Sprachskepsis bei Gottfried Benn: Grundlagen und Ausprägungen in Leben und Werk
Zusammenfassung
Gottfried Benn gilt als einer der bedeutendsten Dichter der literarischen Strömung des Expressionismus. Durchaus in der Tradition der literarischen Strömung ist Benns literarisches Werk durch eine besondere Sprachverwendung gekennzeichnet: sie ist, im Gegensatz zur traditionellen literarischen Sprachverwendung, nicht auf Harmonie und Wohlklang ausgelegt, markiert also einen Bruch zur ästhetisierten Dichtungssprache. Seine enge Verbindung zu Friedrich Nietzsche und einige seiner literarischen Werke, so z.B. das 1948 erschienene Gedicht Ein Wort , lassen vermuten, dass mit der Benn eigenen Sprachverwendung eine tiefe Sprachskepsis einhergeht. Im Jahr 1935 konstatiert Benn jedoch, dass die Sprachkrise Ausdruck der Krise des Menschen und somit nur eine Erscheinungsform der Sinnkrise sei. Hiermit bestätigt er einerseits den bereits beschriebenen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und Entwicklungen und Sprachskepsis, andererseits lässt diese Aussage aber auch Zweifel an tatsächlich sprachskeptischen Tendenzen bei Benn zu.
Die Benn-Forschung ist umfangreich und kaum überschaubar. Gerade wurde von Marcus Hahn ein umfassendes Werk zu Benn und der Wissenschaftsgeschichte vorgelegt, was die bisherige Forschung bei all ihrem Umfang dennoch um einige neue Aspekte bereichert. Allerdings bleiben die Aussagen zu Benns Haltung zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit in Relation zum Umfang der Forschung dürftig, was nicht zuletzt darauf hinweist, dass dies kein eindeutiges, klar zu benennendes ist. Fraglich ist also, ob Benn als bekannter Nietzsche-Adept tatsächlich auch...
Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
2 Moderne Sprachskepsis
2.1 Allgemeines
2.2 Sprachskepsis bei Nietzsche
3 Sprachskepsis bei Gottfried Benn
3.1 Benns Sprachskepsis – Merkmale und Ausprägungen
3.2 Bezüge zu Nietzsche
3.3 Sprachskepsis in Benns literarischem Werk
4 Fazit
Literaturverzeichnis
„Es ist heute tatsächlich so, es gibt nur zwei verbale Transzendenzen: die mathematischen Lehrsätze und das Wort als Kunst. Alles andere ist Geschäftssprache, Bierbestellung.“[1]
1 Einleitung
Die gesellschaftlichen, geisteswissenschaftlichen und technischen Entwicklungen um 1900 führen zu einem Phänomen der Orientierungslosigkeit, einem Zustand, in dem althergebrachte Erklärungs- und Deutungsmuster nicht mehr gültig erscheinen und „die Welt […] kein verläßliches Gefüge mehr“[2] bildet. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich eine neue Form von Sprachskepsis, die die labile Beziehung zwischen Ich und Wirklichkeit widerspiegelt: Sprache sei ebenso nicht selbstverständlich und künstlich wie die Wirklichkeit selbst. So wird denn die Adäquationstheorie, die von einer Übereinstimmung von wahrnehmbarer Welt, erkennendem Geist und darstellender Sprache ausgeht, abgelehnt. Die moderne Sprachskepsis bleibt jedoch kein literaturwissenschaftliches Phänomen, sondern spiegelt die gesellschaftliche Wirklichkeit und entfaltet philosophische Diskurse.
Gottfried Benn gilt als einer der bedeutendsten Dichter der literarischen Strömung des Expressionismus. Durchaus in der Tradition der literarischen Strömung ist Benns literarisches Werk durch eine besondere Sprachverwendung gekennzeichnet: sie ist, im Gegensatz zur traditionellen literarischen Sprachverwendung, nicht auf Harmonie und Wohlklang ausgelegt, markiert also einen Bruch zur ästhetisierten Dichtungssprache. Seine enge Verbindung zu Friedrich Nietzsche und einige seiner literarischen Werke, so z.B. das 1948 erschienene Gedicht Ein Wort [3] , lassen vermuten, dass mit der Benn eigenen Sprachverwendung eine tiefe Sprachskepsis einhergeht. Im Jahr 1935 konstatiert Benn jedoch, dass die Sprachkrise Ausdruck der Krise des Menschen und somit nur eine Erscheinungsform der Sinnkrise sei. Hiermit bestätigt er einerseits den bereits beschriebenen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und Entwicklungen und Sprachskepsis, andererseits lässt diese Aussage aber auch Zweifel an tatsächlich sprachskeptischen Tendenzen bei Benn zu.
