Hans Joas Auffassung, wonach die Durchsetzung der Menschenrechte als Sakralisierungsprozess der Person aufzufassen sei, wird hier vor dem Hintergrund der von Marx stammenden Wertkritik kritisch beleuchtet. Die Wertkritik ist eine spezifische Lesart der Marx'schen Theorie – basierend vor allem auf den Spätschriften –, die eine radikale Historisierung von Gesellschaftstheorie darstellt und mit jeglicher Ontologisierung des Sozialen bricht. Auf Grundlage dieser Theorie soll erstens ein adäquateres Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit gezeichnet werden, die in krassem Gegensatz zu der These von der Sakralität der Person steht. Diese im Gegensatz zueinander stehenden Auffassungen sollen zweitens nicht unvermittelt nebeneinander stehen gelassen werden. In einem zweiten Schritt soll daher jene Grundauffassung von Joas selbst aus der Wertkritik heraus plausibilisiert werden und aufgezeigt werden, dass sie die Tiefenstruktur der Gesellschaft verkennt und deshalb der Marx'schen Terminologie zufolge als ideologische Denkform zu demaskieren ist.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Entstehung und Verbreitung der Menschenrechte als Sakralisierungsprozess der Person
2.1. Historische Ursprünge der Menschenrechte
2.2. Joas' Methode: Die affirmative Genealogie
2.3. Neuartikulation von Traditionen und Perspektiven der Wertegeneralisierung
3. Die Marx'sche Wertkritik
3.1. Abstrakte Arbeit und Wert
3.2. Das Kapital und die Instrumentalisierung des Menschen
3.3. Potentiale kritischen Bewusstseins oder eine neue Perspektive zur Lösung des Vermittlungsproblems von Normativität und Faktizität
4. Der Sakralisierungsprozess der Person als ideologische Denkform
5. Zusammenfassung
1 Einleitung
Auch Anfang des 21. Jahrhunderts sind die Menschenreche in weiten Teilen der Welt nicht anerkannt oder gar strikt umgesetzt. Nichtsdetotrotz haben sich sechzig Jahre nach der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von den Vereinten Nationen die darin vertretenen subjektiven Rechte als entscheidender Beurteilungsmaßstab staatlichen Handelns durchgesetzt. Grund genug, um die historische Entstehung und Durchsetzung der Menschenrechte in den Blick zu nehmen und ihren Geltungsanspruch zu diskutieren.
In dieser Arbeit soll das von Joas veröffentlichte Werk zu den Menschenrechten „Die Sakralität der Person“ anhand eines anderen Ansatzes kritisch diskutiert werden. Joas bricht darin mit der oft vertretenen Vorstellung, wonach die Menschenrechte entweder die unmittelbare Folge der Aufklärung oder des Christentums seien. Stattdessen vertritt er die These, dass die zunehmende Verbreitung der Menschenreche als ein umfassender Sakralisierungsprozess der Person aufzufassen sei. Dabei geht er an historischen Beispielen der Frage nach, wie sich zunehmend die universalistische Vorstellung durchsetzen konnte, dass jede menschliche Person heilig sei. Joas visiert jedoch nicht nur eine geschichtliche Rekonstruktion der Entstehung und Verbreitung der Menschenrechte an, sondern versucht dadurch den Geltungsanspruch der Menschenrechte selbst zu rechtfertigen. Dieses Vorhaben begründet er durch seiner an Ernst Troeltsch angelehnte Methode der affirmativen Genealogie, die das Vermittlungsproblem von Normativität und Faktizität auf neue Weise zu lösen versucht.
