In der heutigen Geschichtswissenschaft und historischen Forschung gibt es Kontroversen über die Verknüpfung der Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Die Themenbereiche „Wirtschaft“ und „Kultur“ bilden ein diskussionsfähiges Problemfeld und liegen in der Wissenschaft nicht nah beieinander. Es gibt jedoch Historiker, die sich zwar auf ihre Wissenschaftskulturen spezialisiert haben, jedoch für eine Verbindung von Kultur- und Wirtschaftsgeschichte
plädieren. Die „Kulturgeschichte des Kapitalismus“ ist daher ein Thema, dass in der heutigen geschichtswissenschaftlichen Forschung zum einen noch nicht weit erforscht ist und sich zum anderen mit genau dieser Problematik und der Kluft zwischen der Wirtschafts- und Kulturgeschichte auseinandersetzt. Neben diesen Aspekten ist zudem der Begriff des „Kapitalismus“ ein brisanter Begriff, der in der Historie seine Spuren bis in die heutige Gegenwart hinterlassen hat und einen Wandel im Verlaufe der Geschichte durchlaufen hat. In den 90er Jahren rief die Monographie „Eigen-Sinn“ von Alf Lüdtke, der ein bekannter und
aktueller Historiker für Alltagsgeschichte ist, einige Kritiker von Seiten der Sozialgeschichte wie Jürgen Kocka hervor. Alf Lüdtke beschäftigt sich in seinem Werk mit dem Konzept des
„Eigensinns“ in einem kapitalistischen System, nämlich dem Fabriksystem des Kaiserreichs, aus einer alltagsgeschichtlichen Perspektive heraus betrachtet. Demnach wird es interessant
die Fragestellung zu untersuchen, inwiefern der kapitalistische Arbeitsalltag von Eigensinn im Sinne Alf Lüdtkes geprägt wurde. Auf dieser Grundlage basierend stellt sich die zweite zentrale
Frage, inwiefern der Alltagshistoriker Alf Lüdtke ein tragfähiges Konzept liefert, um Kapitalismus kulturhistorisch zu untersuchen und wie überzeugend er bei seiner Argumentation wirkt. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Eigensinn - Eine Definition nach Alf Lüdtke
3. Kapitalismus und Kulturgeschichte
3.1 Definition des Kapitalismusbegriffs nach Jürgen Kocka und Jürgen Osterhammel
3.2 Perspektiven der Kulturgeschichte nach Ute Daniel
3.3 Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte? Ein Plädoyer von Hartmut Berghoff und Jakob Vogel
4. Eigensinn im Fabrikalltag des späten 19. Jahrhunderts
4.1 Alf Lüdtke: Eigensinn im Fabrikalltag
4.2 Der Alltag eines Fabrikarbeiters aus der Perspektive eines Pfarrers - Paul Göhre
5. Fazit und Ausblick
6. Literaturverzeichnis und Quellenverzeichnis
1. Einleitung
In der heutigen Geschichtswissenschaft und historischen Forschung gibt es Kontroversen über die Verknüpfung der Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Die Themenbereiche „Wirt- schaft“ und „Kultur“ bilden ein diskussionsfähiges Problemfeld und liegen in der Wissen- schaft nicht nah beieinander. Es gibt jedoch Historiker, die sich zwar auf ihre Wissenschafts- kulturen spezialisiert haben, jedoch für eine Verbindung von Kultur- und Wirtschaftsge- schichte plädieren.1 Die „Kulturgeschichte des Kapitalismus“ ist daher ein Thema, dass in der heutigen geschichtswissenschaftlichen Forschung zum einen noch nicht weit erforscht ist und sich zum anderen mit genau dieser Problematik und der Kluft zwischen der Wirtschafts- und Kulturgeschichte auseinandersetzt. Neben diesen Aspekten ist zudem der Begriff des „Kapitalismus“ ein brisanter Begriff, der in der Historie seine Spuren bis in die heutige Ge- genwart hinterlassen hat und einen Wandel im Verlaufe der Geschichte durchlaufen hat.2 In den 90er Jahren rief die Monographie „Eigen-Sinn“ von Alf Lüdtke, der ein bekannter und aktueller Historiker für Alltagsgeschichte ist, einige Kritiker von Seiten der Sozialgeschichte wie Jürgen Kocka hervor.3 Alf Lüdtke beschäftigt sich in seinem Werk mit dem Konzept des „Eigensinns“ in einem kapitalistischen System, nämlich dem Fabriksystem des Kaiserreichs, aus einer alltagsgeschichtlichen Perspektive heraus betrachtet.4 Demnach wird es interessant die Fragestellung zu untersuchen, inwiefern der kapitalistische Arbeitsalltag von Eigensinn im Sinne Alf Lüdtkes geprägt wurde. Auf dieser Grundlage basierend stellt sich die zweite zent- rale Frage, inwiefern der Alltagshistoriker Alf Lüdtke ein tragfähiges Konzept liefert, um Ka- pitalismus kulturhistorisch zu untersuchen und wie überzeugend er bei seiner Argumentation wirkt.
