„Die Ästhetik als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.“ Mit dieser Definition begründete Alexander Gottlieb Baumgarten im Jahr 1750 die Ästhetik als eigenständige philosophische Disziplin. Dahinter steht die Überzeugung, dass Erkenntnis ohne Sinneserfahrung nicht möglich sei; Sinnlichkeit wird als „eine der Vernunftwahrheit analogen autonomen Kraft“ etabliert, was mit einer „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ gegen rationalistische Vereinseitigungen, gegen rein abstrakte Erkenntnis, einhergeht. Der „klar-deutlichen“ Erkenntnis wird die „klar verworrene“ Erkenntnis zur Seite gestellt.
Der Kunst, als einem Bereich der Sinneserfahrung, kommt dadurch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermehrte Aufmerksamkeit zu. Die Ästhetik als Kunsttheorie zielt auf die Gesamtheit der Künste; insbesondere rücken ihre Beziehungen zueinander in den Fokus des Interesses, sowie die Hierarchisierung der Künste. Was zeichnet die einzelnen Künste aus? Wo liegen ihre Möglichkeiten und Grenzen? Was können sie besonders gut? Welche Kunst ist die überlegene? Fragen wie diese beschäftigen sich mit der Materialität und Medialität der einzelnen Künste. Gotthold Ephraim Lessing liefert mit seiner Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie entscheidende Antworten zu dieser Thematik.
In der vorliegenden Arbeit sollen Lessings medientheoretischen Überlegungen herausgearbeitet werden, welche dieser in einem Vergleich von Dichtung und Malerei entwickelt und welche im Kontext des sich um 1750 herausbildenden Sprachbewusstsein gesehen werden müssen. Die Rolle des Mediums für die Kunst wird zunächst theoretisch erörtert. Neben Lessing werden auch die ästhetischen Theorien von Moses Mendelssohn und Karl Philipp Moritz behandelt, indem ihr jeweiliger Beitrag zu einer Differenzierung und Hierarchisierung der Künste in den Fokus gerückt wird. Ein anschließender Vergleich soll eine Entwicklung der Ästhetik als Theorie der Künste aufzeigen, hin zur Eigenständigkeit und Autonomie der Künste.
Inhalt
1. Einleitung
2. Zum Medienbegriff
3. Mendelssohn, Lessing und Moritz und ihre Theorie der Medien
3.1 Mendelssohn - Theorie natürlicher und willkürlicher Zeichenverwendung
3.2 Lessing - Handlungen als medienspezifisches Kriterium der Poesie
3.3 Moritz - Sprache als gewalttätiges Medium
4. Vergleichende Gegenüberstellung
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Die Ästhetik als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.“[1] Mit dieser Definition begründete Alexander Gottlieb Baumgarten im Jahr 1750 die Ästhetik als eigenständige philosophische Disziplin. Dahinter steht die Überzeugung, dass Erkenntnis ohne Sinneserfahrung nicht möglich sei; Sinnlichkeit wird als „eine der Vernunftwahrheit analogen autonomen Kraft“[2] etabliert, was mit einer „Rehabilitation der Sinnlichkeit“[3] gegen rationalistische Vereinseitigungen, gegen rein abstrakte Erkenntnis, einhergeht. Der „klar-deutlichen“ Erkenntnis wird die „klar verworrene“ Erkenntnis zur Seite gestellt.
Der Kunst, als einem Bereich der Sinneserfahrung, kommt dadurch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermehrte Aufmerksamkeit zu.[4] Die Ästhetik als Kunsttheorie[5] zielt auf die Gesamtheit der Künste; insbesondere rücken ihre Beziehungen zueinander in den Fokus des Interesses, sowie die Hierarchisierung der Künste. Was zeichnet die einzelnen Künste aus? Wo liegen ihre Möglichkeiten und Grenzen? Was können sie besonders gut? Welche Kunst ist die überlegene? Fragen wie diese beschäftigen sich mit der Materialität und Medialität der einzelnen Künste. Gotthold Ephraim Lessing liefert mit seiner Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie entscheidende Antworten zu dieser Thematik.
