Deutschland ist ein durch Sprachenvielfalt geprägtes Land. Mehr als jeder fünfte Heranwachsende in Deutschland hat einen Migrationshintergrund, wobei die Mehrheit der Kinder hierzulande geboren und aufgewachsen ist. Mit 2,5 Millionen Menschen stellen türkischstämmige Personen, die in Deutschland größte lebende Minderheit dar. Demzufolge ist die türkische Sprache weit verbreitet.
Ein großer Teil der Heranwachsenden wächst deshalb mit zwei oder mehreren Sprachen auf, d.h. die Erst- bzw. Zweitsprache ist eine andere als Deutsch. Kinder bringen dadurch unterschiedliche sprachliche Voraussetzungen mit, sobald sie Bildungsinstitutionen,wie Kindertagesstätten und Schulen, besuchen. Dort werden ihre sprachlichen Ressourcen allerdings oft nur unzureichend berücksichtigt und wertgeschätzt. Denn obwohl ein erheblich großer Teil der Kinder mehrsprachig aufwächst, spiegeln sich ihre Herkunftssprachen häufig weder im Tagesablauf, in Materialien wie z.B. Büchern noch in der Personalstruktur wieder. Mehrsprachigkeit bewegt sich in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld, das durch Ablehnung und Wertschätzung gekennzeichnet ist.
Die Bachelorarbeit verfolgt das Ziel herauszufinden, wie Mehrsprachigkeit in einem Einwanderungsland wie Deutschland bewertet wird und ob das Prestige von Sprachen Einfluss auf die Identitätsentwicklung von Heranwachsenden nimmt.
Außerdem möchte ich mich der Frage stellen, inwiefern die Ablehnung bzw. Wertschätzung von Herkunftssprachen Risiken bzw. Chancen für die Identitätsentwicklung von Heranwachsenden darstellen kann. Mein Anliegen ist es zu zeigen, wie gesellschaftliche Bedingungen und daraus resultierende Einstellungen, die u.a. durch Bildungsinstitutionen und deren pädagogischem Fachpersonals zum Ausdruck kommen, auf Individuen einwirken. Hierbei lege ich meinen Fokus insbesondere auf die Sensibilisierung und Qualifizierung von PädagogInnen, weil sie es sind, die in der täglichen Interaktion die Beziehung zu mehrsprachigen Kindern gestalten und latente Einstellungen zum Ausdruck bringen. Mehrsprachigkeit muss in einem Einwanderungsland wie Deutschland als Ressource begriffen werden, die es wertzuschätzen gilt.
Im Rahmen einer Bachelorarbeit ist es nur ansatzweise möglich, einem Thema wie Mehrsprachigkeit gerecht zu werden. Sprachwissenschaftliche Ergebnisse werden eine untergeordnete Rolle spielen. Schwerpunktmäßig soll die Arbeit zur Reflexion von Einstellung gegenüber Herkunftssprachen anregen und zur Sensibilisierung beitragen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Mehrsprachigkeit als Ressource
1.1 Ressource oder Defizit?
1.2 Sprachen und ihr Prestige
1.3 Zwischenresümee zum Verhältnis Gesellschaft und Mehrsprachigkeit
2. Sprache und Mehrsprachigkeit als Identitätsstifter
2.1 Sprachprestige und ihre Folgen
2.1.1 Ablehnung der Herkunftssprache
2.1.2 Risiken der Identitätsentwicklung
2.1.3 Wertschätzung der Herkunftssprache
2.1.4 Chancen der Identitätsentwicklung
2.2 Zwischenresümee zum Verhältnis Sprache und Identität
3. Intervention durch die RAA am Beispiel mehrsprachiger Bilderbücher
4. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Einleitung
Deutschland ist ein durch Sprachenvielfalt geprägtes Land. Mehr als jeder fünfte Heranwachsende in Deutschland hat einen Migrationshintergrund, wobei die Mehrheit der Kinder hierzulande geboren und aufgewachsen ist. Mit 2,5 Millionen Menschen stellen türkischstämmige Personen, die in Deutschland größte lebende Minderheit dar. Demzufolge ist die türkische Sprache weit verbreitet. Ein großer Teil der Heranwachsenden wächst deshalb mit zwei oder mehreren Sprachen auf, d.h. die Erst- bzw. Zweitsprache ist eine andere als Deutsch. Kinder bringen dadurch unterschiedliche sprachliche Voraussetzungen mit, sobald sie Bildungsinstitutionen, wie Kindertagesstätten und Schulen, besuchen. Dort werden ihre sprachlichen Ressourcen allerdings oft nur unzureichend berücksichtigt und wertgeschätzt. Denn obwohl ein erheblich großer Teil der Kinder mehrsprachig aufwächst, spiegeln sich ihre Herkunftssprachen häufig weder im Tagesablauf, in Materialien wie z.B. Büchern noch in der Personalstruktur wieder. Mehrsprachigkeit bewegt sich in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld, das durch Ablehnung und Wertschätzung gekennzeichnet ist.
