Auf den ersten Blick scheinen der Frage von Leben und Tod in unserer Gesellschaft relativ klare, weitestgehend konsensuale Präferenzen zugeschrieben zu werden. Üblicherweise wird der Lebensanfang als erfreuliches Ereignis empfunden, der Tod als negatives Ereignis hingegen nachgerade tabuisiert. So wird denn - mit Ausnahme religiös-fundamentalistischer Extrempositionen, die jeden oder fast jeden Eingriff in den göttlichen Willen rundheraus ablehnen - im allgemeinen ein lebenserhaltendes Eingreifen für wünschenswert, ein lebensunterbindendes dagegen für verwerflich gehalten werden. In Extremsituationen jedoch wird diese einfache Position problematisch: so könnte es insbesondere der Fall sein, daß Lebenserhaltung in der Situation schweren, schmerzhaften und nicht kurierbaren Leidens eine moralisch kaum verantwortbare Grausamkeit darstellt. Andererseits ist schon die Frage, zu welchem Zeitpunkte der Beginn individuellen Lebens anzusetzen ist, biologisch nicht zu beantworten. Versucht man hingegen eine pragmatische Lösung zu finden, so tun sich schnell enorme Problemfelder auf; so kommt man in Schwierigkeiten das Lebensrecht von Menschen absolut zu setzen, das von Tieren jedoch bedarfsweise zu verwerfen, wenn sich menschliches und tierisches Leben bis zu bestimmten Phasen nicht deutlich benennbar unterscheiden läßt. Unter Umständen ist es darum notwendig, einen Punkt zu wählen, an dem von explizit menschlichem Leben gesprochen werden kann. Noch dazu können Lebensinteressen von Mutter und (ungeborenem) Kind in sehr widersprüchlichem Zusammenhang stehen, usw. Auch die Frage, inwieweit zur Herbeiführung allgemein als positiv bewerteten neuen Lebens der Eingriff des Wissenschaftlers, der bis zu einer völligen Trennung von Geschlechtsakt/ Schwangerschaft und Kindererzeugung (bsw. Kind aus dem Reagenzglas) führen kann, wünschenswert ist, scheint mit einer Reihe von Problemen belegt. Ich werde im folgenden versuchen, diese ethischen Problemfelder aufzuzeigen und Lösungsansätze zu benennen.
Inhalt:
I. Einleitung
II. Der Anfang des Lebens
- Der biologische Standpunkt und allgemeinethische Fragestellungen
III. Spezielle ethische Problemstellungen
a. in vitro Fertilisation
b. Pränatale Diagnostik
c. Abtreibung
IV. Zusammenfassung
I. Einleitung
Auf den ersten Blick scheinen der Frage von Leben und Tod in unserer Gesellschaft relativ klare, weitestgehend konsensuale Präferenzen zugeschrieben zu werden. Üblicherweise wird der Lebensanfang als erfreuliches Ereignis empfunden, der Tod als negatives Ereignis hingegen nachgerade tabuisiert. So wird denn - mit Ausnahme religiös-fundamentalistischer Extrempositionen, die jeden oder fast jeden Eingriff in den göttlichen Willen rundheraus ablehnen - im allgemeinen ein lebenserhaltendes Eingreifen für wünschenswert, ein lebensunterbindendes dagegen für verwerflich gehalten werden. In Extremsituationen jedoch wird diese einfache Position problematisch: so könnte es insbesondere der Fall sein, daß Lebenserhaltung in der Situation schweren, schmerzhaften und nicht kurierbaren Leidens eine moralisch kaum verantwortbare Grausamkeit darstellt. Andererseits ist schon die Frage, zu welchem Zeitpunkte der Beginn individuellen Lebens anzusetzen ist, biologisch nicht zu beantworten. Versucht man hingegen eine pragmatische Lösung zu finden, so tun sich schnell enorme Problemfelder auf; so kommt man in Schwierigkeiten das Lebensrecht von Menschen absolut zu setzen, das von Tieren jedoch bedarfsweise zu verwerfen, wenn sich menschliches und tierisches Leben bis zu bestimmten Phasen nicht deutlich benennbar unterscheiden läßt. Unter Umständen ist es darum notwendig, einen Punkt zu wählen, an dem von explizit menschlichem Leben gesprochen werden kann. Noch dazu können Lebensinteressen von Mutter und (ungeborenem) Kind in sehr widersprüchlichem Zusammenhang stehen, usw. Auch die Frage, inwieweit zur Herbeiführung allgemein als positiv bewerteten neuen Lebens der Eingriff des Wissenschaftlers, der bis zu einer völligen Trennung von Geschlechtsakt/ Schwangerschaft und Kindererzeugung ( bsw. Kind aus dem Reagenzglas) führen kann, wünschenswert ist, scheint mit einer Reihe von Problemen belegt. Ich werde im folgenden versuchen, diese ethischen Problemfelder aufzuzeigen und Lösungsansätze zu benennen.