Diese Auffassung von Joas, wonach die Durchsetzung der Menschenrechte als Sakralisierungsprozess der Person aufzufassen sei, soll hier vor dem Hintergrund der von Marx stammenden Wertkritik kritisch beleuchtet werden. Die Wertkritik ist eine spezifische Lesart der Marx'schen Theorie - basierend vor allem auf den Spätschriften -, die eine radikale Historisierung von Gesellschaftstheorie darstellt und mit jeglicher Ontologisierung des Sozialen bricht. Auf Grundlage dieser Theorie soll erstens ein adäquateres Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit gezeichnet werden, die in krassem Gegensatz zu der These von der Sakralität der Person steht. Diese im Gegensatz zueinander stehenden Auffassungen sollen zweitens nicht unvermittelt nebeneinander stehen gelassen werden. In einem zweiten Schritt soll daher jene Grundauffassung von Joas selbst aus der Wertkritik heraus plausibilisiert werden und aufgezeigt werden, dass sie die Tiefenstruktur der Gesellschaft verkennt und deshalb der Marx'schen Terminologie zufolge als ideologische Denkform zu demaskieren ist.
Zu diesem Zwecke wird folgendermaßen vorgegangen: Im zweiten Kapitel dieser Arbeit wir das Werk „Die Sakraliät der Person“ in Grundzügen dargestellt. Zunächst werden dabei die historischen Ursprünge der Menschenrechte nachgezeichnet (Punkt 2.1.), dann die Methode der affirmativen Genealogie dargestellt (Punkt 2.2) und abschließend die Diskussion um die Perspektiven einer Wertegeneralisierung umrissen (Punkt 2.3.). Anschließend wird in Kapitel 3 die Marx'sche Theorie der Wertkritik in Grundzügen dargelegt. Dazu werden unter Punkt 3.1. zunächst deren Zentralbegriffe abstrakte Arbeit und Wert erläutert, bevor dann das Kapital als dynamisierte Kategorie des Wert eingeführt wird und die sich aus dieser gesellschaftlichen Kategorie ergebende realgeschichtliche Instrumentalisierung des Menschen aufgezeigt (Punkt 3.2). Unter Punkt 3.3. wird dann die Möglichkeit kritischen Bewusstseins aus der Gesellschaftstheorie der Wertkritik heraus plausibilisiert und damit eine alternative Erkenntnistheorie zur affirmativen Genealogie von Joas aufgezeigt. Schlussendlich wird unter Punkt 3 die These von der Sakralität der Person als ein zu kurz gegriffenes Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufgezeigt und als ideologische Denkform demaskiert.
2 Die Entstehung und Verbreitung der Menschenrechte als Sakralisierungsprozess der Person
In seiner „historisch orientierte[n] Soziologie“ (Joas 2011: 13) vertritt Hans Joas die These, dass der Glaube an die Menschenrechte und die universale Menschenwürde samt ihrer umfassenden rechtlichen Durchsetzung als zunehmende Sakralisierung der Person aufzufassen sei. Sakralität ist Joas' Verständnis nach nicht nur auf den religiösen Bereich beschränkt, sondern deren Qualitäten können ebenso auf säkulare Erscheinungen übergehen. Die charakteristischen Eigenschaften für das Gefühl der Sakralität sind dabei ein Gefühl der subjektiven Gewissheit und eine affektive Besetzung des sakralen Sachverhalts (vgl. ebd.: 18).
Neben dieser These ist das zweite Grundmotiv seines Werks „Die Sakralität der Person“ darin zu sehen, dass er eine Antwort auf die Begründung der Menschenrechte durch ihre geschichtliche Rekonstruktion liefert. Dies ist eine in der heutigen Wissenschaft durchaus unübliche Methode. Lange schon hat sich in der Wissenschaft eine Arbeitsteilung der Disziplinen durchgesetzt, wonach normative Geltungsfragen streng von Fragen der Genese von Normen, Werten, Ideen etc. zu unterscheiden sind. (vgl. ebd.: 13) Dabei werden auf der einen Seite der Philosophie, mitunter der Theologie, Geltungsfragen zugesprochen, während auf der anderen Seite Geschichtswissenschaft und Soziologie Fragen der Entstehung vorbehalten sind. Joas versucht diese Dichotomie von Genesis und Geltung durch eine in seinen Worten „affirmative Genealogie“ zu überwinden, die er aus den Arbeiten von Ernst Troeltsch rekonstruiert.