Die vorliegende Arbeit soll anhand der Monographie von Alf Lüdtke Antworten auf die oben genannten Fragestellungen vermitteln und vor allem den Zusammenhang zwischen Kapita- lismus und Kulturgeschichte unter dem Schwerpunkt des Alltagslebens der damaligen Fabrik- arbeiter darstellen. Da sich der Autor Alf Lüdtke mit der zeitlichen Einordnung in den Fabrik- alltag des späten 19. Jahrhunderts näher beschäftigt hat, beschränke ich somit meinen Fokus auf diesen zeitlichen Rahmen. Diese Arbeit befasst sich nicht mit der Problematik des Kapita- lismusbegriffs und kann daher keine explizite Definition des Kapitalismus liefern. Die Defini- tionen nach Jürgen Kocka und Jürgen Osterhammel dienen dem Leser lediglich als eine Ori- entierung und Annäherung an eine Definition. Als Verfasserin dieser Hausarbeit nehme ich bezüglich dieser Problematik eine neutrale Position ein und äußere mich nicht zu einer eigenen Definitionsvariante. Hinzukommend soll daher kein Vergleich zwischen den Definitionen von Jürgen Kocka und Jürgen Osterhammel erfolgen.
Diese Arbeit beginnt mit einer Definition des Begriffs Eigensinn nach Alf Lüdtke5, die als Einführung in die vorliegende Arbeit und als Fundament für die Analyse dient, die in Kapitel vier folgt. Das darauf folgende Kapitel widmet sich den Begriffen des Kapitalismus und der Kulturgeschichte nach Jürgen Kocka6, Jürgen Osterhammel7 und Ute Daniel8, die bedeutende Vertreter der heutigen Geschichtswissenschaft sind und sich mit den Definitionen dieser Be- griffe näher und ausführlich beschäftigt haben. Neben den Inhalten der Werke dieser Histori- ker beinhaltet das dritte Kapitel Literatur von den deutschen Historikern Hartmut Berghoff und Jakob Vogel9, die sich noch intensiver mit der Kluft zwischen der Wirtschafts- und Kul- turgeschichte auseinandersetzen und versuchen, den Spagat zwischen beiden Wissenschafts- kulturen zu überwinden. Die Begriffe Eigensinn, Kapitalismus und Kulturgeschichte werden in den ersten beiden Kapiteln zunächst getrennt betrachtet und definiert, bevor im vierten Ka- pitel die Zusammenführung erfolgt. Vor dem Hintergrund dieser eher allgemeinen metho- disch-theoretischen Debatte thematisiert das vierte Kapitel aus der Perspektive der Alltagsge- schichte vor allem die Thesen Alf Lüdtkes über Eigensinn im Fabrikalltag.10 Der zweite the- matische Schwerpunkt basiert auf einer zeitgenössischen Quelle, die in der Literatur Alf Lüdtkes gefunden wurde, nämlich die Sozialreportage des Pfarrers Paul Göhre11, die im Jahre 1978 in Gütersloh erschienen ist. In diesem Kapitel werden die Ausführungen von Alf Lüdtke und Paul Göhre verglichen, um zu untersuchen wie überzeugend Lüdtke bei seiner Argumen- tation wirkt. Weiterhin soll in diesem Kapitel versucht werden, Eigensinn eigenständig zu untersuchen und auf Aspekte einzugehen, die Lüdtke eventuell bei seiner Analyse vernachläs- sigt hat. Das letzte Kapitel soll einem Fazit und Ausblick gewidmet sein, in welchem die we- sentlichen Ergebnisse bezüglich der zentralen Fragestellungen dieser Hausarbeit zusammen- fassend dargestellt werden sollen. Neben der Literatur der genannten Historiker und Verfas- ser, wird ferner Literatur von Winfried Schulze12 verwendet, die eine Grundlage zur Kontro- verse der Alltags- und Sozialgeschichte schafft und Literatur von Jürgen Kocka13 und Geoff- rey Howard Eley14, die Bezug auf den historischen Kontext nehmen.
