Sexting als abweichendes Verhalten unter Jugendlichen zwischen 11 und 16 Jahren. Entwicklung eines Fragebogens
Methodischer Schwerpunkt "Dimensionale Analyse"
Zusammenfassung
Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Annahme: Sexting wird unter Jugendlichen nicht als abweichendes Verhalten angesehen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Grundlagen
2.1 Erkenntnisinteresse und Forschungsfrage
2.2„Abweichendes Verhalten“ nach dem Labeling Approach
2.3Empirische Grundlagen
2.3.1 JIM-Studie
2.3.2 Risks and safety on the internet
2.4 Methodik und Forschungsdesign
3.Semantische und Dimensionale Analyse
4. Fragebogenkonstruktion
4.1 Layout und Gestaltung des Fragebogens
4.2 Fragenkonstruktion
4.3 Pretest und Auswertung
5. Fazit und Ausblick
Quellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
Es ist ein grausiges Bild, das die Medien dieser Tage skizzieren: Kinder und Jugendliche fotografierten sich nackt und tauschten die Bilder wie Sammelkarten.1 Fernsehrepor- tagen und Berichte in Tages- bzw. Wochenpresse (sowie deren Onlineauftritte) berichten über „Sexting unter Jugendlichen“ und vom „Bullying“, also dem offenen Mobbing unter den Gleichaltrigen.2 Jugendschutzorganisationen wie Pro Juventute3 und Jugendzeit- schriften wie die BRAVO4 versuchen, den drohenden Schaden mittels Aufklärungs- kampagnen über Intim- und Privatsphäre, über Missbrauch von sexuell konnotierten Fotos und Privatnachrichten - speziell über die Gefahren beim Sexting vorzubeugen. Ratlose Lehrer und Eltern sehen sich konfrontiert mit einem „Problem“, das sich „außerhalb des Wahrnehmungsbereiches unserer Erwachsenenwelt“ abspielt.5 Kein Wunder, werden Eltern in den aktuellen Pädophiliedebatten beinahe verrückt gemacht.6 Auf diesen Zug springen Jugendorganisationen wie Innocence in Danger auf und warnen: „750.000 Pädokriminelle sind in jeder Sekunde online!“7 Natürlich ist es richtig und wichtig, Kinder und Jugendliche zu schützen, jedoch bewegt man sich in dieser Debatte leicht auf einem schmalen Grat zwischen „Hyperprotektion“8 und Ignoranz.
In der Erwachsenenwelt wird Sexting als normales, wenn auch irgendwie skurriles Phänomen wahrgenommen. Der Berliner Kurier spricht beispielsweise von einem „Scharfe[n] Trend“9, auf Facebook gibt es eine (Rand-)Gruppe mit dem Titel „I Love Sexting“ mit immerhin 3.500 „Likern“ (Stand 14.03.204), die GLAMOUR gibt Tipps, worauf man beim „Senden von erotischen Messages und Fotos im Internet und via Handy achten“10 sollte.
Der Umgang mit diesem Thema - speziell in Bezug auf Jugendliche - ist äußerst schwierig. Einerseits ist es nur natürlich, dass der heranwachsende Körper während der Pubertät beginnt, geschlechtsspezifische Sekundärmerkmale auszubilden und damit ein erstes Bewusstsein der eigenen sexuellen Identität erwächst. Damit einher geht eine gesunde Neugier am eigenen Körper, aber auch an denen seiner Mitmenschen. Man beginnt, sich als sexuelles Wesen zu begreifen. Gleichzeitig gilt es, Kinder und Jugendliche zu schützen vor negativen Einflüssen auf die Sexualgesundheit. Unsere Mediengesellschaft verlangt zudem, Heranwachsende zu medienkompetenten Individuen zu erziehen, denn die Multimedialität und der permanente, freie und unkomplizierte Zugang zu jugendgefährdenden Inhalten via Internet verlangen bereits früh die Schärfung des Bewusstseins und die Förderung des Selbstbewusstseins der Kinder.
Das Bewusstsein darüber, dass Jugendliche untereinander Nacktbilder via Smartphone verschicken, stört aus den verschiedenen, eben beschriebenen Gründen, eben jenen Auftrag der Kinder- und Jugenderziehung. Diese Form der sexuellen Erkundungstour wird schnell als nicht regelkonform bewertet, gerade weil es so viele Gefahrenstellen gibt. Diese Arbeit wendet sich genau diesem Thema zu: Das Phänomen Sexting wird unter Erwachsenen hinsichtlich Jugendlicher als äußerst kritisch bewertet. Wie jedoch stehen die Kinder und Jugendlichen selbst dazu. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll eine kleine, aber dennoch wegbereitende Studie erarbeitet werden, auf Basis derer zukünftige Sozialforschung zum Thema stattfinden kann.