Die Bachelorarbeit verfolgt das Ziel herauszufinden, wie Mehrsprachigkeit in einem Einwanderungsland wie Deutschland bewertet wird und ob das Prestige von Sprachen Einfluss auf die Identitätsentwicklung von Heranwachsenden nimmt. Außerdem möchte ich mich der Frage stellen, inwiefern die Ablehnung bzw. Wertschätzung von Herkunftssprachen Risiken bzw. Chancen für die Identitätsentwicklung von Heranwachsenden darstellen kann. Mein Anliegen ist es zu zeigen, wie gesellschaftliche Bedingungen und daraus resultierende Einstellungen, die u.a. durch Bildungsinstitutionen und deren pädagogischem Fachpersonals zum Ausdruck kommen, auf Individuen einwirken. Hierbei lege ich meinen Fokus insbesondere auf die Sensibilisierung und Qualifizierung von PädagogInnen, weil sie es sind, die in der täglichen Interaktion die Beziehung zu mehrsprachigen Kindern gestalten und latente Einstellungen zum Ausdruck bringen. Mehrsprachigkeit muss in einem Einwanderungsland wie Deutschland als Ressource begriffen werden, die es wertzuschätzen gilt.
Natürlich ist es mir im Rahmen einer Bachelorarbeit nur ansatzweise möglich, einem großen Thema wie Mehrsprachigkeit gerecht zu werden. Sprachwissenschaftliche Ergebnisse werden, aufgrund des hier formulierten Anliegens, nur eine untergeordnete Rolle spielen. Schwerpunktmäßig soll die Arbeit zur Reflexion von Einstellungen gegenüber Herkunftssprachen anregen und zur Sensibilisierung beitragen.
Zum Vorgehen
Im ersten Teil der Arbeit wird der Blick auf die Makroebene geworfen, also auf die gesellschaftlichen Bedingungen, für die Realisierung von Mehrsprachigkeit. So wird gleich am Anfang der bildungspolitischen Frage nachgegangen, ob Mehrsprachigkeit für die Gesellschaft eine Ressource darstellt. Daran anknüpfend soll der Blick auf die gesellschaftliche Realität gerichtet werden, indem kritisch hinterfragt wird, ob Mehrsprachigkeit nun als Ressource oder Defizit gilt. Darauf aufbauend, wird der Zusammenhang von Sprache und deren Prestige herausgearbeitet. Hierbei soll einerseits auf prestigeträchtige Sprachen eingegangen werden, andererseits werden Folgen für Herkunftssprachen dargestellt, deren gesellschaftliches Ansehen niedrig ist. Anhand einer Untersuchung, die Einstellungen von LehrerInnen gegenüber Sprachen erhoben hat, soll die Wirkung von prestigeträchtigen Sprachen verdeutlicht werden. Am Ende des ersten Teils wird ein Zwischenresümee aus den vorangegangenen Darstellungen gezogen und an den nächsten Teil angeknüpft.
Im zweiten Teil der Arbeit wird auf der mikrosozialen Ebene das Individuum ins Zentrum der Analyse gestellt. Die Theorie der sozialen Identität nach Tajfel und Turner (1979) wird im gesamten zweiten Teil immer wieder herangezogen, weil sie ein nachvollziehbares Erklärungsmodell darstellt, um den Zusammenhang von Herkunftssprachen und die Wirkung der Prestigewerte sichtbar zu machen. Die Theorie nimmt an, dass Individuen sich ü ber Zugehörigkeiten zu bestimmten Gruppen definieren, die mit Wertzuschreibungen verkn ü pft sind und mit bestimmten Strategien reagieren, wenn ihre soziale Identit ä t bedroht wird.
Zu Beginn des zweiten Teils wird einleitend der Zusammenhang von Sprache und Identität näher untersucht, wobei zudem auf die Bedeutung der Herkunftssprache für die Identität eingegangen wird. Nachfolgend, wird die Wirkung von Prestigewerten auf das Individuum herausgearbeitet. Hierbei soll der Fokus insbesondere auf Herkunftssprachen gerichtet werden, deren gesellschaftliches Ansehen gering ausgeprägt ist. Eine Befragung von Wojnesitz (2009) an vier Wiener Gymnasien, an denen ein relativ hoher Anteil Heranwachsender mit Migrationshintergrund vertreten ist, wird die Wirkung von Sprachprestigewerten verdeutlicht. 84 SchülerInnen haben in der Untersuchung eingeschätzt, welche Sprache(n) von ihren LehrerInnen am wenigsten geschätzt werden.