Um diese affirmative Genealogie durchzuführen, geht Joas folgendermaßen vor: Die ersten drei Kapitel sind historisch-soziologisch ausgerichtet. Zunächst diskutiert er Max Webers These, dass die Menschenrechte im Zusammenhang mit der Charismatisierung der Vernunft zu sehen sind; in umfassenderen Rahmen werden hier also die Ursprünge der Menschenrechte in der Aufklärung mit ihrem Zentralbegriff Vernunft beleuchtet. Im zweiten Kapitel wird die These der Sakralisierung der Person im Lichte des zunehmenden Verschwindens der Folter in Europa während des achtzehnten Jahrhunderts näher erläutert. Im dritten Kapitel wird die kontingente Dimension der Menschenrechte hervorgehoben und deren allmähliche erfolgreiche Durchsetzung nicht zuletzt in der Antisklavereibewegung im neunzehnten Jahrhundert verankert. Im anschließenden Kapitel führt Joas seine affirmative Genealogie aus, die eine Perspektive aufzeigen soll, wie relativistische Sichtweisen in Bezug auf Werte zu vermeiden sind, ohne auf ahistorische Universalismen zurückgreifen zu müssen. Die Beleuchtung von Grundelementen des christlichen Menschenbilds im Zeichen der Menschenrechte erfolgt in Kapitel 5. Dabei soll das Christentum nicht als der Ursprung der Menschenrechte verteidigt werden, sondern exemplarisch eine „Neuartikulierung einer religiösen Tradition im Angesicht dramatischen Wertewandels“ (ebd.: 21) erfolgen. Im abschließenden Kapitel diskutiert Joas sein Konzept der Wertegeneralisierung.
2.1 Historische Ursprünge der Menschenrechte
Die ersten Erklärungen der Menschenrechte fanden Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich und bereits kurz vorher in Nordamerika statt. Joas' These hierbei ist, dass die Menschenrechte - wie so oft angenommen - nicht in Frankreich, sondern aufgrund einer ganz bestimmten historischen Konstellation in den USA entstanden sind (vgl. ebd.: 25). Hiermit soll auch der Auffassung widersprochen werden, dass die Wurzeln der Menschenrechte in einem Prozess der Charismatisierung der Vernunft liegen, die mit der Aufklärung Einzug gehalten hat. Dazu zeigt Joas zum einen, dass die Vorstellung vom „antireligiösen Charakter der Französchischen Revolution“ (ebd.: 26) ein Irrglaube ist; zum anderen soll dies auf dem Wege der bisher oft vernachlässigten Bedeutung der nordamerikanischen Menschenrechtserklärung erfolgen.