II. Der Anfang des Lebens
-Der biologische Standpunkt und allgemeinethische Fragestellungen
Zu Beginn eines Textes, der sich mit ethischen Problemen am Beginn des Lebens auseinandersetzt, sollte der Versuch gemacht werden, diesen Zeitpunkt zu charakterisieren. Eine klare Antwort hierauf wäre, sollte man meinen, von der Biologie zu erwarten. Diese jedoch verweigert sich einer klaren Aussage. Der Zeitraum, innerhalb dessen dieser Beginn zu veranschlagen wäre, läßt sich nur - grob genug - eingrenzen. Als frühestmöglicher Anfang ließe sich wohl der Augenblick der Befruchtung nennen, wenn auch eine noch extremere Position bereits beim Plan der Eltern, ein Kind haben zu wollen, anzusetzen vermöchte. Jedoch scheint mir eine solche Vorstellung aus zwei Gründen unsinnig: zum einen ist hier noch nicht das eine Kind faktisch angelegt, welches aus dem Zusammentreten eines bestimmten Eies mit einem bestimmten Samen erwüchse: der Plan eröffnet lediglich eine Unzahl möglicher Ausführungen. Zum anderen kann dieses Kriterium sowieso nur unter der Bedingung in Kraft treten, daß es sich um ein sogenanntes "Wunschkind" handelte. Als spätestmöglicher Zeitpunkt für die Anerkenntnis personal-menschlichen Lebens dürfte die Geburt anzusehen sein.
Zweifelsohne ist durch die Vereinigung des Samens mit der Eizelle die Voraussetzung zur Entstehung eines Menschen erfüllt. Wissenschaftler werden darum einer befruchteten Eizelle den Status artspezifischen menschlichen Lebens zubilligen. Auch läßt sich das Argument nicht von der Hand weisen, daß die Befruchtung am Anfang eines kontinuierlichen Prozesses steht, an deren Ende ein menschliches Wesen das Licht der Welt erblickt. Sie stellt demnach in der Kontinuität der Menschwerdung den einzigen unstetigen Prozeß dar. Jedoch ist zu diesem Zeitpunkt zwar die Potentialität eines Menschen erreicht, nicht jedoch schon personal-menschliches Leben oder gar ein individueller Mensch. Dabei sind zwei Dinge von entscheidender Bedeutung. Die Zygote schwimmt noch zwei Wochen mehr oder minder frei, ehe sie sich endgültig einnistet. Dabei ist die Gefahr, daß es zu gar keiner Einnistung kommt, durchaus gegeben. Singer schreibt hierzu: "Wenn die Schwangerschaft vor der Implantation (innerhalb von vierzehn Tagen nach der Befruchtung) diagnostiziert wird, liegt die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einer Geburt kommen wird, bei 25 bis 30%. Nach der Implantation steigt diese Zahl zunächst auf 40-60%, und erst sechs Wochen nach der Geburt steigt die Chance, daß es zu einer Geburt kommt, auf 85 bis 90%."[1] Wenn es so sein sollte, daß eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dahingehend besteht, daß es zu gar keiner Einnistung kommt, dann ist durch die Befruchtung zwar eine neue Qualität in der Potentialität menschlichen Lebens entstanden, die aber lediglich zwischen der eines heranwachsenden Foetus und der frei schwimmender Samen und Eizellen liegt und keineswegs der Qualität eines Foetus bereits nahekommt. Des weiteren ist in der befruchteten Eizelle noch kein individuelles Lebewesen festgelegt. Vielmehr kann sich der aus ihr erwachsende Zellklumpen noch bis zu vierzehn Tage nach der Befruchtung teilen und eineiige Zwillinge entstehen lassen. "Daraus resultiert ein Problem für diejenigen, die für eine Kontinuität unserer Existenz von der Empfängnis bis zum Erwachsensein eintreten. Man denke sich einen Embryo in einer Schale auf einem Labortisch. Betrachten wir diesen Embryo als die erste Stufe zu einem menschlichen Wesen, dann nennen wir ihn einfach Mary. Jetzt aber teilt sich der Embryo in zwei identische Embryonen. Ist der eine immer noch Mary und der andere Jane? Wenn ja, welcher ist Mary? Nichts unterscheidet die beiden, man kann auch nicht sagen, daß sich der Jane genannte Embryo von dem mit Namen Mary abgespalten hat (eher als umgekehrt). Sollen wir also sagen: Mary ist nicht mehr bei uns, dafür haben wir jetzt Jane und Helen? Aber was ist mit Mary passiert? Ist sie gestorben? Sollten wir um sie trauern?"