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Macht des Melodischen? Melancholie in "An den Mond", "Faust" und "Urfaust" von Johann Wolfgang von Goethe

©2012 Essay 9 Seiten

Zusammenfassung

In dieser Erörterung vergleiche ich die Stimmungen des lyrischen Ichs in Goethes Gedicht „An den Mond“ mit denjenigen, die die Figur Faust im Eingangsmonolog des gleichnamigen Dramas bzw. in der Entwicklung der Szene „Nacht“ erlebt.

Ihr Ziel besteht darin nachzuweisen, dass die im Titel hypothetisch angesprochene Macht der Melodien darin liegt, zu Tode betrübte Melancholiker vor psychischer oder auch physischer Selbstzerstörung zu bewahren. Musik, so lautet die komplette Hypothese, wirkt in ihrer euphonischen Form dem Trübsinn entgegen, indem sie ausgleichend bis stimmungsaufhellend auf die Gemütsverfassung wirken kann.

Anhand einschlägiger Textstellen werden das lyrische Ich des Gedichtes und die Figur des Faust bezüglich ihrer Stimmungen und des Einflusses der Musik auf diese untersucht. Es wird erkennbar, dass die - modern gesprochen - antidepressive Wirkung der Musik auf depressive Individuen ein sublimes und wiederkehrendes Motiv in Goethes Werk ist.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Melancholie und Melodie: Das Naturgenie im Spiegel der Natur

III. Zum Hauptmotiv des Melodischen

IV. Zwischen Manie und Depression: Faust im Eingangsmonolog „Nacht“

V. Schlussbemerkung

Quellen:

I. Einleitung

In dieser Erörterung vergleiche ich die Stimmungen des lyrischen Ichs in Goethes Gedicht „An den Mond“ mit denjenigen, die die Figur Faust im Eingangsmonolog des gleichnamigen Dramas bzw. in der Entwicklung der Szene „Nacht“ erlebt. Ihr Ziel besteht darin nachzuweisen, dass die im Titel hypothetisch angesprochene Macht der Melodien darin liegt, zu Tode betrübte Melancholiker vor psychischer oder auch physischer Selbstzerstörung zu bewahren. Musik, so lautet die komplette Hypothese, wirkt in ihrer euphonischen Form dem Trübsinn entgegen, indem sie ausgleichend bis stimmungsaufhellend auf die Gemütsverfassung wirken kann.

Anhand einschlägiger Textstellen werden das lyrische Ich des Gedichtes und die Figur des Faust bezüglich ihrer Stimmungen und des Einflusses der Musik auf diese untersucht. Es wird erkennbar, dass die - modern gesprochen - antidepressive Wirkung der Musik auf depressive Individuen ein sublimes und wiederkehrendes Motiv in Goethes Werk ist.

II. Melancholie und Melodie: Das Naturgenie im Spiegel der Natur

Goethes (1749-1832) aus neun Strophen à vier Versen bestehendes Gedicht „An den Mond“ wurde zweimal veröffentlicht, und zwar in den Jahren 1777 und 1789. Darin thematisiert er ein für die Epoche des Sturm und Drang typisches Empfinden eines Naturgenies, indem sich das lyrische Ich im Spiegel der Natur und im Verlauf des Gedichtes zunehmend selbst erkennt. Die Naturszenerie ist zu einem Erlebnis- und Identifikationsraum stilisiert: In ihr und durch sie erlebt das lyrische Ich Gefühle von Zugehörigkeit (1. Strophe), sanfter Freundschaft (2. Strophe), Freude und Leiden des Einsamen (3. Strophe); erfährt Erinnerung an vergangenes Lieben (4. Strophe) und an etwas im Verlauf der Zeit verloren Gegangenes (5. Strophe), die Fähigkeit zur Empathie (6. Strophe); nimmt Sinnbilder des Vergehens und Entstehens (7. Strophe), Sehnsucht (8. Strophe) und die Ahnung emotionaler Kräfte (9. Strophe) wahr. Seine vorherrschende Stimmung ist eine melancholische, die mit der nächtlichen Einsamkeit in der Natur einhergeht.

Sie kann als charakteristisch für das literarische Naturgenie des Sturm und Drang bezeichnet werden, ins Besondere deshalb, weil sie konträr zu der durch Vernunft und Verstandesgebrauch gekennzeichneten Strömung des Rationalismus steht.

Während das Tageslicht mit dem klaren und deutlichen Licht rationaler Aufklärung oder mit einem geschäftigen „Carpediem“ assoziiert werden kann, berühre im Gedicht andererseits die nächtliche Naturszenerie „still mit Nebelglanz“ (V.2) die „Seele“ (V.4) des lyrischen Ichs. Der Mond wird in einem Vergleich anthropomorphisiert, erscheine dem einsam Wandernden „wie des Freundes Auge mild“ (V.6). Dieses Sprachbild vereint die innige Beziehung zur äußeren Natur und in ihr eine Art Wiedererkennen der inneren Natur: Die im Rationalismus postulierte Grenze zwischen dem Subjekt und dem Objektbereich scheint diffus bis aufgehoben; stattdessen wirken sie im Vorstellungsraum aufeinander ein. Die semantisch derart aufgeladene Natur, so das lyrische Ich, evoziere Erinnerungen „froh- und trüber Zeit“ (V.10): Beispielsweise fließen am „Fluss“ (V.12) Erinnerungen an verflossene Liebe (vgl. V.15f.) und als schmerzend empfundener Verlust dessen, was das lyrische Ich einst „besaß“ (V.17), ineinander.