2. Eigensinn - Eine Definition nach Alf Lüdtke
Alf Lüdtke ist derjenige Historiker für Alltagsgeschichte, der den Begriff des Eigensinns in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts am meisten geprägt hat und einige Kritiker mit seiner Monographie, unteranderem auch Jürgen Kocka, hervorgerufen hat.15 Aber was genau verbirgt sich dahinter und meint Lüdke mit diesem Begriff?
Den Begriff ordnet er zeitlich zunächst in das 18. Jahrhundert ein, wo die Geistlichkeit und Gelehrten unter dieser Bezeichnung unhöfliche und taktlose Verhaltensweisen in den unteren Schichten der Gesellschaft deklarierten.16 Im Weiteren deutet der Alltagshistoriker den Be- griff Eigensinn oder Eigen-Sinn als „[…] Einfalt, Hoffart, Unart, Unflat, Unverstand, Unge- duld, Unschuld“17 und stellt diesen im genannten historischen Kontext des 18. Jahrhundert als „[…] Abschaum […]“18 dar. Ersichtlich wird anhand dieser ersten begrifflichen Einordnung, dass dem Begriff Eigensinn eine negative Konnotation zugrunde liegt. Nach Alf Lüdtke bein- haltet die Semantik des Begriffs jedoch eine gewisse Ambiguität und zitiert an dieser Stelle Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der Eigensinn als einen Augenblick im Spannungsverhältnis zwischen Befehl, Macht und Freiheit einordnet.19 Die Funktion, die Eigensinn in diesem Ver- hältnis einnimmt, ist lediglich Distanz zum Zwang und zur Unterdrückung zu schaffen und nicht Widerstand gegen die Obrigkeit und Abhängigkeitsverhältnisse zu leisten.20
Das Konzept des Eigensinns ordnet Lüdtke in seinem analytischen Werk in den Fabrikalltag des 19. Jahrhunderts ein. Näheres hierzu erfolgt in Kapitel vier. Was jedoch von zentraler Bedeutung für die Definition des Eigensinns im Sinne Alf Lüdtkes ist, dass er als Eigensinn zunächst im Allgemeinen sogenannte Umgangs- und Ausdrucksformen der körperlichen Ge- walt und nicht-sprachlichen Interaktion, die eine soziale Hierarchisierung nach außen hin dar- stellen, bezeichnet.21 Im weiteren Verlauf definiert er diesen Begriff als „[…] ein > Bei-sich- selbst-sein < und ein > Mit-anderen-sein <“22. Neben dem körperlichen Kontakt benennt Lüdtke wörtliche Formen des Umgangs als Sprache des Eigensinns.23 Als Ausdrucksformen dieser Sprache kennzeichnet er die Ansprache mit Vornamen und das Duzen, wodurch gegen- seitige Wertschätzung und Gemeinschaft signalisiert werden.24 Schließlich zählt Lüdtke zum Eigensinn das Gefühl von Autonomie und Kollektivität, eigene Bedürfnisse wie Sehnsüchte, aber auch Ängste, die durch Eigensinn zum Ausdruck gebracht werden.25
3. Kapitalismus und Kulturgeschichte
3.1 Definition des Kapitalismusbegriffs nach Jürgen Kocka und Jürgen Osterhammel
Nach Jürgen Kocka soll der Begriff des Kapitalismus „[…] als Art des Wirtschaftens oder als Wirtschaftssystem mit drei Reihen von Kriterien […]“26 verstanden werden. Die von ihm genannten drei Merkmale des Kapitalismus bestehen aus den „[…] individuellen Eigentums- rechten […]“27, einer Koordinierung des Wirtschaftssystems durch „[…] Märkte und Preise, Wettbewerb und Zusammenarbeit […]“28, dem Prinzip von Angebot und Nachfrage, einer „[…] Kommodifizierung von Arbeit […]“29 und letztlich aus Kapital und Investitionen.30 Weiterhin bezieht sich der Historiker Jürgen Kocka auf Definitionen von Joseph Alois Schumpeter, Werner Sombart und