Aus einem einzigen Steinblock schufen <den Laokoon>, seine Söhne und die wunderbaren Windungen der Schlangen nach übereinstimmendem Plan die hervorragenden Künstler Hagesandros, Polydoros und Athenodoros, alle <drei> aus Rhodos.
Dieses Zitat von Plinius dem Älteren stammt aus dessen Enzyklopädie „Naturalia historia“ um 79 n.Chr. und stellt die früheste Erwähnung des Kunstwerkes dar.
Der aus der griechischen und römischen Mythologie stammende trojanische Poseidonpriester Laokoon wurde in Vergils „Aeneis“ mitsamt seiner zwei Söhne von zwei Schlangen getötet, nachdem er die Trojaner vor der List der Griechen, dem Trojanischen Pferd, gewarnt hat. Die Trojaner sahen darin die Strafe der Götter für die Entweihung des Geschenkes, was letztlich zum Untergang Trojas führte. Die oben erwähnte Plastik zeigt Laokoon und seine beiden Söhne im Todeskampf mit den Schlangen (siehe Abb. 1).
Bis 1506 blieb die antike Skulptur aus der Zeit des Hellenismus verschollen. Nach der Wiederentdeckung begann eine Phase der intensiven künstlerischen Auseinandersetzung: Künstler zeichneten die Gruppe und fertigten Stiche, sowie Skulpturen in Bronze und Marmor.
Im 18. Jahrhundert setzte dann mit Winckelmanns „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ die intensive literarische Beschäftigung mit der Laokoon-Gruppe durch Dichter wie Goethe, Lessing und Schiller ein, wodurch die Plastik besondere Bedeutung für die Ästhetik der deutschen Aufklärung und der Weimarer Klassik gewann .
Ende des 19. Jahrhunderts bzw. Anfang des 20. Jh. findet die Skulptur wieder Beachtung, und zwar in den Arbeiten des Hamburger Kunsthistorikers Aby Warburg. Warburg beschäftigte sich intensiv mit dem „Nachleben der Antike“ in der florentinischen Kunst der Frührenaissance, unter anderem auch am Beispiel der
Laokoon-Gruppe.
In der vorliegenden Arbeit sollen anhand ausgesuchter Tafeln des Mnemosyne-Atlas, dem letzten Großprojekt Warburgs, die Ideen und das methodische Vorgehen Warburgs beleuchtet werden. Dabei wird der Fokus auf den künstlerischen Darstellungen des Laokoon liegen und deren Bedeutung für die Bildgeschichte herausgearbeitet. Einleitend soll die Wirkung von Lessings Schrift „Laokoon“ für Warburgs Denken und seine Theoriebildung untersucht werden.
Inhalt
1. Einleitung
2. Lessings „Laokoon“ als Denkanstoß
3. Der Mnemosyne-Atlas
3.1. Kurze Einführung
3.2. Tafel 4-8
3.2.1. „Urworte menschlicher Gebärdensprache“
3.2.2. Tafel 6: tragisches Pathos: vom Menschenopfer bis zum Totentanz
3.3. Tafel 41 und 41a
3.3.1. Die Rolle vorgeprägter antiker Ausdrucksgebärden in der Kunst der Renaissance
3.3.2. Tafel 41a: Laokoon – Leidenspathos
4. Fazit
5. Abbildungen
6. Abbildungsverzeichnis
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Aus einem einzigen Steinblock schufen <den Laokoon>, seine Söhne und die wunderbaren Windungen der Schlangen nach übereinstimmendem Plan die hervorragenden Künstler Hagesandros, Polydoros und Athenodoros, alle <drei> aus Rhodos.[1]
Dieses Zitat von Plinius dem Älteren stammt aus dessen Enzyklopädie „Naturalia historia“ um 79 n.Chr. und stellt die früheste Erwähnung des Kunstwerkes dar.
Der aus der griechischen und römischen Mythologie stammende trojanische Poseidonpriester Laokoon wurde in Vergils „Aeneis“ mitsamt seiner zwei Söhne von zwei Schlangen getötet, nachdem er die Trojaner vor der List der Griechen, dem Trojanischen Pferd, gewarnt hat. Die Trojaner sahen darin die Strafe der Götter für die Entweihung des Geschenkes, was letztlich zum Untergang Trojas führte. Die oben erwähnte Plastik zeigt Laokoon und seine beiden Söhne im Todeskampf mit den Schlangen (siehe Abb. 1).