Ist das Sprachprestige schwach, resultiert daraus häufig eine Ablehnung gegenüber bestimmter Herkunftssprachen, die mit bestimmten Verhaltensweisen von PädagogInnen einhergehen. Wie sich solche Ablehnungen gestalten, wird darum näher erläutert und anhand von realen Beispielen aus Bildungsinstitutionen dargestellt.
Welche Risiken die Ablehnung von Herkunftssprachen für die Identitätsentwicklung von Kindern hervorrufen kann, wird darauf aufbauen erklärt. Demgegenüber liegt die Wertschätzung von Herkunftssprachen. Es lassen sich Chancen für die Identitätsentwicklung von Heranwachsenden ableiten, die daran anschließend auf die vorangegangenen Darstellungen bezogen werden.
Im dritten Teil der Arbeit soll am Beispiel von mehrsprachigen Bilderbüchern verdeutlicht werden, wie in der praktischen Arbeit mit Kindern Wertschätzung gegenüber ihrer Herkunftssprachen ausgedrückt werden kann. Dem Amt für Integration und interkulturelle Angelegenheit (RAA) in Bielefeld, kommt hierbei ein besonderer Dank zu. Die RAA interveniert, indem sie seit mehreren Jahren Fortbildungsveranstaltungen zur Sensibilisierung von PädagogInnen im Hinblick auf Mehrsprachigkeit anbietet. Ich durfte durch mein Praktikum und einige Fortbildungsveranstaltungen deren Arbeit näher kennenlernen.
Im letzten Teil der Arbeit wird ein Fazit aus den vorangegangenen Darstellungen gezogen. Außerdem soll ein kurzer Ausblick erfolgen, der darauf zielt den Stellenwert von PädagogInnen gegenüber Herkunftssprachen und Mehrsprachigkeit aufzuzeigen.
1. Mehrsprachigkeit als Ressource
In der Literatur gibt es bisher keine einheitliche Definition bezüglich des Bergriffs „Mehrsprachigkeit“. Als mehrsprachig gilt jeder der sich in mehr als einer Sprache verständigen kann (vgl. Adler 2011: 109, Özoğuz 2010: 5). Ich werde den Begriff darum im Weiteren verwenden, wenn von dem Erwerb von mehr als einer Sprache die Rede ist. Die Begriffe „Herkunftssprache“, „Erstsprache“ und „Muttersprache“ werden dabei von mir als Synonyme verwendet.
Ich habe mich für den Begriff Wertschätzung entschieden, weil der Anerkennungsbegriff in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion ziemlich umstritten ist. Zwar gilt Anerkennung einerseits als Akt der Wertschätzung, andererseits wird ihr gleichzeitig vorgeworfen, dass sie die Andersartigkeit von bestimmten Gruppen hervorhebt, Ungleichheitsverhältnisse bestätigt und dadurch Differenzen erneut reproduziert (vgl. Mecheril 2005: 324f.).
Das Jahr 2001 wurde in Europa als das Jahr der Sprache ausgerufen. Mit dem „Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen“ wurde von politischem und wirtschaftlichem Standpunkt aus das Ziel verfolgt, alle SchülerInnen ab der frühen Kindheit in drei europäischen Sprachen zu fördern, so dass sie mündlich und schriftlich beherrscht werden können. Mehrsprachigkeit gilt somit als Humankapital und gesellschaftliche Ressource, die dem Individuum persönliche Chancen und Perspektiven eröffnen, aber auch dem europäischen Arbeitsmarkt zugutekommen soll (vgl. Dirim 2005: 89ff., Haller 2000: 10, Krumm 2004: 106, List 2007: 41f., Thul 2007: 14, Vertovec/Römhild 2009: 131f.).