So erläutert Joas in Bezug auf den vermeintlichen antireligiösen Charakter der Französischen Revolution zunächst, dass weniger die Glaubensinhalte des Christentums im Zentrum der Kritik standen. Stattdessen ist eher von einer antiklerikalen Stimmung in der Bevölkerung und vor allem im niederen Klerus auszugehen, die auf die enge Verbindung von Kirche und Staat zielte. So schützte der Staat die Kirche gegen religiöse Konkurrenten und räumte ihr weitreichende Privilegien ein, während die Kirche aufgrund ihres großen Grundbesitzes den Staat ökonomisch unterstützte und vielfältige Aufstiegsmöglichkeiten für die Aristokratie bot. (vgl. ebd.: 28) Abseits dieses politischen Aspekts ist das achtzehnte Jahrhundert (auch nach der Revolution) als eine Phase zu kennzeichnen, in dem selbst einfache Gläubige sich ein immenses Glaubenswissen aneigneten und die religiöse Verinnerlichung eine neue Stufe erreichte. Weiterhin widerspricht auch schon ein oberflächliches Studium der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 dem vermeintlich antireligiösen Charakter der Französischen Revolution, indem zum Beispiel in der Präambel auf das höchste Wesen Bezug genommen wird oder die Religionsfreiheit in der Menschenrechtserklärung postuliert wird. (vgl. ebd.: 33-35)
Zur Erläuterung der Bedeutung der Bill of Rights von 1776 für die Menschenrechte stützt sich Joas auf ein Werk von Georg Jellinek, der darin die von der damals herrschenden Meinung abweichende Position vertrat, dass die Menschenrechte ihre Wurzeln im Christentum haben. So sei vor allem der Kampf amerikanischer Protestanten für religiöse Freiheit dafür verantwortlich, dass die Institutionalisierung der Menschenrechte eine derartige Dynamik entfaltete. (vgl. ebd.: 41) Nach Joas' Ansicht ist zwar Jellinek insofern zuzustimmen, dass der amerikanische Protestantismus ein entscheidender Akteur bei der Institutionalisierung der Menschenrechte war. Statt einer „undialektischen Gegenüberstellung“ (ebd.: 49), wonach die eine Seite die Bedeutung der Aufklärung, die andere Seite die Bedeutung des Christentums hervorhebt, hebt Joas auch in Abgrenzung zu Jellinek das Zusammenspiel beider Momente hervor. So sei diese Institutionalisierung als ein kollektiver Prozess zu begreifen, der ohne die transformierende Wirkungen aufklärerischen Denkens auf den amerikanischen Protestantismus undenkbar ist. Deshalb ist auch in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung das Bemühen erkennbar - nicht zuletzt auch angesichts des ungewissen Ausgangs der militärischen Auseinandersetzungen mit der britischen Kolonialmacht -, sowohl christliche als auch rationalistische Motive aufzunehmen, um sich einer möglichst breite Zustimmung der Bevölkerung sicher zu sein (vgl. ebd.: 52).
Diese beiden historischen Analysen sind dann Ausgangspunkt für Joas' Kritik an Max Webers Interpretation, der die Verbreitung der Menschenrechte als Folge eines Prozesses der Sakralisierung der Vernunft ansieht. Max Webers Lesart der Menschenrechte birgt auf den ersten Blick einen Widerspruch: Einerseits betont er die Bedeutung des moralischen Individualismus des Protestantismus für die Genese der Menschenrechte. Andererseits setzt Weber die Durchsetzung der Menschenrechte derart in Beziehung zu der Entwicklung des Kapitalismus, dass Joas sich an ein „materialistisch-funktionalistisches Verständnis der Geschichte“ (ebd.: 56) erinnert fühlt. Zur Lösung dieses vermeintlichen Widerspruchs bezieht sich Joas auf einen Aufsatz der Weber-Expertin Cathèrine Colliot-Thèléne. So sei aus der individualistischen Moral des Protestantismus eine historische Möglichkeit erwachsen, die in die Menschen- und Bürgerrechte eingegangen subjektiven Rechte zu kodifizieren. An diesen moralischen Individualismus war jedoch die Idee der Vertragsfreiheit nicht gekoppelt. Ihre Durchsetzung und Kodifizierung in den Menschen- und Bürgerrechten war vielmehr Folge einer anderen Entwicklung, und zwar bildet sie eine funktionale Erscheinung im Rahmen der Entwicklung des Kapitalismus. (vgl. ebd.: 58f.)
