sind das Erstellen eines individuellen Profils, und dementsprechenden Fördermaßnahmen möglich (vgl. ebd.). Im Laufe der Arbeit wird sich zunächst mit den Theoretischen Hintergründen des kindlichen Erstspracherwerbs befasst. Im Anschluss daran wird das Instrument HAVAS 5 vorgestellt und darauffolgend die erhobenen Sprachproben exemplarisch ausgewertet und analysiert. Abschließend soll reflektiert werden, welche Kompetenzen sich ein Kind zwischen vier und sechs Jahren aneignet und ob HAVAS auch schon Aussagen über die sprachlichen Kompetenzen eines Viereinhalbjährigen treffen kann.
2. Theoretischer Hintergrund
Sprache ist ein Kommunikationssystem. Neben der Sprache verfügt der Mensch noch über weitere Kommunikationsmittel, beispielsweise Emotionen. Säuglinge bedienen sich dem Schreien um mit ihrer Umwelt in Interaktion zu treten. Dennoch stellt das kindliche Schreien aus linguistischer Sicht, keine Art Sprache oder einen Vorläufer dieser dar (vgl. Szagun 2006: 17). Menschliche Sprache unterscheidet sich von den Kommunikationsmitteln der Tiere und ist zudem nicht gleichzusetzen mit dem Ausdruck von Emotionen. Die Linguistik begründet dies mit vier Aspekten der menschlichen Sprache. Zunächst wird Sprache als Symbolsystem angesehen, welches willkürliche Symbole benutzt. Wörter sind keine Lautmalereien, so gibt es keine Ähnlichkeiten zwischen dem Gegenstand und seiner Bezeichnung (vgl. ebd.: 18). Die Symbole der menschlichen Sprache ermöglichen es weiterhin, sich Realitäten geistig präsent zu machen ohne physische Anwesenheit eines Gegenstandes. Das System der menschlichen Sprache ist demnach kontextfrei. Drittes unterscheidendes Merkmal der menschlichen Sprache ist ihre kulturelle Vermittlung. Ihre Strukturen und Inhalte sind nicht angeboren, sondern müssen zugänglich gemacht und erlernt werden. Dies kann nur im Kontext von sozialen Beziehungen, Gruppen und Kultur geschehen (vgl. ebd.). Das letzte Merkmal bezieht sich auf die Systemhaftigkeit der Sprache. Sprache ist in vielerlei Hinsicht regelhaft und systematisch. Regelhaftigkeit besteht sowohl in der Kombination von Symbolen, als auch in der Grammatik und weist kulturelle, sprachlichen Unterschiede auf (vgl. ebd.).
2.1 Sprachentwicklung beim Kind
Nach den Ausführungen zu Merkmalen menschlicher Sprache, sowie Unterschieden zu anderen Kommunikationssystemen, wird im Folgenden die Sprachaneignung des Kindes in ihrem Entwicklungsprozess betrachtet. Zunächst werden jene Vorrausetzungen skizziert, die ein Kind benötigt, um sich die menschliche Sprache anzueignen. Danach werden verschiedene Basisqualifikationen und Entwicklungsschritte in der Sprachaneignung aufgeführt. Der Begriff der Normalität in der Sprachaneignung soll im Kontext von Diagnoseverfahren in Augenschein genommen werden, um mögliche Vorstellungen von starren statistischen Normen zu verhindern.
2.1.1 Voraussetzungen
Die Fähigkeit zur Sprache ist angeboren, dennoch müssen für die „normale“ Sprachentwicklung beim Kind gewisse Voraussetzungen gegeben sein. Die wichtigsten Grundlagen der kindlichen Sprachentwicklung sind die anatomischen, kognitiven und sozial-emotionale Voraussetzungen. Damit ein Kind zum Sprechen befähigt wird, sind die anatomischen Vorrausetzungen von großer Relevanz. Nach der Phase des kindlichen Schreiens folgt die Phase des Lallens. Beide sind neben dem Trainieren des Sprechapparates erste Formen der Kommunikation mit der Umwelt und somit basale Grundlage für Beziehungen, sowie die emotionale Entwicklung. Weiterhin sind neben dem gesund ausgebildeten Sprechapparat, der Fähigkeit des Hörens, auch die Fähigkeiten der zielgerichteten Mund- und Zungenbewegungen erforderlich. Diese motorischen Bewegungen kommen im Kontext des Sprechens zielgerichtet und willentlich zum Einsatz (vgl. Wendlandt 2006: 14). Das Koordinieren der Sprechbewegungen ist ein komplexer Vorgang, der eine feine Abstimmung der einzelnen Muskelpartien erfordert (vgl.ebd.). Neben der Feinmotorik spielt auch die Grobmotorik des Kindes eine entscheidende Rolle. Während sich die Feinmotorik bereits bei Ungeborenen im Mutterleib ausbildet, entwickelt sich die Grobmotorik nach der Geburt durch das Erforschen der Umwelt. Da diese sich stets weiterentwickelt, erweitert sich auch der Radius in dem sich Kinder ihre Umwelt erschließen können. Sie beginnen zunehmend sensibler und rascher auf gewisse Reize zu reagieren und schließlich auch jene, für die Sprechbewegung relevanten Spannungszustände der Mundmuskulatur innerhalb von Sekunden herzustellen (vgl. ebd.).