Bereits 1994 hat die Bundesrepublik in der „Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder“ (KMK) entschieden, dass das Lernziel der Zukunft auf Mehrsprachigkeit gerichtet ist. Heranwachsende sollen demzufolge durch mehrsprachigen Unterricht bestmöglich ausgebildet werden um sich einen Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt zu sichern (vgl. Mecheril 2004: 167ff., Neumann 2003: 3ff.). „In diesem Kontext wird Mehrsprachigkeit immer mehr zu einer gesellschaftlichen Ressource und einem individuellen Potenzial“ (Bainski 2005: 27). Die Entwicklung und Förderung von Mehrsprachigkeit wird dadurch zu einer zentralen Aufgabe von Bildungsinstitutionen, insbesondere von Schulen. Aber auch vorschulische Einrichtungen, wie z.B. bilinguale Kindertageseinrichtungen oder Institutionen mit mehrsprachigen Förderangeboten, greifen u.a. mit Hilfe englischsprachiger Angebote, den Gedanken von mehrsprachiger Förderung auf. Die Kompetenzen von bi- und multilingualen Personen, die häufig mit ökonomischen Vorteilen verknüpft sind, spielen auf dem Arbeitsmarkt eine zunehmend wichtigere Rolle. Denn sich in mehreren Sprachen ausdrücken und agieren zu können, wird heutzutage als eine notwendige Schlüsselkompetenz betrachtet. Der Mehrsprachenerwerb stellt dadurch eine Bereicherung für alle da, die es zu nutzen gilt um das soziale Miteinander zwischen verschiedenen Kulturen und deren Sprecher zu stärken (vgl. Adler 2011: 103ff., Meisel 2006: 8f.).
Laut Artikel 22 der im Jahr 2000 verabschiedeten Charta der Grundrechte der Europäischen Union, muss die sprachliche Vielfalt respektiert werden. Artikel 21 verbietet jegliche Diskriminierung aus sprachlichen Gründen. Die Achtung der Sprachenvielfalt gehört damit zu den Grundwerten der EU (vgl. Charta der Grundrechte der europäischen Union 2000: 13).
Das Angebot von herkunftssprachlichem Unterricht, der meistens am Nachmittag einmal wöchentlich in gesonderten Räumlichkeiten von Muttersprachlern angeboten wird, zielt auf die Förderung der Herkunftssprache, weil sie einerseits bildungssprachliche Kompetenzen in der Herkunftssprache ermöglicht und andererseits als Wegbereiter für den Zweitsprachenerwerb gilt. Der muttersprachliche Unterricht und der Unterricht in der Mehrheitssprache ergänzen einander, indem Themen behandelt werden, die an das Curriculum der Schule angelehnt sind. In der Sekundarstufe I kann die Herkunftssprache anstelle der zweiten oder dritten Fremdsprache unterrichtet werden, sodass sie dem Unterricht in einer Fremdsprache in jeder Weise gleichgestellt ist (vgl. Dirim 2010: 107, Haller 2000: 9, Illner 2000: 55ff., Montanari 2006: 150f.).
Mehrsprachigkeit stellt, wie die vorangegangenen Darstellungen verdeutlichen, eine wichtige Fähigkeit dar, die es zu fördern gilt. Die Mehrheit der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte, wächst im Gegensatz zu den einheimischen Kindern, multilingual auf. Dennoch wird dieser Tatbestand nicht in gleicher Weise wahrgenommen oder gar wertgeschätzt. Wünschenswert wäre an dieser Stelle eine verbesserte Bewertung von Mehrsprachigkeit, die auf Sprachen zielt, die ein geringeres gesellschaftliches Ansehen genießen. Mehrsprachigkeit wird nicht immer als grundlegend positiv bewertet. Häufig wird aus einem Blickwinkel heraus argumentiert, der Probleme und Defizite von Mehrsprachigkeit betont.
1.1 Ressource oder Defizit?
Während Mehrsprachigkeit für die berufliche Karriere Chancen eröffnet, wird sie bei Kindern mit Zuwanderungsgeschichte häufig als Hindernis betrachtet. So wird beim Zweitsprachenerwerb die Erstsprache von Heranwachsenden oftmals als störend interpretiert, weil sie z.B. das Lernen der deutschen Sprache erschweren würde. Die Erstsprache wird beim Zweitsprachenerwerb und innerhalb von vielen Sprachförderkonzepten fast vollständig ausgeklammert. Auch die PISA-Studie überprüfte in der Vergangenheit nur die deutsche Sprache und erhob die Familiensprache der Heranwachsenden lediglich für statistische Zwecke. Hierdurch wird die eigentliche Sprachkompetenz von Kindern übergangen. Dokumentiert werden nur Kompetenzen in der deutschen Sprache, obwohl sie nicht die dominante Sprache des Kindes ist. Die Potenziale innerhalb der Herkunftssprache bleiben also unberücksichtigt, sodass Defizite im Deutschen noch stärkere Beachtung bekommen und eine ganzheitliche Förderung in beiden Sprachen verhindert wird (vgl. Amirpur 2010: 60, Bainski 2005: 27ff., Boss-Nünning 2005: 112, Dirim 2006: 256, Gogolin 2005a: 28, Koch 2007: 23, Löser 2010: 164, Spohn 2007: 8, Wojnesitz 2009: 220). „Was potenziell eine positive Lernerfahrung sein könnte, wird in ein Problem verwandelt“ (Conteh 2006: 209). Ähnliches gilt bei der Beachtung der Familiensprachen. Anstatt die Sprachen innerhalb der Familien als individuellen Reichtum zu aufzufassen, werden sie eher als Hindernis für eine erfolgreiche Integration interpretiert und sollen Grund für das kindliche Versagen im deutschen Schulsystem sein (vgl. Amirpur 2010: 60, Ndouop-Kalajian 2007: 107, Özoğuz 2010: 3, Schlösser 2007: 93).
