"Die blödsinnigen und irrealen Filmphantasien sind die Tagträume der Gesellschaft, in denen ihre eigentliche Realität zum Vorschein kommt, ihre sonst unterdrückten Wünsche sich gestalten." Was der Filmkritiker Siegfried Kracauer hier meint, ist wohl die Tatsache, dass das Kino Ideen und Argumente gesellschaftlicher Diskurse visuell und narrativ in konkrete exemplarische Situationen und Handlungsabläufe stellt. Dabei entfaltet das Kino emotionale Wirkungen bei seinen Zuschauern. Eine weitere Möglichkeit das Zitat für sich genommen zu deuten, ist es im Sinne des französischen Theoretikers Jean-Louis Baudry zu verstehen. Die Grundthese Baudrys besagt, dass die kinematografische Anordnung des Kinos und die Konstruktion des Sehraumes voraussetzen, dass beim Kinozuschauer bestimmte psychische Effekte eintreten. Baudry geht es nicht um die Technik des Kinos, sondern die Position eines Zuschauersubjekts, das selbst Teil dieser apparativen Anordnung ist. "Der Zuschauer identifiziert sich weniger mit dem Dargestellten, als mit den Bedingungen, die ihm ermöglichen zu sehen, was er sieht" .
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hinführung
2.1 Zum Dispositivbegriff
2.2 Die Höhle als Kino
2.3 Das Kino als Traum
2.4 Das Kino und die menschliche Psyche
3. Kritische Betrachtung
3.1 Christian Metz: Der Betrachter im Kino schläft nicht
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
"Die blödsinnigen und irrealen Filmphantasien sind die Tagträume der Gesellschaft, in denen ihre eigentliche Realität zum Vorschein kommt, ihre sonst unterdrückten Wünsche sich gestalten."[1] Was der Filmkritiker Siegfried Kracauer hier meint, ist wohl die Tatsache, dass das Kino Ideen und Argumente gesellschaftlicher Diskurse visuell und narrativ in konkrete exemplarische Situationen und Handlungsabläufe stellt. Dabei entfaltet das Kino emotionale Wirkungen bei seinen Zuschauern. Eine weitere Möglichkeit das Zitat für sich genommen zu deuten, ist es im Sinne des französischen Theoretikers Jean-Louis Baudry zu verstehen. Die Grundthese Baudrys besagt, dass die kinematografische Anordnung des Kinos und die Konstruktion des Sehraumes voraussetzen, dass beim Kinozuschauer bestimmte psychische Effekte eintreten. Baudry geht es nicht um die Technik des Kinos, sondern die Position eines Zuschauersubjekts, das selbst Teil dieser apparativen Anordnung ist. "Der Zuschauer identifiziert sich weniger mit dem Dargestellten, als mit den Bedingungen, die ihm ermöglichen zu sehen, was er sieht"[2]. Film ist also mehr als eine Abbild der Wirklichkeit. Was der Film für Baudy noch ist, wird in der vorliegenden Arbeit in 3 Kapiteln vorgestellt. Zunächst einmal wird das kinomatographische Dispositiv nach Baudry kurz erläutert, um den Anschluss zu den Analogien des platonischen Höhlengleichnisses im dritten Kapitel und der Freudschen Traumdeutung im vierten Kapitel zu gelangen. Die Arbeit wird auf die zentrale Frage nach der Plausibilität der Analogien zwischen Kino-Höhle und Kino-Traum hin bearbeitet. Ob es Baudry gelungen ist, seine Theorie stichhaltig darzulegen, wird nach kritischen Betrachtungen dieser, in einem Fazit zusammengetragen.