Bis 1506 blieb die antike Skulptur aus der Zeit des Hellenismus[2] verschollen. Nach der Wiederentdeckung begann eine Phase der intensiven künstlerischen Auseinandersetzung: Künstler zeichneten die Gruppe und fertigten Stiche, sowie Skulpturen in Bronze und Marmor.
Im 18. Jahrhundert setzte dann mit Winckelmanns „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ die intensive literarische Beschäftigung mit der Laokoon-Gruppe durch Dichter wie Goethe, Lessing und Schiller ein, wodurch die Plastik besondere Bedeutung für die Ästhetik der deutschen Aufklärung und der Weimarer Klassik gewann[3] .
Ende des 19. Jahrhunderts bzw. Anfang des 20. Jh. findet die Skulptur wieder Beachtung, und zwar in den Arbeiten des Hamburger Kunsthistorikers Aby Warburg. Warburg beschäftigte sich intensiv mit dem „Nachleben der Antike“ in der florentinischen Kunst der Frührenaissance, unter anderem auch am Beispiel der Laokoon-Gruppe.
In der vorliegenden Arbeit sollen anhand ausgesuchter Tafeln des Mnemosyne-Atlas, dem letzten Großprojekt Warburgs, die Ideen und das methodische Vorgehen Warburgs beleuchtet werden. Dabei wird der Fokus auf den künstlerischen Darstellungen des Laokoon liegen und deren Bedeutung für die Bildgeschichte herausgearbeitet. Einleitend soll die Wirkung von Lessings Schrift „Laokoon“ für Warburgs Denken und seine Theoriebildung untersucht werden.
2. Lessings „Laokoon“ als Denkanstoß
Aby Warburg hat sich schon zu einem frühen Zeitpunkt seines Lebens mit der Skulptur der Laokoon-Gruppe auseinandergesetzt. Anstoß für seine Überlegungen lieferte Lessings Schrift „Laokoon“[4], die einen gattungsspezifischen Vergleich von bildender Kunst und Literatur zum Thema hat. Warburg verfasste in seiner Studienzeit einen Kommentar zu diesem Werk in Form eines Aufsatzes mit dem Titel “Entwurf zu einer Kritik des Laokoon an der Kunst des Quattrocento in Florenz“ (1889), welcher jedoch unveröffentlicht geblieben ist. Darin behandelt er die Frage nach der Übersetzbarkeit von einer Kunst in die andere und die Probleme der Umsetzung. In den Blick kommen die verschiedenen Medien der Kunst, vom Bild über das Relief bis zur Skulptur.[5]
Von Interesse wurde für Warburg vor allem die Frage nach der Möglichkeit der Darstellung von Bewegung im Medium des Bildes. Hier liegt nach Lessing das Kernproblem der bildenden Künste im Vergleich zur Poesie, die in der Lage ist Handlungen im Nacheinander der Zeichen auszudrücken, während die Malerei (und die anderen bildenden Künste) auf das Nebeneinander der Zeichen beschränkt ist. Hier sei nach Lessing der „fruchtbare Augenblick“ zu wählen, also der Moment, der am prägnantesten ist und ein „davor“ und „danach“ erahnen lässt. Außerdem kommt er zu dem Schluss, dass „Körper und ihre sinnlichen Eigenschaften“[6] der eigentliche Gegenstand der bildenden Künste seien.[7] Warburgs Interesse für den Ausdruck der Bewegung und der Leidenschaft findet hier seinen Antrieb[8] und wird in den sogenannten „Pathosformeln“ seinen Niederschlag finden. Somit kann Warburgs Auseinandersetzung mit Lessings ästhetischem Konzept als ein prägender Moment für die Formulierung seiner Theorie der Pathosformel gewertet werden (zur Pathosformel siehe 3.2.).[9]
Von nicht minderer Bedeutung für Warburgs weitere Arbeiten ist Lessings Position zum „Problem des Ausdrucks von Leiden, Selbstbeherrschung und Hemmungslosigkeit in Situationen äußerster Gefühlserregung“[10] zu bewerten. Lessing stellt die ästhetische Motivierung in der Malerei/Bildhauerei in den Vordergrund, die eine naturgetreue Darstellung von Schmerz und Gewalt verhindern würde; jede Störung der Schönheit müsse vermieden werden. Dies demonstriert er am Schmerzensschrei des Laokoons, welcher zu einem Seufzen gemildert werden musste, um das Gesicht nicht auf „ekelhafte Weise [zu] verstelle[n]“[11].[12] Warburg wird sich mit dem Problem der künstlerischen Wiedergabe des Pathos, also der seelischen Erregung[13], welche ihren Ausdruck in der heftigen Bewegung findet, bis zum Ende seines Lebens beschäftigen. Im Mnemosyne-Atlas, seinem letzten Projekt, wird Warburg den Schwerpunkt seiner Arbeit auf dieses Themengebiet legen: auf die „Urworte der pathetischen Gebärdensprache“[14] und deren „Nachleben“.