In einem Einwanderungsland wie Deutschland leben Menschen unterschiedlicher Herkunft, die häufig eine andere Erstsprache als Deutsch sprechen. Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit sollte demzufolge, wie in vielen anderen Ländern, den Normalfall darstellen. Im deutschen Schulsystem stellt Mehrsprachigkeit jedoch immer noch eine Ausnahme dar, sie hat keine Tradition und wird im Alltag häufig ausgeblendet (vgl. Hansen 1996: 10ff., Gogolin 2003: 1, Kiziak/Kreuter/Klingholz 2012: 5, Röhner 2005: 7, Salem 2010: 11, Ndouop-Kalajian 2007: passim, Tracy 2008: 59). Am Beispiel des „monolingualen Habitus“, ein Begriff der von Ingrid Gogolin geprägt wurde, lässt sich die Einsprachigkeit, die durch unsere Gesellschaft zum Ausdruck kommt, nachvollziehbar erklären. Der monolinguale Habitus fokussiert Einsprachigkeit und entwertet dadurch Mehrsprachigkeit. Die Schule als Institution unterstützt die Vorstellung, unsere Gesellschaft wäre einsprachig, indem das Lehrangebot und Einstellungen von LehrerInnen auf eine monolinguale Schülerschaft ausgerichtet sind.
Die Annahmen von „Gefahren“ der Mehrsprachigkeit legitimieren den monolingualen Habitus geradezu perfekt, indem er durch den schulischen Misserfolg vieler zweisprachiger Kinder täglich bestätigt wird (vgl. Belke 2000: 50f., BMFSFJ 2002: 213, Dirim 2010: 96f., Gogolin/Kroon 1995: 11, Röhner 2005: 8, Vertovec/Römhild 2009: 131f.). Nach Gogolin (2003) ist auch die Förderung in Kindertageseinrichtungen in vielen Teilen am monolingualen Habitus orientiert, obwohl sie sich an keinem starren Curriculum orientieren muss (S. 2ff.). Beobachtungsbögen wie SISMIK, die für Kinder mit Migrationshintergrund entwickelt wurden, sind ein erster Schritt in die richtige Richtung. Auch das Amt für Integration und interkulturelle Angelegenheiten, das in vielen deutschen Großstädten vertreten ist, reagiert durch Projekte und Konzepte auf die mehrsprachige Realität von Heranwachsenden. Denn langfristig werden grundlegende Konzepte für den Elementarbereich gebraucht, die Mehrsprachigkeit angemessen berücksichtigen und die sprachlichen Fähigkeiten von allen Kindern einbezieht, um für alle die gleichen Möglichkeiten bereit zu stellen (vgl. RAA Bielefeld). Durch einsprachig ausgerichtete Konzepte besteht die Gefahr, dass mehrsprachig geprägte Kinder aus einem defizitären Blickwinkel betrachtet werden, weil ihr sprachlicher Entwicklungsstand der monolingualen Ausgangslage nicht gerecht werden kann. Zudem verfügen Kinder über ein unterschiedlich ausgeprägtes Sprachgefühl, sodass es für sie kaum möglich ist Aufgaben und Anweisungen in gleicher Weise zu interpretieren, wie Kinder die einsprachig aufgewachsen sind. Die Heranwachsenden haben dadurch kaum Möglichkeiten, Anforderungen mit ihren sprachlichen Vorerfahrungen in der Familiensprache zu verknüpfen, weil die Schule die deutsche Sprache ins Zentrum stellt und die Herkunftssprache der Kinder ausblendet (vgl. Belke 2000: 50, Benbrahim 2012: 2, Gogolin/Kroon 1995: 11ff., Mecheril/Quehl 2006: 366f., Mecheril/Quehl 2010: 6, Röhner 2005: 9, Salem 2010: 9). Sprachkompetenz in der Amtssprache Deutsch stellt somit, wie die Ergebnisse der PISA-Studie belegen, einen wichtigen Faktor für den Schulerfolg dar (vgl. Boss-Nünning 2005: 112).