In der vorliegenden Arbeit sollen Lessings medientheoretischen Überlegungen herausgearbeitet werden, welche dieser in einem Vergleich von Dichtung und Malerei entwickelt und welche im Kontext des sich um 1750 herausbildenden Sprachbewusstsein gesehen werden müssen.[6] Die Rolle des Mediums für die Kunst wird zunächst theoretisch erörtert. Neben Lessing werden auch die ästhetischen Theorien von Moses Mendelssohn[7] und Karl Philipp Moritz[8] behandelt, indem ihr jeweiliger Beitrag zu einer Differenzierung und Hierarchisierung der Künste in den Fokus gerückt wird. Ein anschließender Vergleich soll eine Entwicklung der Ästhetik als Theorie der Künste aufzeigen, hin zur Eigenständigkeit und Autonomie der Künste.
2. Zum Medienbegriff
„Medium ist immer ein System von Mitteln für die Produktion, Distribution und Rezeption von Zeichen.“[9] In dieser Definition erscheinen Medien nicht nur als Mittler und Vermittler, sondern es wird auch der unauslöschliche Zusammenhang zwischen Medien- und Zeichenbegriff herausgestellt. Medien sind an semiotische Prozesse gebunden; die Bedeutungen, die sie transportieren können niemals von ihrem Träger, dem Medium losgelöst werden. In diesem Zusammenhang von Relevanz sind außerdem das Material und die Form: Das Material stellt den noch ungeformten Ausgangspunkt für mediale Prozesse dar, welches eine Formung im Kontext künstlerischer oder nicht-künstlerischer Zeichenprozesse erfährt.[10]
In der Kunst, also bei ästhetischen Medien, herrscht eine besonders enge Bindung zwischen Zeichen (Signifikant) und Bezeichnetem (Signifikat) und damit zwischen Botschaft und Medium.[11]
Für das Wesen der Kunst ist das Medium bestimmend, in dem sie zur Erscheinung kommt, was wiederum eine Verschiedenheit innerhalb des Systems der Kunst impliziert.[12] Die unterschiedlichen medial geprägten Möglichkeiten der einzelnen Kunstformen sind schon in der Antike ins Blickfeld gerückt worden. Das Verhältnis von Wort und Bild bzw. Dichtung und Malerei wurde bereits im 6. Jh. v. Chr. bestimmt: Simonides charakterisierte die Malerei als stumme Poesie und die Poesie als redende Malerei. Schon hier wird deutlich, dass Malerei und Poesie in ihrem wechselseitigen Verhältnis gesehen wurden. Im 1. Jh. v. Chr. prägte Horaz die Zeile „ut pictura poesis“[13]. Die Formel betont die strukturelle Ähnlichkeit der beiden Künste und gewinnt im 18. Jahrhundert eine besonders große Breitenwirkung.[14] Lessings Kritik wird sich mit seinem Laokoon genau gegen dieses Postulat richten, gegen die Abhängigkeit der Dichtkunst von der Malerei, und für eine Differenzierung der Künste eintreten (siehe 3.2).
Allgemein existieren zwei verschiedene Arten der Repräsentation bei Kunstwerken: Zeigen und Sagen. Das Prinzip der Ähnlichkeit dient dabei als Unterscheidungskriterium. Während bei der bildhaften Repräsentation („zeigen“) eine Ähnlichkeit zwischen Signifikat und Signifikant hergestellt werden kann[15], fehlt diese im zweiten Fall („sagen“); hier ist der Zusammenhang zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem beliebig[16] (arbiträr) und allein aufgrund einer vorher vereinbarten sozialen Konvention bestimmt worden.[17] Aufgrund der Sinnlichkeit der Zeichen selbst kommt der Zeigefunktion im Kontext der Kunst eine herausgehobene Rolle zu.[18]
Inwiefern Mendelssohn, Lessing und Moritz in diesem Kontext Stellung bezogen haben, wird im folgenden Teil der Arbeit untersucht.
3. Mendelssohn, Lessing und Moritz und ihre Theorie der Medien
3.1 Mendelssohn - Theorie natürlicher und willkürlicher Zeichenverwendung
In seinen Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften (1757) geht Mendelssohn den Fragen nach, was Kunst ist, wie sie wahrgenommen wird und worin ihre ästhetischen Qualitäten liegen.