Max Weber.31 Demnach zählt er als weitere Charakteristi- ken zum Kapitalismus Kredite, eine doppelte Buchführung und eine Organisation von Arbeit im Unternehmen basierend auf Rationalität.32 In seiner Arbeitsdefinition bezeichnet Kocka den Kapitalismus „[…] als einen Idealtypus […]“33 im Sinne eines Wirtschaftssystems.34 Er betont jedoch explizit, dass der Kapitalismus auch von Faktoren außerhalb der Wirtschaft wie Kultur und Politik abhängig sei. Als Charakteristiken des Kapitalismus im 19. Jahrhundert sind vor allem die Rollendifferenzierung, das Prinzip der Arbeitsteilung, die Lohnarbeit und das Fabriksystem nach Kocka zu ergänzen.35
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Jürgen Kocka den Kapitalismus als Wirtschafts- und nicht als Gesellschaftssystem oder als Kultur definiert.36 Jedoch plädiert er für eine Verknüp- fung der Wirtschafts- und Kulturgeschichte und hofft, dass der Begriff des Kapitalismus „[…] als Brücke […]“37 zwischen diesen beiden Wissenschaftskulturen fungiert.38 Neben Jürgen Kocka hat sich auch der deutsche Historiker Jürgen Osterhammel mit dem Be- griff des Kapitalismus und einer Definition auseinandergesetzt.
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1 Zu dieser Problematik vgl. Jürgen Kocka, Der Kapitalismus und seine Krisen in historischer Perspektive, in: ders., Arbeiten an der Geschichte. Gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2011, S. 310-311; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009; Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorie, Praxis, Schlüsselwörter. 5. Aufl. Frankfurt/ Main 2001; Hartmut Berghoff (Hg.)/ Jakob Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt/ Main 2004.
2 Vgl. Kocka, Der Kapitalismus, S. 307-308.
3 Vgl. Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion. Göttingen 1994.
4 Vgl. Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Hamburg 1993.
5 Lüdtke, Eigen-Sinn, S. 120-160.
6 Kocka, Der Kapitalismus, S. 307-322.
7 Osterhammel, Die Verwandlung, S. 909-928; 950-957.
8 Daniel, Kompendium, S. 7-20.
9 Berghoff/ Vogel, Wirtschaftsgeschichte, S. 9-18.
10 Vgl. Lüdtke, Eigen-Sinn, S. 136-143.
11 Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Sozialreportage eines Pfarrers um die Jahrhundertwende. Gütersloh 1978.
12 Schulze, Sozialgeschichte, S. 39.
13 Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft. (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 13) 10., neubearbeitete Aufl. Stuttgart 2001; Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff, Entwicklung, Probleme. Göttingen 1977.
14 Geoffrey Howard Eley, Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur Historischen Kontinuität in Deutschland. Münster 1991.
15 Vgl. Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, S. 33-39.
16 Vgl. Lüdtke, Eigen-Sinn, S. 9.
17 Ebd., S. 9.
18 Ebd., S. 9.
19 Vgl. ebd., S. 9.
20 Vgl. ebd., S. 9.
21 Vgl. ebd., S. 138-139.
22 Ebd., S. 140.
23 Vgl. ebd., S. 141.
24 Vgl. ebd., S. 141.
25 Vgl. ebd., S. 142.
26 Kocka, Der Kapitalismus, S. 310.
27 Ebd., S. 310.
28 Ebd., S. 310.
29 Ebd., S. 310.
30 Vgl. ebd., S. 310.
31 Vgl. ebd., S. 310.
32 Vgl. ebd., S. 310.
33 Ebd., S. 311.
34 Vgl. ebd., S. 311.
35 Vgl. Kocka, Das lange 19. Jahrhundert, S. 56-57.
36 Vgl. Kocka, Der Kapitalismus, S. 311.
37 Ebd., S. 310.
38 Vgl. ebd., S. 310.