Die Benn-Forschung ist umfangreich und kaum überschaubar. Gerade wurde von Marcus Hahn ein umfassendes Werk zu Benn und der Wissenschaftsgeschichte vorgelegt, was die bisherige Forschung bei all ihrem Umfang dennoch um einige neue Aspekte bereichert. Allerdings bleiben die Aussagen zu Benns Haltung zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit in Relation zum Umfang der Forschung dürftig, was nicht zuletzt darauf hinweist, dass dies kein eindeutiges, klar zu benennendes ist. Fraglich ist also, ob Benn als bekannter Nietzsche-Adept tatsächlich auch dessen die Zeit der Moderne prägenden sprachskeptischen Einstellungen übernommen hat oder es sich lediglich um eine Art geistiger Verwandtschaft handelte, die anderweitig Ausdruck fand.
Vor diesem Hintergrund ist Ziel der vorliegenden Arbeit herauszufinden, welche konkrete Ausprägung Benns Sprachskepsis hatte, ob sie tatsächlich auf Nietzsches Gedankengut aufbaut und wie sie sich in seinem Werk widerspiegelt.
Im ersten Teil der Arbeit steht die Darstellung der theoretischen Grundlagen im Vordergrund. Hierzu werden zunächst knapp Grundannahmen moderner Sprachskepsis dargestellt, um im Anschluss Nietzsches Sprachskepsis genauer zu betrachten. Im zweiten Teil liegt der Fokus auf der Sprachskepsis Benns. Nach allgemeinen Ausführungen zu Merkmalen und Ausprägungen der Sprachskepsis bei Benn soll überprüft werden, wie diese sich auf Nietzsche zurückführen lassen. Abschließend wird sich in diesem Teil mit der Frage beschäftigt, wie sich Benns Haltung zur Sprache in seinem Werk widerspiegelt. Hierzu werden exemplarisch Werke dargestellt und vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen analysiert.
Benns Entwicklung als Mensch und Autor kann nur bedingt und an jenen Stellen betrachtet werden, wo es für die vorliegende Fragestellung relevant ist. Dies gilt ebenfalls für Benns reichhaltige Bezüge zu anderen Wissenschaftlern und dem von Hahn so benannten Wissen der Moderne[4]. Auch die im zweiten Teil der Arbeit stattfindende Analyse von Benns literarischem Werk kann nur fokussiert auf für die Fragestellung relevante Aspekte erfolgen und nimmt dadurch bewusst die Fragmentarisierung der Darstellung des dichterischen Werkes in Kauf.
2 Moderne Sprachskepsis
2.1 Allgemeines
Die moderne Sprachskepsis, geprägt von Kant, Lichtenberg, Wilhelm von Humboldt und Gerber[5], entstand aus dem Zweifel an der Vorstellung, dass zwischen wahrnehmbarer Welt, erkennendem Geist und darstellender Sprache eine Übereinstimmung besteht. Die bis dahin gültige Adäquationstheorie wurde philosophisch begründet und durch neue wissenschaftliche Theorien unterstützt angezweifelt.[6] Als Ausgangspunkt sprachskeptischer Ideen wird Kants Kritik der reinen Vernunft beschrieben, in der Kant bereits konstatierte, dass „der Mensch die Welt nicht unmittelbar und in ihrem eigentlichen Licht wahrnimmt“[7], allerdings spielt die Sprache als erkenntnisrelevantes Werkzeug der Beeinflussung von Wahrnehmung bei Kant noch keine Rolle. Den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken und damit auch Sprache und Wirklichkeit betrachten erst Lichtenberg, Wilhelm von Humboldt und Gustav Gerber näher. Zwar unterscheiden sich deren Theorien, im Kern kommen sie aber alle zu der Auffassung, dass Sprache und Wirklichkeit zwar Bezüge zueinander aufwiesen, aber keinesfalls identisch seien.[8]
Die moderne Sprachskepsis, die sich vor allem bei Mauthner, Hofmannsthal und Nietzsche findet, geht mit historischen Entwicklungen und der zeitgleich entstehenden Erkenntniskrise einher bzw. wird sie von diesen maßgeblich beeinflusst.