Mendelssohn unterscheidet zwischen den schönen Künsten und Wissenschaften. Ersteren werden Malerei, Bildhauerei, Musik und Tanzkunst zugeordnet, letzteren die Dichtkunst und Rhetorik bzw. „Beredsamkeit“ (Vgl. MS[19], S. 175). Zur Grundlage der Differenzierung der Künste werden die Zeichen „vermittels welcher ein Gegenstand ausgedruckt wird“ (MS, S. 174). Während die schönen Künste sich natürlicher Zeichen bedienen, also Tönen, Gebärden und Bewegungen, arbeitet die Dichtung mit willkürlichen Zeichen, zu denen die „artikulierten Töne aller Sprachen, die Buchstaben, die hieroglyphischen Zeichen der Alten, und einige allegorische Bilder“ (MS, S. 174) gerechnet werden. Erstere bauen auf einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem auf, letztere auf einer Konventionsbeziehung. Der im vorhergehenden Teil der Arbeit konstatierte Zusammenhang von Medien- und Zeichentheorie wird hier von Mendelssohn entfaltet.
Mendelssohns Unterscheidung bleibt an dieser Stelle jedoch nicht stehen. Die Konsequenz, die er aus der Differenzierung zieht, ist eine Beschränkung der Gegenstandsbereiche der verschiedenen Künste: Die schönen Künste seien durch den Gebrauch natürlicher Zeichen eingeschränkter als die Dichtkunst. „Daher muss sich eine jede Kunst mit dem Theile der natürlichen Zeichen begnügen, den sie sinnlich ausdrücken kann.“ (MS, S. 176) Die Grenzen der natürlichen Zeichen bestimmen die Grenzen der Darstellung des Künstlers.[20] Die Dichtkunst, welche mit willkürlichen Zeichen operiert, definiert Mendelssohn als „vollkommen sinnliche Rede“ (MS, S. 175). Die Wahl der Ausdrücke orientiert sich an dem Ziel einer lebendigen, anschauenden Rede, welche „das Bezeichnete deutlicher empfinden lassen, als das Zeichen“ (MS, S. 175).
Das gemeinsame Ziel aller schönen Künste und Wissenschaften, die „anschauende Erkenntnis“ (MS, S. 170), die Mendelssohn mit Schönheit gleichsetzt, wird also nur erreicht, wenn der Gegenstand den Sinnen unmittelbar gegenwärtig ist (schöne Künste) bzw. wenn die Zeichen, die den Gegenstand vorstellen, hinter den Ideen des Bezeichneten verschwinden (Dichtkunst) (Vgl. MS, S. 170).[21] Der Zuwachs an Sinnlichkeit führt gleichzeitig zu einem Zunahme des Wertes eines Kunstwerks.[22] „Vollkommenheit“, „Uebereinstimmung“ und „Unfehlerhaftes“ (MS, S. 169) stellt Mendelssohns als Leitkategorien für die Künste heraus: „Das Wesen der schönen Künste und Wissenschaften besteht in dem sinnlichen Ausdruck der Vollkommenheit.“ (MS, S. 170) Des Weiteren betont Mendelssohn die Ordnung und Regelmäßigkeit: „Die Theile müssen auf eine sinnliche Art übereinstimmen, ein Ganzes ausmachen.“ (MS, S. 172)
Mendelssohn unterscheidet ferner die Künste nach den Sinneswahrnehmungen: Die natürlichen Zeichen werden entweder durch das „Gehör“, wie im Fall der Musik, oder mit dem „Gesicht“ aufgenommen, wie bei der Malerei (Vgl. MS, S. 176). Gleich darauf folgt eine weitere Ausdifferenzierung der Künste nach nebeneinander und nacheinander angeordneten Zeichen.[23] Die Malerei bedient sich Linien und Figuren auf der Fläche, die Bildhauerei drückt Körper aus; beiden dienen sichtbare natürliche Zeichen als Grundlage (Vgl. MS, S. 176 f.). Das Nebeneinander der Zeichen in Malerei und Bildhauerei hat zur Konsequenz, dass der Künstler „die ganze Handlung in einem einzigen Gesichtspunkte versammeln“, also den „günstigsten Augenblick“ wählen muss. „Alles muss in diesem Augenblicke voller Bewegung seyn.“ (MS, S. 178) Vergangenes und Zukünftiges müssen aus der Darstellung für die Einbildungskraft hervorgehen (Vgl. MS, S. 178). Mendelssohn betont hier den Bewegungsmoment, welcher die Malerei auszeichnet. Der Dichtung hingegen ist die Bewegung bereits eigen, weil die Zeichen aufeinander folgen. Eine Verbindung einer Kunst mit nebeneinander geordneten Zeichen mit einer Kunst, deren Zeichen nacheinander folgen, ist nach Mendelssohn fast unmöglich und der Natur vorbehalten (Vgl. MS, S. 189).