Joas erläutert sein Konzept der Sakralisierung der Person näher anhand des allmählichen Verschwindens der Folter aus dem europäischen Strafvollzug. Joas diskutiert die These von Foucault, wonach der Körper als Zielpunkt der Strafe immer mehr an Bedeutung verlor und die Formung des Verhaltens und des Geists der Verurteilten stattdessen ins Zentrum rückte. Anstatt diesen Sachverhalt als einen Formwandel der Macht in Form einer Disziplinierung des Verurteilten wie Foucault zu begreifen, sieht Joas darin eine Integration des Verurteilten in die Gattung Mensch. Joas sieht diesen Inklusionsprozess als die entscheidende Wendung für die Zurückdrängung der Folter. Meistens richtet sich die härteste Strafe gegen die Verletzung eines „sakralen Kern[s] des Gemeinwesens“ (ebd.: 81). Somit ist nach Joas anzunehmen, dass das Verständnis des Sakralen eine Veränderung erfuhr, und zwar indem die Person selbst zum heiligen Objekt erklärt wird (vgl. ebd.: 81f.). An Kant angelehnt lässt sich die Sakralität der Person mit dem Begriff der Würde näher erläutern. So besitzt für Kant in negativer Abgrenzung all das Würde, was keinen Preis haben kann, somit nicht den Status eines Äquivalents einnehmen kann. (vgl. ebd.: 84)
Joas wählt in diesem Zusammenhang den Begriff der Person statt des Individuums, um zum einen dem Missverständnis vorzubeugen, dass es hier um die Sakralisierung eines egoistischen Menschenbildes im Sinne des Utilitarismus handelt. Zum anderen ist der Begriff der Person nicht als ein Gegenbegriff zu dem der Gesellschaft konnotiert und verweist damit auf den originär sozialen Charakter des menschlichen Individuums. (vgl. ebd.: 85) Des Weiteren ist der Begriff des Sakralen nicht als Gegenbegriff zum Profanen, d.h. Weltlichen zu denken etwa in einer Analogie zu säkular und religiös. So können auch säkulare Erscheinungen den Status eines Sakralen einnehmen. (vgl. ebd.: 94f.)
Eine weitere entscheidende Dimension bei der Herausbildung der Menschenrechte ist für Joas die Bedeutung von Gewalterfahrungen. Es lässt sich als eine Art Korrektur seiner in „Die Entstehung der Werte“ vertretenen Position verstehen. Darin argumentierte er insofern einseitig - wie er selbst hervorhebt -, als dass er lediglich das konstitutive Moment von positiven Erfahrungen für Wertbindungen betonte (vgl. hierzu Joas 1997). In diesem Kapitel untersucht er nun Gewalterfahrungen, und zwar unter dem Erkenntnisinteresse, wie diese destruktiven Formen von Selbstentgrenzung in Wertbindungen universalistischer Art transformiert werden können. (vgl. Joas 2011: 108f.)
Zunächst analysiert Joas, wie die Gewaltgeschichte in Texte zu den Menschenrechten eingegangen sind. Die zahlreichen Belege, wie Gewalterfahrungen in menschenrechtsbezogene Texte eingegangen sind, sollen hier nicht weiter angeführt werden, da sie für die hier interessierende Fragestellung nicht von besonderer Relevanz sind. (vgl. ebd.: 110-115) Es soll hier nur die von Joas zitierte Stelle aus der Präambel der Verfassung Bremens von 1947 hervorgehoben werden, die nach Joas Worten „besonders eindrucksvoll“ die Gewaltgeschichte während des Dritten Reiches einbezieht. Auf den ersten Blick verwunderlich ist hier nur, dass Joas die Textstelle übergeht, wonach „allen Arbeiswilligen ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird.“ (ebd.: 111) Hier soll nur die Anmerkung genügen - die im weiteren Verlauf der Arbeit aufgegriffen und präzisiert werden -, dass dies als Hinweis für die Kopplung der Menschenrechte an die Reproduktionsfähigkeit der kapitalistischen Gesellschaft zu sehen ist.