3. Der Mnemosyne-Atlas
3.1. Kurze Einführung
Mit dem Bilderatlas „Mnemosyne. Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance«, dem Warburg ab 1924 bis zu seinem Tod im Jahr 1929 seine gesamte Aufmerksamkeit widmete, schafft der Kunsthistoriker ein „Archiv der Kunstgeschichte als kulturelles Gedächtnis“[15] und vereint gleichzeitig seine gesamten Forschungsergebnisse und Ausstellungsprojekte.[16]
Thematisiert wird, wie der Titel schon verrät, die Kunst der Renaissance, wobei die Kunstwerke des florentinischen Quattrocento im Zentrum der Arbeit stehen. Es handelt sich jedoch nicht um eine Dokumentensammlung im Sinne eines reinen „Bilderalbums“, sondern es steht eine wichtige Frage hinter den Bildern: die Frage nach dem Einfluss der Antike (im Werk).[17]
Holztafeln, die mit schwarzen Leinen überzogen sind, bilden den Untergrund für die Elemente, die auf die Tafeln geheftet sind. Zu diesen zählen vor allem Fotografien nach Bildern, Reproduktionsfotos aus Büchern, sowie alltägliches Bildmaterial (z.B. aus Zeitungen). Die im Anschluss entstandenen Fotografien der einzelnen fertigen Tafeln sind die einzige Form, in der das Projekt erhalten ist. Das Werk konnte jedoch nicht fertig gestellt werden[18] und ist somit als „Bildlabor“[19] bzw. „dokumentiertes Arbeitsstadium“[20] zu betrachten. Insgesamt umfasst der Atlas etwa 1000 Einzelabbildungen, die auf 63 Bildertafeln verteilt sind; in Planung war ein Atlas mit der doppelten Anzahl von Abbildungen.[21]
Die Tafeln können in mehrere Gruppen unterteilt werden. Laut Fritz Saxl, Warburgs Nachfolger, kann man zwischen 6 Gruppen unterscheiden: Während eine Gruppe den Künstler und seine kulturelle Umgebung behandelt (z.B. Ghirlandajo-Tafel), werden in einer zweiten Gruppe die nordischen Motive thematisiert um den Kampf zwischen Nord und Süd zu verdeutlichen. Die Gruppe mit den antiken Vorbildern wird von den Tafeln der Renaissancebilder ergänzt, welche die antiken Motive verarbeiten; diese Tafeln bilden den Hauptteil des Atlasses. Ferner gibt es eine Gruppe mit Bildern zur Astrologie der Frührenaissance (hier wird eine „Bilderwanderung“ deutlich) und Tafeln zur Rezeption der Antike in der Nach-Renaissancekunst.[22]
Warburgs Verfahren bei der Zusammenstellung beruht auf Assoziationen und ist als Versuch zu sehen „mit bildlichen Belegen einen sinnvollen Prozess von Geschichte darzustellen“[23], indem die Vor- und Nachgeschichte von Bildern und Texten thematisiert wird.