Mit den genannten Präzisierungen werden den einzelnen Künsten individuelle Grenzen bzw. Regeln gesetzt auf der Basis ihres jeweiligen Zeichengebrauchs. Ulrich Ricken geht sogar so weit die Betrachtungen als „erste zeichentheoretisch begründete Systematik der Künste“[24] zu bezeichnen.
Im letzten Teil seines Textes entwickelt Mendelssohn eine „Grammatik“ für die Kombination der Künste.[25] Um die Sinnlichkeit des Ausdrucks zu steigern, propagiert Mendelssohn eine Verbindung der Künste zu einer „zusammengesetzten Vollkommenheit“ (MS, S. 183). Als Beispiel nennt er die Oper, welche Musik und Dichtkunst vereint und somit in der Lage ist mehrere Sinne gleichzeitig anzusprechen (Vgl. MS, S. 186).
Zu der Frage nach der absoluten Überlegenheit einer Kunst über die andere nimmt Mendelssohn für David E. Wellbery keine Stellung. Jede Kunst verfüge über einen eigenen Kompetenzbereich, einen Bereich von Inhalten, welchen sie am wirkungsvollsten auszudrücken vermöge.[26] Dem ist jedoch zu widersprechen, wenn man Mendelssohns Äußerung zum eingeschränkteren Gegenstandsbereich der Künste mit natürlicher Zeichenverwendung einbezieht. Darin klingt die größere Freiheit der Dichtung durch, welche derselben aufgrund ihrer willkürlichen Zeichen gegeben ist. In der Hierarchie der Künste ist also eine Überlegenheit der Poesie über die Malerei zu konstatieren. Innerhalb der bildenden Künste ergibt sich je nachdem, welche Sinne durch die natürlichen Zeichen angesprochen werden - Gehör oder Gesicht - eine weitere Ordnung. Schönheit wird demnach entweder durch Bewegungen, bei denen die natürlichen Zeichen aufeinander folgen, oder durch Formen, bei denen ein Nebeneinander der natürlichen Zeichen vorliegt, ausgedrückt. Als Beispiel für eine Kunst, die Bewegung zur Grundlage hat, nennt Mendelssohn die Tanzkunst (Vgl. MS, S. 176).
3.2 Lessing - Handlungen als medienspezifisches Kriterium der Poesie
Mendelssohns Betrachtungen dienen Lessing als Grundlage bzw. „Rohmaterial“[27] seiner eigenen vergleichenden Kunsttheorie, die er in seiner Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) entwirft.[28] So übernimmt er alle wesentlichen Elemente der Mendelssohnschen Theorie; jedoch ändert sich die Schwerpunktsetzung. Bei Lessing steht nicht die Unterscheidung nach natürlichen und willkürlichen Zeichen im Vordergrund, sondern die Differenz in der Anordnung der Zeichen im Neben- und Nacheinander. Hierin gründet sich für Lessing der Hauptunterschied zwischen Poesie und Malerei.
Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Autoren ergibt sich beim Vergleich der behandelten Künste. Während sich Mendelssohn in seinen Betrachtungen vor allem dem Gebiet der natürlichen Zeichen, also insbesondere der Malerei, Bildhauerei, Musik, Tanzkunst und Baukunst widmet und in diesen Künsten die Unterscheidung von natürlicher Zeichenverwendung in der Folge aufeinander oder nebeneinander vornimmt[29], verschiebt sich das Interesse bei Lessing auf den Bereich der willkürlichen Zeichen, auf die Poesie, die bei Mendelssohn noch weitgehend unbeachtet geblieben ist. Die Bewegung, die Mendelssohn als Kriterium der Tanzkunst herausgestellt hatte (siehe S. 6), wird von Lessing als ein wesentliches Gebiet der Poesie etabliert. Diese soll Bewegungen darstellen und zwar in Form von Handlungen: Dichtung als „sichtbare fortschreitende Handlung, deren verschiedenen Teile sich nach und nach, in der Folge der Zeit, eräugnen“ (L[30], S. 102) zeichnet sich also durch Sukzession aus.[31] Gleichzeitig wird in dieser Definition der Begriff der „Handlung“ als Gegenbegriff zur Bildstruktur eingeführt, der für Lessings Differenzierung der Künste von großer Bedeutung ist. „Gegenstände, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.“ (L, S. 103) Da Handlungen sich gleichermaßen wie Sprache durch Sukzession auszeichnen, ergibt sich eine Parallelität von Handlungs- und Wortfolge.[32] „Gegenstände, die neben einander oder deren Teile neben einander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften, die eigentlichen Gegenstände der Malerei.“ (L, S. 102) Die Bildhauerei und Malerei als „sichtbar stehende Handlung“ (L, S. 102) zeichnen sich durch Koexistenz aus. Die wesentlichen Unterscheidungskriterien von Malerei bzw. bildender Kunst[33] und Poesie kann man also folgendermaßen gegenüberstellen: Koexistenz der Zeichen versus Sukzession der Zeichen, Raum versus Zeit, Ruhe versus Bewegung. Um es mit Wellbery in semiotischer Terminologie auszudrücken: „Opposed to the dense, spatial syntax of painting is the discrete and temporal syntax of poetry.“[34] Aus dieser Begrenzung der Gegenstandsbereiche der verschiedenen Künste entsprechend ihres jeweiligen medialen Vermögens, folgert Lessing, dass die Malerei andeutungsweise durch Körper Bewegungen, und umgekehrt die Poesie andeutungsweise durch Bewegungen Körper schildern kann (Vgl. L, S. 103). Als Vorbild nennt er Homer, der alle Beschreibungen als Handlung gestaltet, als Geschichte des Gegenstandes: „Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muß sich der König vor unsern Augen seine völlige Kleidung Stück für Stück umtun […].“ (L, S. 105)
[...]
[1] Schweizer, Hans Rudolf (Hrsg.): Alexander Gottlieb Baumgarten. Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der "Aesthetica" (1750/58). 2., durchges. Aufl. Hamburg: Meiner 1988. S. 4.
[2] Jørgensen, Sven Aage/ Bohnen, Klaus/ Øhrgaard, Per: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik: 1740 – 1789. München: Beck 1990. S. 55.
[3] Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München: Dt. Taschenbuch-Verl. 1986. S. 19.
[4] Baumgarten hat mit seiner Lehre der sinnlichen Erkenntnis der Kunst einen eigenen, selbstständigen Wert gegeben. (Vgl. Jørgensen, S.: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. S. 120.)
[5] Ästhetik hat 3 Grundbedeutungen: 1. Lehre vom Schönen, 2. Lehre von den Sinneswahrnehmungen, 3. Theorie der Künste.
[6] Dieses neue Sprachbewusstsein hängt vor allem mit dem Heraustreten der Literatur aus der Rhetorik zu tun (Vgl. Oschmann, Dirk: Bewegliche Dichtung: Studien zum sprach- und literaturtheoretischen Konzept der "Bewegung" bei Lessing, Moritz, Schiller und Kleist. Jena, Univ., Habil., 2005. S. 14 f.).
[7] Als Grundlage dient seine Schrift: Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften (1757) .
[8] Als Grundlage dient seine Schrift: Die Signatur des Schönen oder Inwiefern Kunstwerke beschrieben werden können ? (1788).
[9] Reck, Hans Ulrich: Kunst als Medientheorie. Vom Zeichen zur Handlung. München: Fink 2003. S. 507.
[10] Vgl. Brandstätter, Ursula: Grundfragen der Ästhetik. Bild - Musik - Sprache - Körper. Köln [u.a.]: Böhlau 2008. S. 120f.
[11] Vgl. ebd. S. 122.
[12] Vgl. Stierle, Karlheinz: Das bequeme Verhältnis. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums. In: Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik. Hrsg. von Gunter Gebauer. Stuttgart: Metzler 1984. S. 23-51, hier: S. 39.
[13] Übersetzung: „Die Poesie möge sein wie die Malerei.“
[14] Vgl. Fick, Monika: Lessing-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. 3., neu bearb. und erw. Aufl. Stuttgart [u.a.]: Metzler 2010. S. 266.