Mehrsprachige Erziehung wurde in der Vergangenheit als Risiko für einen positiven Entwicklungsverlauf von Heranwachsenden betrachtet. Die Befürchtungen zielten auf Defizite in der psychischen und kognitiven Entwicklung. Aktuelle wissenschaftliche Befunde aus der Bildungs- und Hirnforschung belegen allerdings das Gegenteil. Kinder können von Geburt an mit mehr als einer Sprache aufwachsen, d.h. sie werden nicht überfordert, sondern es sind sogar positive Effekte zu erwarten. Die Identifikation mit mehreren Sprachen kann die kindliche Identität entscheidend stärken. Mehrsprachige Erziehung kommt außerdem der kognitiven Entwicklung zugute, weil im Gehirn zusätzliche neuronale Verbindungen miteinander verknüpft werden können, was zu einer breiteren Verarbeitungsfähigkeit führt und die Ausbildung anderer kognitiver Prozesse, wie z.B. die frühe Ausbildung von Sprachbewusstheit und Analysefähigkeit, fördert. Frühe Mehrsprachigkeit eröffnet demzufolge Chancen, die später kaum noch zu erreichen sind (vgl. Adler 2011: passim, Amirpur 2010: 60, Cummins 2006: 44, Dirim 2005: 85f., Gogolin 2005a: 28, Jampert 2009: 14, Krumm 2009: 241, Meisel 2006: 10f., Salem 2010: 11).
Auch das sogenannte Code-Switching, d.h. das Mischen verschiedener Sprachen im Dialog wurde lange als Defizit für angemessene Sprachkompetenz interpretiert. Individuen sollten entweder nur in der einen oder der anderen Sprache miteinander kommunizieren. Eine solche monolinguale Haltung zwingt Personen allerdings dazu ihr wesentlich umfangreicheres Sprachrepertoire zu unterdrücken und verschiedene Gefühle, die sie mit einzelnen Wörtern verknüpfen auszuklammern (vgl. Dirim 2005: 85f., Jampert 2009: 14, Krumm 2004: 105, Montanari 2006: 25, Tracy 2008: 52f.).
Wie kann es sein, dass Mehrsprachigkeit auf der einen Seite als Ressource gesehen wird, die es unbedingt zu fördern gilt und auf der anderen Seite die vorhandene Mehrsprachigkeit von einem hohen Anteil Heranwachsender in Bildungsinstitutionen ausgeklammert bzw. abgelehnt wird? Hierdurch wird eine große Ressource gewissermaßen verschwendet, während gleichzeitig mit der Einführung des frühen Englischlernens genau das aufgebaut werden soll, was mehrsprachige Kinder bereits mit in die Bildungsinstitutionen mitbringen (vgl. Neumann 2003: 8).
Es lassen sich Sprachen finden, die im besonderen Maße Wertschätzung erfahren. Andere Sprachen hingegen erfahren das genaue Gegenteil. Ihnen wird mit Ablehnung begegnet.
1.2 Sprachen und ihr Prestige
Nicht jede Sprache in Deutschland ist in gleicher Weise angesehen. Sprachprestige bildet sich aus der Bewertung durch Dritte. Aber welche Sprachen sind es, denen hohe Prestigewerte zugeschrieben werden und in die im besonderen Maße investiert wird? Englisch, Französisch und Spanisch wird ein hoher Prestigewert zugeschrieben. Sie werden als Welt- und Elitesprachen bezeichnet. Das Ansehen einzelner Sprachen wird davon beeinflusst, welchen Stellenwert Sprachen für wirtschaftlichen Erfolg versprechen. Sprachen aus wirtschaftlich starken Ländern haben dadurch ein höheres Image als Sprachen aus wirtschaftlich weniger einflussreichen Ländern.
Englisch wird weltweit in 45 Ländern gesprochen und gilt mit 58 Millionen Muttersprachlern als allgemeine Verkehrssprache. Englisch ist als Zweitsprache die wichtigste Sprache Europas. Französisch liegt auf europäischer Ebene an zweiter und Spanisch an dritter Stelle. Die Anzahl der Personen, die eine Sprache gebrauchen, bestimmt das Sozialprestige von Sprachen allerdings nur indirekt. Ansonsten müssten Sprachen wie Türkisch oder Russisch mit höherem Ansehen verbunden sein, weil ihre Anzahl z.B. in deutschen Großstädten einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausmacht (vgl. Burkhardt-Montanari 2000: 23ff., Herczeg 2006: 120f., Küpelikilinç/Ringler 2007: 34, Singuan 2001: 125ff., Spohn 2007: 7).