So ist die Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts geprägt von der rasanten Entwicklung in Forschung und Entwicklung, von Pluralität und Heterogenität.[9] Dies führt zu der Wahrnehmung einer chaotischen und sinnlosen Welt. Traditionelle Werte werden abgelöst, „die Beziehung zwischen Ich und Wirklichkeit ist fragwürdiger und labiler denn je“[10]. Der Mensch hat das Gefühl, nicht schritthalten zu können – ebenso wie die Sprache.[11] Mit dem Vertrauen in alte Wertesysteme schwindet das Vertrauen in die Sprache, die Sprachskepsis spiegelt insofern das Gefühl der Moderne. Gleichzeitig erscheint die Sprache unvollständig, neue Erkenntnisse in den Naturwissenschaften können nur noch in Formeln ausgedrückt werden, auch scheint den Autoren der Moderne die traditionelle Literatursprache abgenutzt.[12] Die Sprache „mit ihren Worthülsen, Phrasen und verhüllenden Metaphern“[13] habe den Bezug zur Realität verloren. Vor dem Hintergrund der Erkenntniskrise wird in der Konsequenz die bisher selbstverständliche Annahme von Autoren, in ihren Werken stecke eine tiefe Wahrheit, von ihnen selbst angezweifelt.[14]
Als Reaktion wird eine Sprache ‚geschaffen‘, die dabei helfen soll, vorübergehende Einheiten und Zusammenhänge zu schaffen.[15] Andererseits weist gerade die Dichtung auf diese Brüche hin, „läßt das Nicht-Stimmige und das Un-Begreifliche in einer irritierenden Weise deutlicher werden“[16]. Indem sie die Skepsis an der Wahr- und Wirklichkeit spiegelt, widersetzt sich die Sprache der modernen Dichtung „den beschönigenden Täuschungsmanövern des Alltagslebens“[17]. Insofern geht moderne Sprachskepsis weit über vorangegangene Phasen, z.B. die Sprachskepsis der Romantik, hinaus: statt einer lediglichen Beklagung der Grenzen von Sprache erfolgt aus der Kritik Handeln: Sprache wird zum Mittel des künstlerischen Aktes und des Experimentierens.[18]
Smerilli weist auf drei Aspekte des problematischen Verhältnisses mit der Sprache in der Moderne hin: Das Verhältnis zwischen Sprache und Subjekt, Sprache und Erkenntnis und Sprache und Wahrnehmung.[19] Im Verhältnis zwischen Sprache und Subjekt wird in der Moderne zunehmend die Funktion von Sprache für Ich und Identität infrage gestellt. Die kritische Befragung der Sprache offenbarte die in ihr konkretisierten gesellschaftlichen Wert- und Weltvorstellungen, „die innere Stimme, der vermeintliche Träger von Individualität wird als ›Agent‹ der Umwelt, der Außenwelt, der Gesellschaft und ihrer Konventionalität ›enttarnt‹“[20], was dazu führt, dass Sprache nicht mehr als adäquate Ausdrucksform der Identität betrachtet wird. Zudem verallgemeinere Sprache, was ebenfalls, durch die enge Verbindung zwischen Sprache und Identität, zu einer Fragwürdigkeit der Authentizität eigener Identität führe.[21]
Sprache wird nun zudem nicht mehr als von Gott gegeben und damit der Wahrheit verpflichtet, sondern als vom Menschen konstruiert betrachtet, was zu einer Krise im Verhältnis zwischen Sprache und Erkenntnis führt. Da Sprache die einzige Zugangsmöglichkeit zur Wirklichkeit sei, sei diese ebenso wie Sprache veränderlich und damit auch die begreifbare Wirklichkeit. Neben der Individualität verliert also auch die Realität ihre Authentizität.[22] Bedeutender Vertreter dieser Position ist Nietzsche, dessen sprachskeptischer Ansatz im folgenden Kapitel näher beschrieben wird.