[15] Nimmt man z.B. das gemalte Bild eines Baums (Signifikant), so stellt man fest, dass dieses gemeinsame Eigenschaften mit dem Baum in der Natur (Signifikat) in Hinblick auf Farbe, Form, usw. aufweist.
[16] So verweist der Begriff „Baum“ auf den Baum in der Natur, ohne diesem selbst ähnlich zu sein.
[17] Vgl. Brandstätter, U.: Grundfragen der Ästhetik. S. 87.
[18] Vgl. ebd. S. 89.
[19] Anm.: „MS“ wird als Abkürzung für „Mendelssohn“ verwendet. Allen mit „MS“ gekennzeichneten Zitaten liegt die folgende Textausgabe zugrunde: Mendelssohn, Moses: Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften. In: Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften: Jubiläumsausgabe. Schriften zur Philosophie und Ästhetik. Bearb. Von Fritz Bamberger. Faks.-Neudr. der Ausg. Berlin 1929. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1971. S. 167-190.
[20] Mendelssohn benutzt den Begriff „Grenze“ selbst (vgl. MS, S. 178).
[21] Der Ausdruck „anschauende Erkenntnis“ geht auf Baumgarten zurück und rekurriert auf das „untere Erkenntnisvermögen“. Mendelssohn ist an dieser Stelle in einer Linie mit Baumgarten zu sehen.
[22] Die Darstellung soll also nicht mehr nach dem „movere“-Konzept der Rhetorik das Gemüt des Rezipienten bewegen, sondern ihm anschauende Erkenntnis ermöglichen (Vgl. Oschmann, D.: Bewegliche Dichtung. S. 76 f.)
[23] Die Unterscheidung der Künste nach der Ordnung der Zeichen wurde bereits von James Harris vorgenommen. In seinen Schriften A Dialogue Concerning Art und A Discourse on Music, Painting and Poetry von 1744 unterscheidet Harris zwischen werkhaften (Nebeneinander der Zeichen) und energetischen (Nacheinander der Zeichen) Künsten. Zu den ersteren zählt er Malerei, Skulptur und Architektur, zu den letzteren Musik, Tanz und Dichtung.
[24] Ricken, Ulrich: Mendelssohn und die Sprachtheorien der Aufklärung. In: Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung. Hrsg. von Michael Albrecht und Eva J. Engel. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2000. S. 195-237, hier: S. 217.
[25] Vgl. Wellbery, David E.: Lessings "Laocoon". Semiotics and aesthetics in the 'Age of Reason'. Cambridge [u.a.]: Cambridge Univ. Press 1984. S. 92.
[26] Vgl. ebd. S. 97.
[27] Goldstein, Ludwig: Moses Mendelssohn und die deutsche Ästhetik. Königsberg i. Pr.: Gräfe & Unzer 1904. S. 205.
[28] Lessing wurde schon vor Abschluss der Betrachtungen über den Gegenstand informiert und blieb darüber mit Mendelssohn im Gespräch. (Vgl. Ulrich R.: Mendelssohn und die Sprachtheorien der Aufklärung. S. 219.)
[29] Vgl. hierzu die von Wellbery entworfene Grafik zu „Aesthetic representations“ bei Mendelssohn, die auf der Seite der natürlichen Zeichen um einiges ausdifferenzierter erscheint (Vgl. Wellbery, D.: Lessings "Laocoon". S. 88).
[30] Anm.: „L“ wird als Abkürzung für „Lessing“ verwendet. Allen mit „L“ gekennzeichneten Zitaten liegt die folgende Textausgabe zugrunde: Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. In: Gotthold Ephraim Lessing - Werke. Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften. Hrsg. von Herbert G. Göpfert. Bearb. dieses Bd. Albert von Schirnding. Bd. 6. München: Hanser 1974. S. 12-115.
[31] Bei Lessing sind die Begriffe Veränderung, Bewegung und Handlung eng miteinander verknüpft (Vgl. Oschmann, D.: Bewegliche Dichtung. S. 118.)
[32] Vgl. Oschmann, Dirk: Bewegliche Dichtung: Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. München [u.a.]: Fink 2007. S. 105.
[33] Lessing nimmt keine Unterscheidung zwischen Malerei und Plastik vor, was ihm wiederholt Kritik einbrachte.
[34] Wellbery, D.: Lessings "Laocoon". S. 132.