Den Medien kommt an dieser Stelle eine verstärkende Funktion zu. Sie reagieren auf gesellschaftliche Bedingungen und greifen Sprachen, die besonders hohes Ansehen genießen, auf. Zugleich reproduzieren sie die Wirkung von prestigeträchtigen Sprachen und deren Übergewicht, indem Minderheitensprachen vernachlässigt werden (vgl. Herczeg 2006: 118ff., Singuan 2001: 176).
Ein Blick auf die Fremdsprachen, die durch Schulen gefördert werden, verdeutlicht, in welche Sprachen im besonderen Maße investiert wird. Dort sind Sprachen vorzufinden, deren Förderung einer Kosten-Nutzen-Rechnung gleichkommt. Englisch, Französisch und Spanisch gelten in Deutschland als legitime Sprachen und genießen ein besonders hohes Ansehen. Solche Sprachen sind Teil des Lehrplans und ihnen wird ein hoher Bildungswert zugesprochen, was wiederrum mit einer hohen gesellschaftlichen Wertschätzung einhergeht. Die Förderung solcher Sprachen wird dementsprechend durch staatliche Mittel unterstützt (vgl. Belke 2000: 51, Dirim 2010: 109, Gogolin 2003: 1f., Gogolin 2011: 2, Gugenberger 2003: 46, Herczeg 2006: 118, Kiziak et al. 2012: 5, Schlösser 2007: passim, Winter-Heider 2009: 161). So lassen sich heutzutage in so gut wie allen Städten vorschulische Einrichtungen finden, die auf eine frühe Englischförderung zielen, um den Nachwuchs bestmöglich auf gesellschaftliche Sprachanforderungen vorzubereiten (vgl. Burkhardt-Montanari 2000: 78, Meisel 2006: 8f.).
Türkisch und Kurdisch können allerdings einer solchen Kosten-Nutzen-Rechnung nicht gerecht werden, weil sie hierzulande keine markterhöhenden Mechanismen in sich bergen, obwohl sie von der größten Minderheit in Deutschland als Erstsprache gelernt werden (vgl. Burkhardt-Montanari 2000: 16).
„Solche Sprachen besitzen weder einen besonderen rechtlichen Status, der ihnen Legitimität verleihen würde, noch haben sie eine Aufwertung durch Aufnahme in den schulischen Fremdsprachenkanon erfahren“ (Gogolin 2001: 2).
Zwar wurden Möglichkeiten bereitgestellt, die Heranwachsenden durch muttersprachlichen Unterricht die Gelegenheit geben, in ihrer Herkunftssprache gefördert zu werden. Hierdurch wird jedoch eher eine Separierung der Kinder gefördert, anstatt dass eine Inklusion in den schulischen Alltag erfolgt und die Sprache als wertvoll erlebt wird. Es gibt bis heute keinen Rechtsanspruch auf muttersprachliche Förderung, weil das Ausmaß des Angebots den Ländern obliegt, d.h. die Verteilung der Gelder selbst bestimmt wird (vgl. Montanari 2006: 150f.). Für die deutsche Mehrheitsgesellschaft spielen Minderheitssprachen demzufolge, trotz des politischen Rufs nach Mehrsprachigkeit, keine oder nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Dirim 2010: 107, Herzceg 2006: 118, Krumm 2004: 105).
Sprachen werden in Deutschland in Rangfolgen betrachtet, zwischen denen es zu unterscheiden gilt. Wachsen Kinder durch die Erstsprache ihrer Eltern bilingual mit angesehenen Sprachen wie z.B. Englisch und Französisch auf, wird durch das Umfeld Bewunderung ausgedrückt und eine besonders positive Zukunft wie z.B. Erfolg auf dem Arbeitsmarkt, prophezeit. Fähigkeiten in Sprachen mit hohem Ansehen, die in der Schule als Fremdsprache gelten, werden als besondere Qualifikation erachtet. Die Tatsache, dass ein Kind zweisprachig ist und armenisch und türkisch spricht, scheint belanglos zu sein, weil die Sprachen keine Bedeutung im deutschen Bildungssystem spielen. Häufig wird in solchen Fällen bei Kindern sogar eine fehlende Sprachkompetenz diagnostiziert. Zudem reagiert das soziale Umfeld mit Vorbehalten, weil unklar ist, was Kinder mit Sprachen, deren Prestige niedrig ist, anfangen sollen (vgl. Belke 2000: 51, Herczeg 2006: 117, Küpelikilinç /Ringler 2007: 35, Tracy 2008: 60,).