Im folgenden Teil der Seminararbeit sollen zunächst die Tafeln mit antiker Thematik behandelt werden. Anschließend wird auf die Verarbeitung der antiken Ausdruckswerte in der Kunst der Renaissance eingegangen und am Beispiel des Laokoon eine ausführliche Deutung der Tafel in Angriff genommen.[24]
3.2. Tafel 4-8
3.2.1. „Urworte menschlicher Gebärdensprache“
Bei den Fotografien auf den Tafeln 4 bis 8 handelt es sich um Abbildungen antiker Kunstwerke, vor allem in Form des Reliefs, der Skulptur, des Sarkophags und des Freskos. [25]Auffällig ist bei diesen Darstellungen vor allem die starke Bewegung der Figuren, sowohl körperlich, als auch im Bereich der Mimik, die auf die innere Erregung schließen lässt (siehe Abb. 2). Genau darum, um den menschlichen Ausdruck, um die Gebärde geht es Warburg bei diesen Tafeln.
Die Gebärde gilt als erste Sprache, mittels derer die „Primitiven“ noch vor der Existenz von Wort- und Schriftsprache kommunizierten. Die Welt wurde also durch den eigenen Körper sinnlich wahrgenommen und gedeutet[26], wobei Gebärde und Handlung zusammenfielen.[27] Mit der Kulturentwicklung kommt es jedoch zur Differenzierung von Handlung und Ausdruck; die unmittelbare Reflexbewegung wird durch den Denkvorgang unterdrückt; „Selbstbeherrschung in der einfachen Betrachtung“[28], statt unmittelbarer Berührung der Dinge.
Diese Urformen menschlicher Erfahrungs- und Verhaltensweisen leben in den Bildern der Antike fort. Antike Gebärdensprache erweist sich somit als Repertoire seelischer Extremzustände („Höchstwerte der Gebärdensprache“[29] ), welche Warburg mit dem Terminus „Pathosformel“ zu ordnen versucht. Unter dem Begriff „Pathosformel“ versteht man also einen „langlebigen, formelhaften Darstellungstypus einer emotionsgeladenen Gebärde“[30].[31] Die leidenschaftliche Erregtheit (Pathos) als innere Antwort auf äußere Vorgänge, entspricht Ereignissen zu einem bestimmten Zeitpunkt und ist somit mit dem Augenblick und der Unbeständigkeit sowie der Bewegung gleichzusetzen.[32]
Anhand der Tafel 6 soll die Theorie der „Pathosformel“ nun exemplarisch an ausgewählten Bildern erläutert werden, wobei auch Bezug zu anderen Tafeln des Atlasses genommen wird.
3.2.2. Tafel 6: tragisches Pathos: vom Menschenopfer bis zum Totentanz
Die Laokoon-Gruppe[33] ist genau in der Mitte der Tafel platziert, wodurch der Blick zuallererst auf die Skulptur gelenkt wird (siehe Abb. 2). Laokoon, als ohnmächtiger Mensch, der dem Zorn der Götter ausgesetzt ist, verkörpert das höchste Menschenleiden. Das Leidens-Pathos kommt hier in stärkstem Maße zum Ausdruck ohne die Spur einer Hoffnung zu hinterlassen:[34]
Die Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoon, und nicht in dem Gesichte allein [siehe Abb. 4], bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket [siehe Abb. 6], und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andere Teile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezogenen Unterleibe [siehe Abb. 5] beinahe selbst zu empfinden glaubet (…).[35]
Die Bewegung der Skulpturengruppe wird vor allem durch die sich durchdringenden dynamischen Linien erzeugt, die sich in der Figur des Laokoon vereinen. Sein Körper bildet dabei eine Diagonale, in der sich die Erregtheit und die Anspannung spiegeln.[36]
Anhand dieser Beobachtungen wird ersichtlich, dass die Affekte die Macht haben einen Körper zu formen, sodass der Leib selbst zum „memorialen Träger der Affekte“[37] wird. Dies meint Warburg mit dem Begriff der „Einverseelung“[38]. In der Skulptur der Laokoon-Gruppe wird die Tragik, das „tragische Pathos“ verkörpert.