[2] Auch der von einer christlichen Sicht aus argumentierende Johannes Gründel kommt zu dem Schluß: "Wenn darum bis zum 14. Tag der Entwicklung, also bis zur vollen Einnistung der menschlichen Keimzelle, eine Mehrlingsbildung noch möglich ist und es damit zur Auflösung der vorläufigen Ganzheit und zur Bildung neuer Individuen kommt, dann läßt sich in diesen ersten Tagen anthropologisch im strengen Sinne noch nicht von einem individuellen real existierenden Menschen sprechen."[3] Es scheint also eine relativ breite Übereinstimmung zu geben, daß wir von der Existenz eines individuell-menschlichen Lebens frühestens nach vierzehn Tagen ausgehen können.
Es läßt sich wohl sagen, daß mit jenem Augenblick ein Punkt erreicht ist, mit dem eine qualitative Änderung in der Einstellung zu dem entstehenden Leben eintreten muß. Der Umfang derselben wird aber von unterschiedlichen philosophischen Standpunkten aus sehr andersartig beurteilt werden.
Der deontologische Ansatz, der menschliches Handeln an normativ vorgegebenen moralischen Kriterien bemißt, konfrontiert den Umgang mit (werdendem) menschlichem Leben an der prinzipiellen Heiligkeit des Lebens. Die hohe Achtung, die jene philosophische Position menschlichem Leben an sich zumißt, macht jede Handlung, die als Akt gegen dieses Leben ausgelegt wird, moralisch verwerflich. Nur wenn ein Gebot von ähnlich hoher oder gar höherer Evidenz in bestimmten Situationen mit dem Lebensrecht in Konflikt stünde, wäre eine Abwägung und möglicherweise ein Verstoß notwendig. Wir werden sehen, daß dieser Ansatz, der in der nicht-angelsächsischen Welt vorherrschend sein dürfte, nicht geeignet ist, wenn mit ihm ein relativ liberales Abtreibungsrecht begründet werden soll. Er weiß sich dann zumeist nur damit zu helfen, daß der Zeitpunkt, ab dem man beim Foetus von menschlichem Leben sprechen kann, möglichst weit hinausgeschoben wird. Andererseits ließe sich bei einem sehr restriktiven Abtreibungsrecht nicht erklären, warum foetalem menschlichen Leben ein weit höherer Stellenwert zuzumessen sei als dem Leben von Tieren. Es tritt dann eine Bevorzugung von explizit menschlichem Leben in kraft, die ethisch schwierig zu rechtfertigen ist - aber mehr dazu im Kapitel zur Abtreibung. Eine der Positionen, die unter diesen Ansatz zu subsumieren sind, ist die christliche Morallehre. "Als ein grundlegendes Prinzip, das sich aus den neutestamentlichen Texten ableiten läßt, gilt: menschlich personales Leben besitzt - unabhängig von seiner Bewertung auf der Börse der menschlichen Leistungsgesellschaft - eine solche Hochachtung und Würde, daß der Mensch niemals nur als Objekt, also als Mittel zum Zweck, gewertet werden darf. Im Schöpfungsbericht der Priesterschaft wird der Mensch als Geschöpf Gottes (als Mann und Frau) und im Unterschied zur übrigen Schöpfung, die Spur Gottes ist, als "Abbild Gottes" - und zwar eines dreipersönlichen Gottes - bezeichnet. <...> Aus diesen theologischen Erwägungen erhält die säkulare Rede von der Würde des Menschen eine Vertiefung, die von einem rein innerweltlichen ethischen Entwurf nicht eingeholt werden kann."[4] Diese religiös, nicht rational begründete Hochachtung des menschlichen Lebens erzwingt folgerichtig von dem Augenblicke an, da menschlich-personales Leben als existent anzunehmen ist (Gründel setzt hier die fünfte Schwangerschaftswoche an), dieses unter allen Umständen zu bewahren.