Hieraus ergeben sich die Probleme im Verhältnis zwischen Sprache und Wahrnehmung. Durch die Wandelbarkeit der Sprache und den damit einhergehenden Mangel an Authentizität von Individuum und Erkenntnis ergeben sich Einflussmöglichkeiten des Menschen durch die Sprache auf die wahrgenommene Wirklichkeit.[23] Insofern entwickeln sich aus den kritischen, Skepsis und Unsicherheit säenden neuen Theorien zur Sprache und ihrem Verhältnis zu Individuum und Erkenntnis auch positive, von Vertretern der Zeit begrüßte Konsequenzen.
Die sprachskeptischen Tendenzen der Moderne werden verstärkt durch die Krise der Repräsentation. Durch die Entwicklung von Fotografie, Tonmedien und Film verliert Literatur die Deutungshoheit über die Wirklichkeit:
„Die technischen Medien Grammophon und Film speichern akustische und optische Daten seriell und mit übermenschlicher Zeitachsen-Präzision. Zur selben Zeit und von denselben Ingenieuren erfunden, attackieren sie an zwei Fronten zugleich ein Monopol, das die allgemeine Alphabetisierung […] dem Buch zugespielt hat: das Monopol auf Speicherung serieller Daten. Um 1900 wird die Ersatzsinnlichkeit Dichtung ersetzbar […] durch Technik.“[24]
Die Realität wird nun nicht mehr nur durch gedruckte Worte darstellbar, sondern auch durch die direkte, technische Kopie, wodurch, so Kittler, die Wörter entwertet werden. Die neuen Medien gehen sogar darüber hinaus, spätestens die Kinotechniken, erstmals 1916 als Theorie dargestellt, überbieten die Effekte, die Literatur dem Rezipienten bieten können.[25]
Gegen Ende der 1920er-Jahre beruhigte sich der kritische Umgang mit Sprache zunehmend und an die Stelle der Kritik trat die Hervorhebung der sprachlichen Produktionskraft, wie sie sich auch bei Benn zeigte.[26]
[...]
[1] Gottfried Benn: Doppelleben. München: dtv 1967. S.103.
[2] Monika Schmitz-Emans: Das Problem Sprache. Poesie und Sprachreflexion. Hagen: FernUniversität Hagen 2011a. S.36.
[3] In: Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. Stuttgart: Klett-Cotta 2006. S.198.
[4] Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne. Göttingen: Wallstein 2011.
[5] Vgl. Helmut Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne: Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München: Beck 2004, S.177ff.
[6] Vgl. ebd., S.177.
[7] Vgl. ebd., S.178.
[8] Vgl. ebd., S. 178ff.
[9] Vgl. Filippo Smerilli: Moderne – Sprache – Körper: Analysen zum Verhältnis von Körpererfahrung und Sprachkritik in erzählenden Texten Robert Musils. Göttingen: V&R unipress 2009. S. 16.
[10] Schmitz-Emans: Das Problem Sprache, S.36.
[11] Vgl. Irene Maria Wagner: Das literarische Konzept der Sprachskepsis und seine Relevanz für die expressionistische bzw. experimentelle Lyrik. Wien: Universität Wien 2009, S.43.
[12] Vgl. Philip Ajouri: Literatur um 1900. Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus. Berlin: Akademie Verlag 2009, S.150.
[13] Gerhard Wolff: Deutsche Sprachgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein Studienbuch. Tübingen: Francke 2004, S.192.
[14] Vgl. Ajouri: Literatur um 1900, S.152.
[15] Vgl. Schmitz-Emans: Das Problem Sprache, S.36f.
[16] Ebd., S.38.
[17] Ebd.
[18] Wagner: Das literarische Konzept der Sprachskepsis, S.42.
[19] Vgl. Smerilli: Moderne – Sprache – Körper, S.17ff.
[20] Smerilli: Moderne – Sprache – Körper, S.19.
[21] Vgl. ebd., S.20.
[22] Vgl. ebd., S.22.
[23] Vgl. ebd., S.25.
[24] Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900 (Auszüge). In: Helmes, G. und Köster, W. (Hrsg.): Texte zur Medientheorie. Stuttgart: Reclam 2002, S.297.
[25] Vgl. Kittler: Aufschreibesysteme, S.297.
[26] Vgl. Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne, S.226.