Unter der Fotografie der antiken Skulptur befindet sich die Abbildung der Laokoon-Gruppe aus einer Vergil-Handschrift (siehe Abb. 7). Diese unterscheidet sich jedoch in mehreren Teilen erheblich von der Skulptur. Zum einen sind beide Arme des Priesters in die Höhe erhoben, zum anderen kniet er mit seinem rechten Knie auf einem Steinblock. Seine beiden Söhne sind so klein dargestellt, dass sie nur ein Viertel der Größe ihres Vaters einnehmen. Laokoon ist also im Fokus der Illustration. Auffällig ist außerdem der rote Umhang der über dem Kopf des Mannes weht. In dieser Darstellung ist nichts mehr von dem ohnmächtigen Laokoon der Skulpturen-Gruppe zu sehen, der dem Tode nahe ist. Es wirkt, als ob der Priester dabei ist über die Schlangen zu siegen; die in die Höhe gerissenen Arme könnten als Zeichen von Kampfgeist interpretiert werden; der Priester wird nicht aufhören zu kämpfen, bis er den Sieg gegen die Schlangen errungen hat. Auch die Haltung des Kopfes unterscheidet sich von der Plastik; der Kopf ist dem Betrachter zugewendet und nicht kraftlos nach hinten gesunken[39].
Das gebeugte Knie ist auch auf der Tafel 8 bei der Darstellung des Mithras, der einen Stier opfert, zu sehen (siehe Abb. 10)[40]. Mithras, eine römische Göttergestalt, die die Sonne personifiziert, stützt sich auf dem Relief mit seinem Knie auf den Rücken eines Stieres auf. Es handelt sich bei dieser Haltung um eine Pathosformel, die den Sieg ausdrückt.[41] Mithras verkörpert hier die Idee des „homo victor“.[42]
Laokoon kniet wie oben erwähnt auf einem Steinblock, welcher stark an die Form antiker Sarkophage erinnert (vgl. Abb. 8, 9). Überträgt man die Bedeutung der Gebärde bei Mithras auf Laokoon, dann bezwingt bzw. versucht der Priester den Tod zu besiegen, den der Steinsarg als Stätte der Toten symbolisiert.
Der wehende Mantel ist auch Bestandteil der Mithras-Darstellung (siehe Abb. 10). Die Bewegung des Mantels soll dabei die Handlung des Kampfes vermitteln (durch die Kombination von flatterndem Gewand und kämpfender Figur), wobei der Ausdruck im Augenblick eingefangen wird. Diese Deutung kann auch auf die Laokoon-Illustration übertragen werden, da sich der Priester im Kampf mit den Schlangen befindet; das Gewand verstärkt durch seine Bewegtheit den Eindruck einer Kampfsituation. Der Umhang gehört in Warburgs Terminologie zum „äußerlich bewegten Beiwerk“[43].
Zu den beiden Darstellungen der Laokoon-Gruppe ist zusammenfassend zu bemerken, dass sich im Vergleich von Skulptur und Illustration die Wandelbarkeit der Bedeutung des Kunstwerkes zeigt. Allein durch die Veränderung des Ausdrucks bzw. der Körperhaltung, ändert sich auch die Wahrnehmung durch den Betrachter und somit der Sinn des Bildes. Eine andere Bein- und Armhaltung bewirken den Umschwung von Ausgeliefertsein und einem Zustand des Leidens zu einem Pathos des Widerstandes bzw. sogar des Triumphes.