Eine weitere Voraussetzung für die Sprachaneignung des Kindes sind die kognitiven Gegebenheiten. So reift mit dem Wachstum des Kindes auch das Gehirn und es entfaltet geistige Fähigkeiten. Notwendig für den Spracherwerb ist die Fähigkeit des Kindes neue Sinneseindrücke wahrzunehmen, zu verarbeiten und abzuspeichern (vgl. ebd.). Auf diese Informationsspeicherung muss das Kind späteren Zugriff haben, damit neu Gelerntes auch tatsächlich zur Anwendung kommen kann. Diese Lernprozesse, die ein Kind durchläuft um Gegenstände zu erkennen, zu benennen und ihre Anwendung zu wissen, sind kognitive Prozesse. Kognitive Einschränkungen, beispielsweise durch das Down-Syndrom führen zu einer Beeinträchtigung der Sprachentwicklung, da die kognitiven Prozesse hier deutlich langsamer verlaufen (vgl. ebd.). Außerdem spielen sozial-emotionale Aspekte eine entscheidende Rolle. Sprachaneignung ist immer ein Interaktionsprozess mit der Umwelt und ermöglicht wiederum die Interaktion und Mitgestaltung dieser. Die Grundhaltung eines Säuglings zu seiner Umwelt und seine spätere Interaktion mit jener, ist maßgeblich davon abhängig, wie viel Fürsorge er erfährt. Über die zwischenmenschliche Begegnungen, das Gefühl emotional angenommen zu sein sowie Vertrauen und Geborgenheit zu spüren, führen dazu, dass das Kind auch der Umwelt Vertrauen entgegenbringt und eine aktive Rolle im Interaktionsprozess annimmt (vgl. ebd.).
2.1.2 Die Basisqualifikationen
Sind die Voraussetzungen der Aneignung von Sprache erfüllt, so ist das Kind im Prozess der Sprachentwicklung befähigt bestimmte Basisqualifikationen zu erwerben. Grammatik und Wortschatz stehen zur Beschreibung von Sprache und ihrer Aneignung in der Regel im Vordergrund (vgl. Ehlich, Bredel, Reich 2008: 20). Weiterhin ist die Aussprache, als deutlich wahrzunehmender Faktor von großer Relevanz. Doch Sprachaneignung ist komplexer, umfasst weit mehr als jene Bereiche der Phonologie, Grammatik und der Lexik (vgl. ebd.). Im Sprachaneignungsprozess müssen Kinder nicht nur Formelemente der Sprache erlernen, sondern auch den Umgang mit diesen. Weiterhin müssen sie sprachliches Handeln zur Zielerreichung nutzen und jene Erwartungen erkennen welche ihnen durch Sprache vermittelt werden (vgl. ebd.).
Die einzelnen sprachlichen Basisqualifikationen sind eng miteinander verknüpft. Sie interagieren beim konkreten sprachlichen Handeln. Zuwächse der Kompetenz in einem Bereich bedeutet auch Zuwachs in einem anderen Teilbereich sprachlichen Handelns. Die phonische Basisqualifikation umfasst die Wahrnehmung, Unterscheidung und Produktion von Lauten, Silben und Wörtern, sowie die Erfassung und Produktion von übergreifenden intonatorischen Strukturen. Bereits in der pränatalen Phase wird die Aneignung phonischer Kompetenzen vorbereitet (vgl. Dittmann 2010: 15). Die pragmatische Basisqualifikation I bildet die kommunikative Grundlagefür die Aneignung von Sprache und bezieht sich auf Interaktion des Kindes mit den engsten Bezugspersonen. Das Kind lernt die Handlungsziele ihrer Kommunikationspartner aus deren Einsatz von Sprache zu erkennen. In dieser Phase erwirbt das Kind wichtige sprachliche Handlungsmuster (vgl. Ehlich et. al. 2008: 21). Die semantische Basisqualifikation betrifft den Teilbereich des Wortschatzes und seiner Aneignung, sowie die Begriffsbildung und die Übertragung und Ermittlung von Bedeutungen. Die Produktion erster Wörter beginnt im Alter von etwa einem Jahr (vgl. ebd.: 20). Der Bereich der morphologisch-syntaktischen Basisqualifikation erfasst jenen Bereich der Grammatik. Der Aneignungsprozess variiert im Verlauf sprachspezifisch. Dies liegt an der sprachtypspezifischen Beschaffenheit der Einzelsprachen. Für die Deutsche Sprache gilt, dass sich das Kind in den ersten sechs Lebensjahren im Bereich der Syntax sowie im Bereich der Morphologie und Bildung von Wortformen wesentliche Kompetenzen aneignet (vgl. ebd.: 21). Die diskursive Basisqualifikation erfasstneben der Aneignung von formalen Strukturen der Kooperation, auch die Befähigung zum komplexen zweckgerichteten sprachlichen Handeln mit anderen. Der kommunikative Aufbau von Spielwelten ermöglicht dabei ein Probehandeln mit Kindern ähnlichen Alters. Zentraler Teilbereich der diskursiven Basisqualifikation ist die Erzählfähigkeit, welche etwa im Alter von drei Jahren ausbildet und sich bis ins Schulalter hinein weiter entwickelt (vgl. ebd.). Die pragmatische Basisqualifikation II erfasst im Unterschied zu pragmatischen Basisqualifikation I diejenigen Kompetenzen, welche beim Eintritt in Bildungsinstitutionen relevantwerden. Während die Basisqualifikation I, weitgehend auf die Kommunikation im familialenRahmen gerichtet ist, erfasst die Qualifikation II die Kompetenz zwischen der Kommunikation mit Lehrern, Eltern oder anderen Kindern und dann angemessenen Einsatz dieser Kompetenz (vgl. ebd.).
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