2. Grundlagen
2.1 Erkenntnisinteresse und Forschungsfrage
Die Zahl der Studien, die sich mit dem Phänomen „Sexting unter Jugendlichen“ befassen, ist derzeit äußerst gering. Auch für die Bundesrepublik Deutschland liegen noch kaum Ergebnisse vor. Die Einstellung dieser Altersgruppe zum Thema Sexting kann nur erahnt werden. Mittels hier zu erarbeitenden Fragebogen soll eine Studie explorativen Charakters ermöglicht werden, die sich eben jenem Thema annimmt. Explorativ heißt, dass dieses Forschungsfeld zunächst nur grob abgesteckt werden soll. Verlangt ist also eine offene Forschungsfrage, die erst nach der Durchführung der Umfrage den Weg zu ersten Hypothesen eröffnen kann.
Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Annahme
Sexting wird unter Jugendlichen nicht als abweichendes Verhalten angesehen.
Die immer zahlreicher werdenden Kampagnen, die vor den Gefahren des Sexting warnen, untermauern eben jene Vermutung, Heranwachsende seien in ihrer Lebenswelt alltäglich mit diesem Phänomen konfrontiert. Nun, es kann nicht bestritten werden, dass die Beschäftigung mit dem eigenen Körper und der Wirkung dessen auf potentielle Geschlechtspartner, eine ganz zentrale Rolle in der gesunden Sexualentwicklung während der Pubertät einnimmt. Ob diese natürlichen Entwicklungsprozesse jedoch aufgrund der heutigen technischen Möglichkeiten zur hemmungslosen Präsentation nackter, jugendlicher Körper ausgewachsen sind, bleibt vorerst bloße Spekulation. Auffällig in der bisherigen (vor allem medialen) Betrachtung des Themas ist die Dominanz der „Erwachsenenwelt“ und deren (berechtigte) Sorgen, Kinder könnten die Gefahren zu freizügigen und leichtsinnigen Handelns nicht ausreichend genug erkennen. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die Kinder selbst zu diesem Phänomen stehen. Eine Umfrage hierzu kann Auskunft über die derzeitigen Positionen Heranwachsender in der Bundesrepublik Deutschland zum Sexting geben. Da eine deutschlandweite Studie den Rahmen der Arbeit sprengen würde, soll bereits an dieser Stelle eine Einschränkung auf die Region Sachsen erfolgen. Basis der Untersuchung soll folgende Forschungsfrage bilden:
Wird das Phänomen Sexting unter sächsischen Kindern und Jugendlichen im Alter von 11 bis 16 Jahren als abweichendes Verhalten angesehen?
Um mit dieser Frage zu den erwünschten Erkenntnissen zu gelangen, sollen zunächst theoretische und empirische Rahmen geklärt werden: was genau ist „abweichendes Verhalten“? Wie nutzen Jugendliche die neuen Medien? Welcher bisherige Forschungsstand kann zum Thema Sexting fixiert werden?
2.2„Abweichendes Verhalten“ nach dem Labeling Approach
Der Diskurs, der derzeit in der Öffentlichkeit geführt wird, macht deutlich, dass das Phänomen „Sexting unter Jugendlichen“ bei Eltern wie Lehrern nur wenig Verständnis findet - es wird als von der Norm abweichendes Verhalten, als „Problem“11 wahrgenommen. Ein erst vor wenigen Monaten veröffentlichter Elternbrief der Cloppenburger Schulen fasst den Blick vieler Erwachsener hierauf sehr gut zusammen: bei Sexting werde „eine Grenze überschr[it]ten, bei der wir nicht mehr wegschauen können und wollen.“12 Die darauffolgenden Aussagen, die verständlicherweise darauf abzielen, das Bewusstsein der Eltern für die möglichen Folgen des Sexting zu sensibilisieren, stellen sich allerdings bei näherer Betrachtung stellenweise als übertrieben und angstschürend, weil offensichtlich auf Unwissen und eigener fehlender Medienkompetenz zurückzuführen, heraus. Es findet hier eine Etikettierung, auch „Labeling“ genannt, statt. In verschiedenen Arbeiten zum „Abweichenden Verhalten“ wurde Etikettierung als eine Erklärung für „abweichendes Verhalten“ behandelt13 und unter dem Begriff „Labeling Approach“ zusammengefasst. Wie das eben beschriebene Beispiel aus Cloppenburg zeigt, eignet sich der Ansatz sehr gut, um Sexting als „abweichendes Verhalten“ als Forschungsgegenstand anzugehen.