Das Schema des angewinkelten Beines begegnet einem auch im Abbild des Reliefs „Ajax und Kassandra“ (siehe Abb. 13). Kassandra ist eine Figur aus dem griechischen Mythos, die die Gabe der Weissagung besitzt, jedoch nie Gehör findet. So warnte sie vergebens vor dem Hereinbringen des hölzernen Pferdes in die Stadt Troja. An dieser Stelle ist eine Parallele zu der Figur des Laokoon zu ziehen, der in der Vergil-Schrift auch die Trojaner vergebens vor der List der Griechen warnt und daraufhin von zwei Schlangen getötet wird.[44] In der Darstellung auf der Atlas-Tafel wird sie mit Ajax im Tempel der Athene gezeigt. Dort wurde sie dem Mythos nach von Ajax vergewaltigt. Kassandra stützt das Knie neben das Bild der Göttin, während Ajax über Kassandra herfällt. Das „gebeugte Knie“ wird hier zum Pathos des Besiegten.[45]
Mit der Mithras-Darstellung und dem Kassandra-Relief wird jene „Polarität“ deutlich, die den Pathosformeln eigen ist. Ein und dieselbe Gebärde („gebeugtes Knie“) kann sowohl für das Pathos des Siegers als auch des Besiegten stehen; konstante Formen unterliegen inhaltlichen Umdeutungen.[46]
Der Isis-Kult zählt zu einem der bekanntesten Mysterienkulte der antiken Welt. Im Fresko (siehe Abb. 14) präsentiert der Priester das Gefäß mit Weihwasser. Das kultische Erlebnis erscheint hier als „Urprägewerk in der Ausdruckswelt tragischer Ergriffenheit"[47]. In der „orgiastischen Hingabe“[48] sind laut Warburg die „Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins“[49] zu suchen.
Auch die tanzende Mänade (siehe Abb. 15) ist im Bereich des Kultes anzusiedeln. Die Mänaden sind Begleiterin der dionysischen Züge, die dem Gott der Ekstase gelten. Die Mänade steht für wilde Leidenschaft, Wut und Raserei. Es ist die Mänade, die den Orpheus erschlägt, die mit Schlangen tanzt und dionysische Riten vollzieht.[50]
Auf der Darstellung (siehe Abb. 15) hält die Frau einen Dolch mit der rechten Hand über ihren Kopf und in der linken Hand hält sie die Hälfte eines toten Tieres. Bei den orgiastischen Riten des Dionysos wurden wilde Tiere zerrissen und gegessen. Auch die Beine der Frau ruhen nicht still auf dem Boden, sondern vollziehen eine Schrittbewegung nach vorne. An dem Detail des flatternden Gewandes („bewegtes Beiwerk“) der Mänade ist die Handlung, also die Bewegung des Körpers, besonders gut ablesbar. Die Mänade tanzt sich in Ekstase.
Der antike Mythos wird auf der vorgestellten Tafel (Tafel 6) in seinen Extremerfahrungen, den „Superlativen der Ausdruckswerte“, vorgeführt[51]. Vom Menschenopfer, über die opfernde Mänade, über den Tod des Priesters (Laokoon) und die Totenklage (Conclamatio) bis zum Isis-Kult. Betont wird das „Nachtseitige, thiasotisch Wilde“[52] der griechischen Antike.[53] Der Tod des Laokoon wird dabei zum Symbol antiker Leidenschaft.[54]
[...]
[1] Plinius der Ältere: Naturalis Historia. Naturkunde. 38 Bde., lat.-dt., hrsg. und übers. von R. König/ J. Hopp/ W. Glöckner (Sammlung Tusculum), Düsseldorf [u.a.] 2000, S. 37.
[2] Das genaue Entstehungsdatum ist nicht bekannt. Es ist die Rede von der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. oder dem Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr. Außerdem wird vermutet, dass es sich bei der Skulptur um eine Marmorkopie handelt. Das Original war wahrscheinlich eine um 200 v. Chr. entstandene Bronzeplastik aus Pergamon, die nicht erhalten ist.
[3] Winkelmann beschreibt die Skulptur mit den Worten „stille Einfalt und […] edle Größe“ (Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, hrsg. von Ludwig Uhling, Ditzingen 2007, S. 20.)
[4] Vgl. Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie (= Europäische Bibliothek, Bd. 12), Hamburg 1992, S. 41.
[5] Aufgrund des beschränkten Umfangs dieser Seminararbeit kann auf den Aufsatz nicht näher eingegangen werden. Festzuhalten bleibt, dass Warburg in Lessings „Laokoon“ eine Methode zur Analyse von Ghibertis zweiter Tür am Babtisterium in Florenz gefunden hat. Während die Laokoon-Gruppe in ihrer Übertragung von Literatur in die Bildhauerei betrachtet wird (bei Lessing), wird bei Ghiberti laut Warburg Malerei in die Form des Reliefs ‚übersetzt‘ (Vgl. Espagne, Michel: Le Laocoon de Lessing entre Carl Justi et Aby Warburg. In: Élisabeth Décultot, Jacques Le Rider, Francois Queyrel (Hrsg.): Le Laocoon. Histoire et réception, Paris 2003, S. 221–236.).