Deontologische Ethik in philosophischer Perspektive fußt ebenso auf allgemeinen Prinzipien, an denen Handlungen unabhängig von ihren Folgen bemessen werden. Sie legt darum großen Wert auf die Absicht einer Handlung. Der wohl berühmteste ethische Entwurf in dieser Richtung, der auch heute noch als grundlegend anzusehen ist, ist die Kantische Ethik. Baumgartner verweist in einem Aufsatz darauf, daß in der Auslegung des Kategorischen Imperativs das Postulat enthalten sei, daß der Mensch niemals von einem anderen Menschen als Mittel, sondern immer als Selbstzweck begriffen werden müsse, woraus notwendig nicht nur die körperliche, sondern auch die geistige (!) Unantastbarkeit des Menschen hervorgehe: "Ich will also versuchen, den Gedanken der Menschenwürde gerade mit Blick auf die heute noch utopische Vision eines Eingriffs in die menschliche Keimbahn, der sich die Verbesserung der zukünftigen Menschheit zum Zweck setzt, zu konkretisieren. Ich benutze dazu einen der bekannteren Auslegungsformeln des von Immanuel Kant formulierten Kategorischen Imperativs: die sogenannte 'Mensch-Selbstzweck-Formel'. Sie lautet: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« In ihr ist darauf abgehoben, daß Menschen nie bloß zum Mittel in der Zwecksetzung anderer Menschen gemacht werden dürfen, auch nicht um eines vermeintlich höheren Zweckes willen; daß Menschen sowohl in ihrem leiblichen wie in ihrem geistigen Substrat als unverletzlich und unantastbar gelten müssen."[5] Dem steht der teleologische Ansatz gegenüber, der Handlungen hinsichtlich ihrer Folgen bewertet. Die bekannteste teleologische Ethik ist der Utilitarismus. In Anlehnung an Bentham und Mill wird hier Handeln nicht danach bewertet, ob es irgendwelchen vorgegebenen Normen entspricht. Es findet vielmehr eine Abwägung statt, inwieweit die Folgen einer Handlung dem größtmöglichen Glück einer größtmöglichen Zahl Individuen dienlich oder abträglich sind. Vertreter einer teleologischen Ethik können sich darum bei der Bewertung moralischer Fragestellungen am Beginn des Lebens nicht einfach auf vorgegebene Prinzipien, wie der Achtung vor dem Leben, berufen, sondern wägen die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich iher positiven und negativen Folgen miteinander ab, wobei sie stark auf die Kenntnis der näheren Umstände derselben angewiesen sind.
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[1] Peter Singer, Praktische Ethik. Aus dem Englischen übersetzt von Oscar Bischoff, Jean-Claude Wolf und Dietrich Klose. Neuausgabe, 2. revidierte und erweiterte Auflage, Stuttgart 1994, S. 209
[2] ibidem, S. 204
[3] Johannes Gründel, Sittliche Bewertung ärztlichen Handelns bei Anfang und Ende des menschlichen Lebens, in: Odo Marquard/ Hansjürgen Staudinger (Hrsg.), Anfang und Ende des menschlichen Lebens, o. O. 1987, S. 88
[4] ibidem, S. 80
[5] Hans Michael Baumgartner, Am Anfang des menschlichen Lebens steht nicht der Mensch, in: Odo Marquard/ Hansjürgen Staudinger (Hrsg.), Anfang und Ende des menschlichen Lebens, o. O. 1987, S. 41