Beim Etikettierungsansatz handelt es sich um einen noch recht jungen soziologischen Definitionsansatz, der dem Individuum grundsätzlich keine Wesensmerkmale unterstellt, die zu abweichendem Verhalten führen, sondern vielmehr davon ausgeht, dass soziale Normenvorstellungen und interaktive Prozesse erst durch entsprechende Zuschreibungen den „Abweichler“ konstruieren.14 Urheber solcher Normen sind soziale Gruppen einer Gesellschaft. Diese Gruppen können aufgrund kultureller, ethnischer, beruflicher und klassenspezifischer Unterschiede sehr unterschiedliche Wertmaßstäbe mit sich bringen.15 Individuen können gleichzeitig mehreren solcher Gruppen angehören, beispielsweise als Kind einer Familie, als Schüler einer Schule, als Mitglied eines Freundeskreises. In jeder dieser Gruppen werden soziale Regeln - sowohl formale als auch informelle - definiert und entsprechend mit Sanktionen bei nichtkonformem Verhalten verknüpft, d.h. diese Regeln legen für die Gruppe „richtiges“ und „falsches“ Handeln fest.16 Allerdings kann Handeln, das in der einen Gruppe als konform gilt, in einer anderen als von der Norm abweichend bewertet werden.17 Ebenso kann der Grad, nach dem die Abweichung gemessen wird, von verschiedenen Faktoren abhängig sein, bspw. wer der Abweichler ist und wer die Bewertung vornimmt.18 Dieser wiederum kann mit der Verurteilung nicht einverstanden sein mit der Begründung, nicht an der Aufstellung der Regel beteiligt gewesen zu sein.19
Übertragen auf das vorliegende Forschungsobjekt heißt das: Heranwachsende bewegen sich gleichzeitig in verschiedenen sozialen Gruppen - eben der eigenen Familie, dem Freundeskreis, verschiedenen Gruppen an der Schule usw. Sie befinden sich jedoch in einer besonderen Situation, denn
„viele wichtige Arten von Regeln für die Jugend [werden] von Erwachsenen aufgestellt. Regeln hinsichtlich des Schulbesuchs und des Sexualverhaltens werden ohne Bezug zu den Problemen der Heranwachsenden festgesetzt. Mehr noch: Jugendliche sehen sich umgeben von Regeln über diese Fragen, die von älteren und etablierteren Menschen aufgestellt wurden.“20
Nicht zu jeder Situation existieren bereits Regeln, es findet keine automatische Regelsetzung statt. Zunächst muss ein Handeln als für die Gruppe schädlich erkannt und in der Gemeinschaft das Gefühl geweckt werden, dass Sanktionen fällig werden.
„Jemand muss die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese Angelegenheiten lenken, den notwendigen Anstoß geben, damit etwas getan wird, und die mobilisierten Energien in die entsprechende Richtung dirigieren, damit eine Regel aufgestellt wird.“21
Erst mit der Konstruktion einer Regel wird „abweichendes Verhalten“ definiert. Pragmatisch gesprochen würde Sexting als normverletzendes Verhalten - weil für Heranwachsende gefährlich - in der (Medien-)Öffentlichkeit nicht so stark diskutiert werden, gäbe es nicht den öffentlichen Konsens darüber, dass es als solches zu bewerten sei. Die „Erwachsenenwelt“ konstruiert ebenjene Definition „abweichenden Verhaltens“ und geht mit verstärkten Maßnahmen dagegen vor.
2.3 Empirische Grundlagen
Wie gestaltet sich das Mediennutzungsverhalten der Jugend heute? Welche ersten Vorüberlegungen basierend auf früheren Studien können bereits festgehalten werden? Antworten auf diese Frage finden sich in der JIM-Studie von 2013 sowie der Studie „Risks and Safety on the Internet“ von 2010. Beide sollen nachfolgend - mit dem Fokus auf das Forschungsinteresse dieser Arbeit - beleuchtet werden.