[6] Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, hrsg. von Wilfried Barner, Frankfurt a.M. 1990, S. 209.
[7] Vgl. ebd., S. 209 f.
[8] „Als richtungsweisend für sein Denken hat Warburg häufig Lessings Laokoon genannt, das er gemeinsam mit seinem Lehrer Oscar Ohlendorf gelesen hatte.“ (Gombrich, Aby Warburg, S. 41.)
[9] Vgl. Zumbusch, Cornelia: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk (= Studien aus dem Warburg-Haus, Bd. 8), Berlin 2004, S. 170.
[10] Gombrich, Aby Warburg, S. 41.
[11] Lessing, Laokoon, S. 29.
[12] Vgl. ebd., S. 29 ff.
[13] Vgl. Settis, Salvatore: Pathos und Ethos, Morphologie und Funktion. In: Vorträge aus dem Warburg-Haus 1, Berlin 1997, S. 35.
[14] Didi-Huberman, Georges: L' image survivante. histoire de l'art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002, S. 245.
[15] Flach, Sabine/Münz-Kauen, Inge/Streisand, Marianne (Hrsg.): Der Bilderatlas im Wechsel der Künste du Medien (= TRAJEKTE. Eine Reihe des Zentrums für Literaturforschung). Berlin 2005, S. 111.
[16] Vgl. Warburg, Aby: Der Bilderatlas MNEMOSYNE, hrsg. von Martin Warnke unter Mitarb. von Claudia Brink. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Studienausgabe: Aby Warburg, hrsg. von Horst Bredekamp, 2. Abt., Bd. II, Berlin 32008, S. XVIII.
[17] Ebd.
[18] Dem Atlas sollte eigentlich noch ein Text beigefügt werden, der Warburgs theoretische und methodologische Anschauungen mit dem Bilderatlas verknüpft. Notizen und eine von Warburg verfasste Einleitung zum Atlas sind die einzige Orientierungshilfe zur Deutung des Projekts. (Vgl. Galitz, Robert/ Reiners, Brita (Hrsg.): Aby M. Warburg. »Ekstatische Nymphe … trauernder Flußgott«. Portrait eines Gelehrten (= Schriftenreihe der Hamburgischen Kulturstiftung, Bd.2), Hamburg 1995, S. 155.)
[19] Warburg, Bilderatlas MNEMOSYNE, S. VII.
[20] Ebd.
[21] Vgl. ebd.
[22] Vgl. Saxl, Fritz: Warburgs Mnemosyne-Atlas. In: Wuttke, Dieter (Hrsg.): Aby M. Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen (= Saecula spiritalia, Bd. 1), Baden-Baden 1979, S. 313ff.
[23] Kany, Roland: Die religionsgeschichtliche Forschung an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (= GRATIA. Bamberger Schriften zur Renaissanceforschung, H. 19). Bamberg 1989, S. 180.
[24] Die Deutung der Tafel kann aufgrund des beschränkten Umfanges von Sekundärliteratur zu diesem Thema nur als Versuch gelesen werden, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und sich zu einem gewissen Teil auf eigene Erkenntnisse stützt.
[25] Bauerle, Dorothee: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene. Ein Kommentar zu Aby Warburgs Bilderatlas MNEMOSYNE (= Kunstgeschichte: Form und Interesse, Bd. 15), Diss. Münster 1988, S. 70.
[26] Vgl. ebd, S. 26.
[27] Vgl. Gombrich, Aby Warburg, S. 61.
[28] Ebd, S. 62.
[29] Warburg, Bilderatlas MNEMOSYNE, S. 3.
[30] Kany, religionsgeschichtliche Forschung, S. 168.
[31] Um die Wirkung dieser Formeln auf die Formensprache der Renaissance wird es im nächsten Abschnitt (siehe 3.3.) der Arbeit gehen.