Sprachen haben dementsprechend in unserer Gesellschaft unterschiedliches Prestige und bestimmen das Image der Sprecher. Das Image einer Sprache entscheidet über deren soziale Akzeptanz, bestimmt die Einstellung der Mehrheitsgesellschaft und nimmt Einfluss darauf, wie der Rang eines Muttersprachlers eingeschätzt wird (vgl. Burkhardt-Montanari 2000: passim, Herczeg 2006: passim, List 2007: 52, Montanari 2006: 19f., Tracy 2008: passim, Winter-Heider 2009: 190). Gugenberger (2005) postuliert: „Die Sprachen werden zum Symbol für Fortschrittlichkeit, Reichtum und Bildung bzw. Rückständigkeit, Armut und Ungebildetheit“. Der Status von Personen wird somit mit dem Prestige ihrer Sprache verknüpft, wodurch Stigmata noch verstärkt werden können. Es findet keine Unterscheidung zwischen Individuum und Sprache statt, sodass negative bzw. positive Zuschreibungen fast wie selbstverständlich erfolgen (S. 46).
Zusammengefasst gilt es zwischen legitimen und illegitimen Sprachen zu unterscheiden. Zu den legitimen Sprachen (z.B. Englisch) sollen möglichst alle Individuen Zugang erhalten. Bei den illegitimen Sprachen dagegen wird der Zugang auf die Minorität beschränkt, d.h. auf jene herkunftssprachliche Gruppe (vgl. Krumm 2004: 105). Eine solche Unterscheidung lässt den Gedanken aufkommen, dass es Sprachen gibt, die besonders dringend gebraucht werden, weil sie einen hohen Nutzen versprechen und andere Sprachen dagegen zwar existieren, deren Kenntnis aber eigentlich unnötig ist, weil sie unbrauchbar sind und demzufolge nicht zum Einsatz kommen können (vgl. Mecheril/Quehl 2006: 362, Özoğuz 2010: 6).
Werden einzelne Sprachen jedoch überbewertet, kann dies zwangsläufig dazu führen, dass die Befürwortung von Mehrsprachigkeit der europäischen Charta, zugunsten der prestigeträchtigen Sprachen, unwirksam ist. Das Ziel, Interesse der Individuen für Mehrsprachigkeit zu wecken, wäre damit hinfällig. Somit müssten sich politische Entscheidungsträger gegen eine stärkere Betonung von Sprachen mit hohem gesellschaftlichem Ansehen, zugunsten der Minderheitensprachen, einsetzen (vgl. Herczeg 2006: 116). Aber das deutsche Bildungswesen hat keine Verantwortung für die Herkunftssprachen der Minderheiten übernommen. Spiel- und Krabbelgruppen in Minderheitssprachen sind im Gegensatz zu hoch angesehenen Sprachen wie z.B. Englisch, absolute Ausnahmen - selbst in deutschen Großstädten, in denen die höchste Anzahl an Gruppen, die ihre Minderheitssprache pflegen, vorzufinden sind (vgl. Gogolin 2003: 2, Montanari 2006: 23, Vertovec/Römhild 2009: 149). Hierdurch wird für die Eltern die mehrsprachige Erziehung ihrer Kinder erheblich erschwert, weil es über das familiäre Umfeld hinaus kaum Möglichkeiten gibt, die eigenen Kinder zu fördern (vgl. Burkhardt Montanari 2000: 23).
In einer qualitativ angelegten Studie von Alexandra Wojnesitz wurde die Einstellung gegenüber Sprachen von 118 LehrerInnen an vier Wiener Gymnasien, an denen ein relativ hoher Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund vertreten ist, untersucht. Das österreichische Schulsystem ist vergleichbar mit dem deutschen. Beide Bildungssysteme setzen auf die Förderung von prestigeträchtigen Sprachen und sind schwerpunktmäßig monolingual ausgerichtet. Erwartungsgemäß ähneln sich dadurch die Einstellungen der LehrerInnen.
Die Lehrpersonen sollten u.a. aus ihrem subjektiven Empfinden heraus bestimmen, welche Sprache(n) sie als die wichtigste(n) erachten. Die Statistik erhebt aufgrund der relativ kleinen Stichprobe keinen Anspruch auf Repräsentativität, kann jedoch Ansatzpunkte zu Einstellungen wiederspiegeln (vgl. Wojnesitz 2009: 191f.).
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