2. Hinführung
Das Essay „Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“ von Jean-Louis Baudry stellt nicht die Filme sondern das Kino ins Zentrum der Betrachtung. Nicht die Filmtechnik, sondern die Anordnung materieller Bestandteile wie Projektor, Sitzreihen, Leinwand, erzielen die Wirkung, die Baudry zu erkennen glaubt. Der Weg, der zu dieser Wirkung führt, ist gerahmt durch ein philosophisches und eine psychoanalytisches Paradigma. Die folgende Betrachtung zielt somit auf die Rahmung, beschreibt und kritisiert die Komponente, die Baudrys Theorie umfassend stützen: Platons Höhlengleichnis und Freuds psychosomatische Traumdeutung. Zunächst wird die erste Hypothese Baudrys vorgestellt: Die Analogie von dem Höhlengleichnis Platons und Kinosaal. Dann erfolgt die Betrachtung der zweiten Hypothese, die die Traumforschung Freuds analog zum Kino setzt.
2.1 Zum Dispositivbegriff
Baudry beginnt in seiner Schrift mit der Suche nach den psychischen Effekten, die der kinematographische Apparat bei seinen Zuschauern auslöst. Der zentralste Punkt, um die Effekte erst entstehen zu lassen und dann erklären zu können, ist die Positionierung des Subjekts innerhalb einer durch Projektor, Publikum und Leinwand bestimmten Anordnung des Sehens. Diese Anordnung bezeichnet Baudry in Anlehnung an Foucault als Dispositiv. Dieses Dispositiv bestimmt Baudry als die Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Technik-, Produktions- und Rezeptionsbedingungen und den gesellschaftlichen Funktionen eines Mediums. Es werden also technische Grundlagen und soziale Wirkungen in einen Zusammenhang gestellt. Auch Foucault tut dies und definiert den Begriff „Dispositiv“ „als ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“[3] Aber worin besteht nun der Zusammenhang zum Kino? Hier setzt nun die Theorie Baudrys ein, der die Analogie vom Mediendispositiv zum Höhlengleichnis Platons, weiter zu Freuds Traum schafft.
2.2 Die Höhle als Kino
Das Kino und die platonische Höhle analog zu denken, wirkt auf den ersten Blick fremd und inkommensurabel. Der gedankliche Aufhänger soll nun das Höhlengleichnis Platons sein und sei an dieser Stelle kurz skizziert: Von Geburt an sind Menschen in einer Höhle gefesselt, mit fixiertem Blick auf eine Steinwand, sich ihrer misslichen Lage nicht bewusst. Ihre Fesseln, die sie nicht als solche erkennen und die Höhle, die ihnen nicht als solche erscheint, ist ihre allumfassende Realität. Das einzige, was sie von der Außenwelt wahrnehmen, sind die Schatten ihrer Wächter, die ein kleines Feuer hinter ihnen auf die Innenwand der Höhle fallen lässt. In ihrer Bewegung eingeschränkt, können sie ihren Blick nicht auf die Wächter richten. Sowohl für Platon als auch für Baudry ist der entscheidende Moment innerhalb dieses Dispositivs, dass die Gefangenen die Schatten der Wächter nicht etwa als Repräsentationen oder als bloße Abbilder der Wirklichkeit, sondern als Realität wahrnehmen. Unterstützt wird diese Täuschung durch die Tatsache, dass die Worte und Geräusche, die hinter dem Rücken der Gefangenen entstehen, von den Wänden der Höhle reflektiert werden, also von genau dorther kommen, wo auch die Schatten zu sehen sind. Das Wissen der Gefangenen über ihre Welt basiert somit lediglich auf einer Illusion, die weiter nichts ist, als eine Schattentäuschung, die allerdings für die Gefangenen die Realität ist. So erscheint ihnen ihre Situation auch nicht hoffnungslos und tragisch. „Es ist also ihre motorische Lähmung, die Unmöglichkeit, von dort, wo sie sind, wegzugehen, die für sie die Realitätsprüfung unmöglich macht, die ihren Irrtum beschönigt und sie tatsächlich dazu bringt, das Stellvertretende für real zu halten […].