Daraufhin strömt die Wahrnehmung in den auditiven Bereich hinein: Des lyrischen Ichs Bewusstsein vernimmt sowohl des Flusses rasches Rauschen als auch seine flüsternden Gewässer - ein Auf und Ab, ein Wechselspiel, ein sanftes Strömen; alles zusammen verbindet sich im Bewusstsein des lyrischen Ichs zu „Melodien“ (V.24).

III. Zum Hauptmotiv des Melodischen

Mit dem Begriff der „Melodien“ klingt das Hauptmotiv des Gedichtes an. Die Geräusche der Natur werden als erregend oder beruhigend empfunden. Mehr noch: Sie verwandeln und verbinden sich im Vorstellungsraum des Naturgenies zu euphonischen Harmonien. Die äußere Natur wandelt sich zur Quelle schöpferischer Inspiration. Die Melodien bedeuten für das lyrische Ich Halt, welcher gleichsam vor dem endgültigen Fall ins Wellental der Melancholie beschützt. Sie entwickeln sich sogar zu einer Art Ouvertüre für die anhebenden, erhebenden, schöpferischen Kräfte des Einklangs in der äußeren mit der inneren Natur.

Die Kraft des Melodischen ist im Gedicht unmittelbar mit dem „Sang“ (V.23) des Dichters verbunden: Musikalität und Naturdichtung verbinden sich in Goethes Literatur des Sturm und Drang, sind unmittelbar mit der Stimmung des Naturgenies verbunden (vgl. auch: Die Funktion der Oden Klopstocks in Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“). Die Melodien, so ein Zwischenergebnis, wirken auf deren Gemüter erhebend.

Warum die Wortwahl „erhebend“? Deren Sinnhaftigkeit trifft neben der inhaltlichen Erhebung aus trübsinniger Melancholie auch auf die formale Gestaltung des Verses 24 zu.

Genauer gesagt taucht die Frage auf, welche metrische Leseart des Nomens „Melodien“ (V.24) zu wählen ist. Das im Gedicht „An den Mond“ vorherrschende Metrum ist der Trochäus. Sofern man den Vers 24 als zweihebigen Trochäus interpretiert, fügt er sich ein in die ansonsten tonal fallende, melancholische Grundstimmung der übrigen Verse. Vers 24 wäre formal unauffällig und würde keine Sonderstellung des Inhaltes durch gesonderte Betonung leisten.

In der von mir bevorzugten, zweiten Leseart kann das dreisilbige Nomen auch als einhebiger Anapäst betont werden, also so: me-lo-DIEN. Die thematische Sonderstellung, welche dem Melodischen zukommt, fände genau an dieser Stelle ihre Wiederspiegelung in der metrischen Form des Gedichtes. Die metrische Aufwärtsbewegung der dritten Silbe des Anapäst findet sich auch in der Melodie der Vokale wieder: Vom „e“ zum „o“ fällt der Klang der Stimme zwar leicht ab, bevor sie vom „o“ zum „ie“ hörbar in die Höhe steigt.

Alles zusammen entspricht der Hypothese, dass es erhebende Melodien sind, welchen die Kraft innewohnt, der melancholischen Niedergedrücktheit des Naturgenies eine entgegenwirkende Stimmung zuteilwerden zu lassen. Den Melodien des Wassers - ein archetypisches Element des teils unbewussten, teils halbbewussten Stimmungen des Gemüts - löst im lyrischen Ich entsprechende Vorstellungen aus, die mit zerstörerischen als auch belebenden Kräften (vgl. 7. Strophe) in Verbindung gebracht werden.

Gleichsam kommt dadurch der inneren Natur des Genies beides zu, wie auch in Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ nachgelesen werden kann: sie kann als „verschlingendes Ungeheuer“ oder als Inspirationsquelle erlebt werden.

Der Schluss des Gedichtes „An den Mond“ tendiert dann in Richtung eines Akzeptierens einer solchen Ambivalenz. Thematisiert werden die Kräfte des Inneren, die mit dem Schöpfungsprozess einhergehen: Nicht „Hass“ (V.30) auf das zeitweise Erleiden destruktiver Kräfte, sondern eine Freundschaft zu dem, „was vom Menschen nicht gewusst/ Oder nicht bedacht“ (V.33f.) werde, sei dasjenige, welches „durch das Labyrinth der Brust (…) in der Nacht“ (V.35f.) wandele.

Dieser Schlussgedanke kann als literarisches Bekenntnis zur und als Annahme der menschlichen Natur, die zerstörerisch oder schöpferisch wirksam sein kann, gelesen werden. Obzwar die äußere, im Gedicht beschriebene Natur von tiefer Einsamkeit des Genies zeugt; obzwar im weitgehend trochäisch gehaltenem Metrum die melancholische Grundstimmung vorherrscht - so liegt in der finalen Bekenntnis zu sich selbst eine stabilisierend wirkende Vorstellung: die der intuitiven Selbsterkenntnis.

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Details

Seiten
Jahr
2012
ISBN (eBook)
9783668281967
ISBN (Buch)
9783668281974
Dateigröße
456 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Note
1,0
Schlagworte
macht melodischen melancholie mond faust urfaust johann wolfgang goethe
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Titel: Macht des Melodischen? Melancholie in "An den Mond", "Faust" und "Urfaust" von Johann Wolfgang von Goethe