2.3.1 JIM-Studie
Repräsentative, valide Daten zum Mediennutzungsverhalten Jugendlicher liefert die seit nunmehr 15 Jahren jährlich durchgeführte JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (mpfs).22 Die zuletzt veröffentlichten Studienergebnisse verdeutlichen,
„dass mit massiver Verbreitung von Smartphones die Bereiche Kommunikation, Information, Unterhaltung, aber auch die Mediennutzung selbst eine andere Bedeutung bekommen“23
und dass damit ganz neue Problemfelder in der Medienpädagogik einhergehen.24
Heute nutzen etwa 81% der 12- bis 19-jährigen täglich ein Handy, 73% gehen jeden Tag ins Internet.25 Beide Medien stehen im subjektiven Stellenwert der Jugendlichen direkt nach Musik mit 89% (Internet) und 82% (Handy) an vorderster Position.26 Beinahe alle Befragten (96%) sind im Besitz eines Mobiltelefons, 72% haben ein Smartphone.27 Das Handy wird vor allem zum Telefonieren (75%) und Schreiben von SMS (72%) genutzt.28 Smartphones können mit verschiedensten Applikationen (kurz: Apps) in ihrer Funktion und Anwendungsbereich erweitert werden. Durchschnittlich haben die Befragten 19 Apps auf ihrem Mobiltelefon installiert. Eine besondere Stellung nimmt hier der Instant Messenger „WhatsApp“ ein, eine kostenlose Texting-Anwendung: 70 % der Befragten haben diese App installiert. Messenger-Apps werden von den Jugendlichen als besonders wichtig (81%) angegeben.29
Außerdem suchen die Jugendlichen via Mobiltelefon Online-Communities auf (40%), nehmen Fotos und Filme auf (37%) und verschicken Fotos und/oder Filme (31%).30 Online-Communities werden unter anderem dazu genutzt (mindestens mehrmals pro Woche), Nachrichten zu verschicken (82%), zu chatten (76%) und seltener auch, um Fotos oder Videos einzustellen. (7%).31 Außerdem gaben 2/3 der Befragten an, in der Vergangenheit Fotos oder Filme von sich selbst und 43 % von Freunden oder Familienmitgliedern in Communities hochgeladen zu haben.32 Zum Thema Privatsphäre und Mobbing sagten etwa 20% der Befragten aus, selbst schon einmal von der Verbreitung peinlicher oder beleidigender Fotos oder Videos betroffen gewesen zu sein. 32% kannten diese Situation aus dem Bekanntenkreis.33 Jedoch fand diese Form des Mobbings weniger via Handy oder Chatforum, sondern vielmehr in den Online- Communities statt.34
Die JIM-Studie verzeichnet eine Zunahme von Gewalt- und pornographischen Filme, die via Mobiltelefon/Smartphone unter den Jugendlichen ausgetauscht werden.
[...]
1 Vgl. Die Welt 2013.
2 Vgl. bspw. BERENDSEN 2014, Focus Online 2014 oder VOGT 2013.
3 Derzeit führt Pro Juventute eine Kampagne mit dem Titel „Sexting kann dich berühmt machen“.
4 In Ausgabe 10 vom 26. Februar 2014 (Brundobler 2014, S. 42f.) werden das Thema „Sexting“ und die damit verbundenen Gefahren und rechtlichen Rahmenbedingungen auf einer ganzen Doppelseite behandelt.
5 Elternbrief Cloppenburg
6 Hier genügt es, die Tagespresse regelmäßig zu verfolgen, um den Eindruck zu gewinnen, die Gesellschaft bestünde nur noch aus Pädokriminellen, die sich nur so die Finger nach junger, nackter Kinderhaut lecken.
7 Innocence in danger 2014.
8 PAUER 2014.
9 Berliner Kurier 2012.
10 SCHWAKE o.A..
11 Elternbrief Cloppenburg.
12 Ebd.
13 Vgl. BECKER 2014, S. 170.
14 Vgl. NEISCH 2009.
15 Vgl. BECKER 2014, S. 36.
16 Vgl. ebd., S. 25.
17 Vgl. ebd., S. 30.
18 Vgl. ebd., S. 34.
19 Vgl. ebd., S. 37.
20 Ebd., S. 38.
21 Ebd., S. 157.
22 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2013, S. 59.
23 Ebd., S. 62.
24 Vgl. ebd., S. 62.
25 Vgl. ebd., S. 11.
26 Vgl. ebd., S. 13.
27 Vgl. ebd., S. 51.
28 Vgl. ebd., S. 55.
29 Vgl. ebd., S. 52f.
30 Vgl. ebd., S. 55.
31 Vgl. ebd., S. 38.
32 Vgl. ebd., S. 42.
33 Vgl. ebd., S. 43.
34 Vgl. ebd., S. 44.