[32] Vgl. Settis, Pathos und Ethos, S. 35-39.
[33] Es handelt sich um die ergänzte Laokoon-Gruppe (mit gestrecktem Arm) durch Montorsoli um 1531 vor der Auffindung des Armes (siehe Abb. 3).
[34] Vgl. Bauerle, Gespenstergeschichten, S. 84.
[35] Winckelmann, Gedanken, S. 20.
[36] Vgl. Duby, Georges/ Daval, Jean-Luc (Hrsg): Skulptur. Von der Renaissance bis zur Gegenwart, Köln 2006, S. 646.
[37] Böhme, Hartmut: ABY M. WARBURG (1866 - 1929). In: Michaels, Axel (Hrsg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade; München 1997 (<http://www.culture.hu-berlin.de/hb/static/archiv/volltexte/pdf/Warburg.pdf> 27.03.2010), S. 31.
[38] Warburg, Bilderatlas MNEMOSYNE, S. 3.
[39] Leider ist der Gesichtsausdruck auf der Abbildung nicht erkennbar, sodass die Mimik nicht zur Stützung meiner These herangezogen werden kann.
[40] Es werden mehrere Darstellungen des Stieropfers auf der Tafel gezeigt (siehe Abb. 10-12). Dies zeigt wiederum, dass das Motiv in seinem Ausdruckswert („gebeugtes Knie“) immer wieder aufgegriffen wurde und bestätigt somit Warburgs These vom „Weiterleben der vorgeprägten Ausdruckswerte“.
[41] Vgl. Settis, Pathos und Ethos, S. 40.
[42] Gombrich, Aby Warburg, S. 388.
[43] Unter „ äußerlich bewegtem Beiwerk“ versteht Warburg vor allem die Gewandung und die Haare. In seiner Dissertation über Botticelli untersuchte er, wie der Renaissancekünstler in seinen Werken „Die Geburt der Venus“ und der „Frühling“ sich an antike Vorbilder anlehnt (an Gewandung und Haare) um eine gesteigerte äußere Bewegung auszudrücken. (Vgl. Warburg, Aby: Sandro Botticellis "Geburt der Venus" und "Frühling". Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance, In: Wuttke, Dieter (Hrsg.): Aby M. Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen (= Saecula spiritalia, Bd. 1), Baden-Baden 1979, S. 13.)
[44] Es ergeben sich somit auch Beziehungen zwischen den Bildern auf inhaltlicher Ebene und nicht nur auf formaler Basis.
[45] Vgl. Settis, Pathos und Ethos, S. 40.
[46] „Die Bildersprache der Gebärde, […] zwingt durch solche gedächtnismäßige Funktion auf Architekturwerken […] und Plastik […] durch die unzerstörbare Wucht ihrer Ausdrucksprägung zum Nacherleben menschlicher Ergriffenheit in dem ganzen Umfange ihrer tragischen Polarität vom passiven Erdulden bis zur aktiven Sieghaftigkeit.“ (Warburg, Bilderatlas MNEMOSYNE, S. 5.)
[47] Böhme, Aby Warburg, S. 31.
[48] Warburg, Bilderatlas MNEMOSYNE, S. 3.
[49] Ebd.
[50] Vgl. Raulff, Ulrich: Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg (=Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 19), Göttingen 2003, S. 25.
[51] „Die ungehemmte Entfesselung körperlicher Ausdrucksbewegung […] umfängt die ganze Skala kinetischer Lebensäußerung phobisch-erschütterten Menschentums von hilfloser Versunkenheit bis zum mörderischen Taumel und alle mimischen Aktionen, die dazwischen liegen[…].“ (Warburg, Bilderatlas MNEMOSYNE, S.4.)
[52] Bauerle, Gespenstergeschichten, S 84.
[53] Das Pathos des griechischen Leidens wird in der nächsten Tafel („Tafel 7“) umgeformt in die „jubelnde Leidenschaft von Krieg und Triumph“ (Gombrich, Aby Warburg, S. 388) des römischen Militarismus.
[54] Vgl. Bauerle, Gespenstergeschichten, S. 84.