“[4] Baudry setzt diese Konstruktion Platons und die den Gefangenen gegebene psychische Verknüpfung von Wahrnehmung und Realitätsvorstellung nun in direkte Analogie zum kinematographischen Apparat. „Es geht immer noch um die Szene der Höhle: ob Wirkung des Realen oder Realitätseindruck. Ob Kopie, Abbild oder gar Abbild des Abbilds. Realitätseindruck oder Reales, Mehr-als-Reales?“[5] Ebenso wie Platons Gefangene sind auch die heutigen Kinobesucher in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt und können nicht auf das Wahrgenommene einwirken und es so auch nicht auf seinen Realitätsgehalt hin überprüfen. Bei beiden Anordnungen, sowohl der Höhle als auch im Kino, wirft eine Lichtquelle innerhalb eines dunklen Raumes, hinter dem Betrachter Abbilder auf eine Leinwand, die dann vor ihnen erscheint. Die Wahrnehmung ist dabei stets auf das Visuelle und das Auditive begrenzt. Baudry formuliert: „Wie man sieht, konstruiert Platon ein Dispositiv, das dem Tonfilm sehr nahe kommt.“[6] Welchem Zweck soll dieser Vergleich nun dienlich sein? „Es ist gerade das Dispositiv, das die Illusion erzeugt, und nicht die mehr oder weniger genaue Nachahmung des Realen.“[7] Laut Baudry ist die psychische Kraft des Kinos also aus dem Dispositiv und nicht aus der historischen Charakterisierung heraus zu erklären. An dieser Stelle sei ein Vorbehalt gegen die Analogie angebracht: Platons Gefangene sind unfreiwillig in der Höhle „gefangen“; der Kinobesucher allerdings nimmt freien Willens seinen Platz vor der Leinwand ein. Baudry entgegnet diesem Einwand allerdings mit einem Verweis auf Platons Schrift: Einem der Gefangenen gelingt es nämlich die Flucht aus der Höhle. Sein Bemühen, die übrigen Gefangenen über ihre Lage aufzuklären und sie vom Ort der Illusion in die Realität zu führen, scheitert am Widerstand der Gefangenen, ihren gewohnten Platz zu verlassen. Baudry sieht den Wunsch der Gefangenen, weiterhin in der Höhle zu verbleiben, als Ausdruck eines unbewussten Begehrens, das nur im Gefangenstatus befriedigt werden kann. Diese „Faszination des Gefangenen“[8] ist für ihn das Motiv, das den modernen Menschen ins Kino treibt. Ebenso wie die Höhle bildet die Gesamtapparatur Kino ein Dispositiv, das eine Wahrnehmungssituation schafft, nach der sich jeder Mensch sehnt, oder besser: zurücksehnt. Denn die Elemente des Höhlendispositivs: abgedunkelter Raum, eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Beschränkung auf visuell-auditive Wahrnehmung, Projektionsquelle hinter und Projektionsfläche vor dem Betrachter, sind dem Menschen aus einer frühkindlichen Phase seines Lebens unbewusst bekannt und versprechen auch dem Erwachsenen ein Gefühl der Lust. An dieser Stelle der Theorie beginnt Baudry das Lustgefühl beim Kinobesuch mit Hilfe des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud zu erklären. Bezogen auf das Höhlengleichnis Platons liegt nun die Tatsache vor, dass das Dispositiv des Kinos eine Raum- und Subjektkonstellation erfordert und dass sich der Lustgewinn im Zusammenspiel der Elemente der Höhle ergibt.
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[1] Kracauer, Siegfried: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino. In: Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M., 1977, S. 180
[2] Baudry, Jean-Louis: Zitat nach: Paech, Joachim: Das Sehen von Filmen und filmisches Sehen. Anmerkungen zur Geschichte der filmischen Wahrnehmung. In: Blümlinger, Christa (Hrsg.): Sprung im Spiegel Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wien 1990, S. 34.
[3] Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin,1978. S. 119.
[4] Jean-Louis Baudry: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks. S.387. In: Claus Pias, Joseph Vogl, Lorenz Engell et.al.: Kursbuch Medienkultur: die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA, 1999.
[5] Ebenda. S. 381
[6] Ebenda. S. 389
[7] Ebenda. S. 389
[8] Ebenda. S. 393