Um die Frage der positiven Transformation von Gewalterfahrungen zu beantworten, greift Joas auf das Traumakonzept zurück. Dabei diskutiert er die kulturalistische Traumatheorie des Soziologen Jeffrey Alexander, von dem der Traumabegriff nicht nur auf Kollektive bezogen wird, sondern auf ganze Kulturen in einer subjektivistischen Wendung. Die Subjektivierung des Traumabegriffs von Alexander macht das Vorliegen eines Traumas von der Selbstdefinition der Betroffenen abhängig. Joas distanziert sich von dieser Position, da sie die kulturellen Definitionsprozesse überbetont und die Eigenqualitäten des Sachverhalts Trauma stattdessen vernachlässigt, die sich einem beliebigen kulturellen Definitionsprozess von Traumata entziehen. Nach der Ansicht von Joas führt eine Traumadefinition wie die von Alexander dazu, dass all die vielfältigen Traumaerfahrungen außen vor gelassen werden, die gerade noch nicht zur Artikulation gebracht wurden. (vgl. ebd:: 124-131)
Joas wendet diese Transformation von Gewalterfahrungen in universalistische Wertbindungen auf die Antisklavereibewegung an. In Abgrenzung zu dem holistischen Kulturbegriff von Alexander, zieht Joas ein Spannungsfeld mit drei Momenten auf: Werte, Institutionen und Praktiken. Alle drei Momente beziehen sich aufeinander und können in Widerspruch zueinander geraten, indem zum Beispiel bisher selbstverständliche Praktiken durch Wertewandel plötzlich infrage gestellt werden oder indem zum Beispiel institutionalisierte Handlungserwartungen durch neu gelebte Praktiken schleichend an ihrer motivationalen Grundlage verlieren. (vgl. ebd.: 132f.)
Drei Elemente sind für die Entstehung des Abolitionismus für Joas entscheidend: Erstens kann man den Erfolg der Antisklavereibewegung dahingehend begreifen, dass die im Christentum enthaltene „Aufforderung zur moralischen Dezentrierung“ (ebd.: 141) praktisch umgesetzt wurde, sodass nicht nur diejenigen in die jeweils eigenen Moralhaltungen einbezogen werden, denen man nahesteht und affektiv verbunden ist. Zweitens lässt sich insofern eine kognitive Veränderung feststellen, als dass im Zuge der zunehmenden globalen Verflechtung der lokale Raum moralisch zu handeln, erweitert wird. D.h. sozialstrukturelle Gründe führen dazu, dass die jeweils eigenen Handlungen auf ihre moralische Qualität überprüft werden, die weit von uns entfernt lebende Menschen betreffen. Drittens hing der Erfolg der Abolitionisten mit ihrer transnationalen Organisationsform zusammen, indem nunmehr eine globale Öffentlichkeit Druck auf nationale Regierungen ausübte. (vgl. ebd.: 140-145)
2.2 Joas' Methode: Die affirmative Genealogie
Diese von Joas gewählte Methode ist im Zusammenhang mit der Skepsis gegenüber einer Begründung von letzten Werten aus rein rationalen Gründen zu sehen. Zum einen sieht er darin einen Selbstwiderspruch, da - wie der Sprachgebrauch von den letzten Werten schon nahelegt - eine Rückführung dieser auf etwas Vorgängiges selbst schon eine Relativierung darstellt und damit die Rede von den letzten Werten irreführend ist (vgl. ebd.: 13f.). Zum anderen können rein rationale Argumentationen den affektiven Charakter von Wertbindungen nicht plausibilisieren, allenfalls Wertbindungen schwächen oder Anlass für neue Rationalisierungen von Wertbindungen sein (vgl. ebd.: 19).
Die affirmative Genealogie ist allein ihrem Namen nach schon bewusst gegen die Konzeption von Nietzsche verfasst, der durch die genealogische Zurückführung aller Moral ihren Geltungsanspruch zu zerstören meinte. Wie der einleitende Teil „Weder Kant noch Nietzsche“ seiner Überschrift schon deutlich macht, ist sie auch gegen Kant gerichtet.
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