Ziel dieser Arbeit war zunächst, zu klären, ob bestimmte Merkmale festgestellt werden können, die ein zu Recht als Essay bezeichneter Text erfüllen muss. Auf Basis der gewählten Literatur lässt sich übergreifend festhalten, dass eine Vielzahl von Eigenschaften existiert, die dem Essay weitgehend zugeschrieben werden. Diese umfassen ein experimentelles, dialektisches, assoziatives Verfahren, prinzipielle Unabgeschlossenheit von Gedanken und Erkenntnis unter Einbeziehung verschiedener Perspektiven sowie das Interesse, Neues, auch aus bereits Bekanntem, zu entwickeln und kritisch zu beleuchten. Andererseits besteht in diversen Aspekten Uneinigkeit, beginnend bei dem Umfang des Textes über die Existenz einer möglicherweise verfolgten Absicht im Sinne eines Überzeugungsinteresses bis zu der Frage, ob der Autor mit sich selbst spricht oder im Hinblick auf einen (fiktiven) Kommunikationspartner schreibt. Demzufolge ist es möglich, dass manche Texte die Bezeichnung Essay zu Unrecht tragen.
Ferner sollte untersucht werden, wie nahe die theoretischen Überlegungen dem Beispieltext sind. Schon aufgrund der Tatsache, dass sich verschiedene Definitionen widersprechen, kann der vorliegende Essay nicht mit jedem Ansatz vollständig übereinstimmen. Auch bezüglich der hier zugrunde gelegten Literatur besteht keine umfassende Deckungsgleichheit. So liegt etwa die offene Form nur eingeschränkt vor und der Text ist unterdurchschnittlich kurz. Die suggerierte Spontaneität der Gedankengänge ist relativ deutlich erkennbar, womit eine Überzeugungsabsicht gegeben ist, die Pfammatter als grundlegend und von Gleichen‐Rußwurm als gattungsfremd beschreibt. Dem entgegen steht eine Vielzahl essayspezifischer Merkmale, die sich im Text wiederfinden, am markantesten etwa Möglichkeitsdenken, Skepsis und Kritik. Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass der vorliegende Text, der von einem als Essayist anerkannten Schriftsteller verfasst wurde, in den Augen manch eines Theoretikers eventuell nicht als Essay zu betrachten ist. Eine allgemeingültige, objektive Genrezuordnung ist nicht möglich. Daher ist in Erwägung zu ziehen, der tatsächlichen Umsetzung der Vorstellung von einem „Genre Essay“ Vorrang vor widerstreitenden Bestimmungsversuchen zu gewähren.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Essay als Genre
2.1 Formale Kriterien
2.2 Inhalte und Verfahren
3. Analyse von Enzensbergers Essay „Rentenlust, Rentenangst und Rentenzwang“
3.1 Enzensbergers Panoptikum
3.2 Textanalyse
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Kaum ein literarisches Genre scheint so vielfältig, aber auch so unspezifisch zu sein wie der Essay. Wirft man einen Blick auf den Feuilletonteil von Zeitungen, Fachzeitschriften, zahlreiche Blogs im Internet und auch Schulhefte, erhält man den Eindruck, dass nahezu jedermann Texte schreiben kann, die den Namen „Essay“ für sich beanspruchen. Diese Texte unterscheiden sich oftmals stark in ihrer Länge, dem behandelten Thema und auch der verwendeten Sprache. Was sie alle (vermeintlich) zu Bestandteilen einer Gattung macht, bleibt auf den ersten Blick unklar, und tatsächlich herrscht bis heute keine Einigkeit darüber, welche Kriterien ein Schriftstück genau aufweisen muss, um als Essay zu gelten. So kann es vorkommen, dass ein und demselben Text von unterschiedlichen Lesern die Gattungszugehörigkeit gleichzeitig zu- und abgesprochen wird. Dabei existiert bei der Lektüre durchaus eine ungefähre Erwartungshaltung, die nicht selten mit dem jeweiligen Verfasser verbunden ist, der dem Leser eventuell durch frühere Werke bekannt ist[1]. Ein Essay ist nicht rein objektiv und folgt nicht den Regeln wissenschaftlicher Darstellungsform, sondern legt vielmehr die Ansichten seines Autors zu einem Thema pointiert dar und versucht, zu unterhalten und zum Nachdenken anzuregen. In dieser Hausarbeit soll versucht werden, sich diesem schwer definierbaren Genre zu nähern und zu ermitteln, ob es bestimmte grundlegende Eigenschaften gibt, die ein solcher Text aufweisen muss. Hierzu werden die theoretischen Ausführungen zum Essay von René Pfammatter[2] und Gerhard Haas[3] herangezogen. Anschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse auf einen Beispieltext aus der Essaysammlung „Enzensbergers Panoptikum“ angewendet. Hans Magnus Enzensberger gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und ist neben seiner Arbeit als Herausgeber und Autor literarischer Werke verschiedenster Gattungen vor allem für seine Essays bekannt, in denen er sich mit politischen sowie gesellschaftlichen Problemstellungen befasst. Das Augenmerk der Analyse liegt darauf, ob und inwiefern sich die in der Literatur genannten Genremerkmale beispielhaft in den Texten des etablierten Essayisten Enzensberger wiederfinden.
2. Der Essay als Genre
„Den Essay“ zu definieren wird mitunter als unmögliche Aufgabe gesehen, die der Bändigung des Proteus gleicht[4]. In der Literatur wurden bereits vielfältige Versuche unternommen, die Grenzen des Genres zu bestimmen, jedoch ohne letztendlich ein vollumfängliches, allgemeingültiges Ergebnis hervorzubringen. Auch widersprechen sich die Definitionen oftmals gegenseitig, und dies bereits hinsichtlich reiner Formalien wie des Umfangs[5]. Statt eines weiteren Versuches werden in diesem Kapitel die Ansichten der beiden Germanisten Gerhard Haas und René Pfammatter in den Fokus gerückt, deren Werke einen breiten Überblick über den Forschungsstand erlauben. Pfammatter leitet in Bezugnahme auf verschiedene Gattungstheoretiker wie Ludwig Rohner, Georg Lukács und Bruno Berger sein Verständnis der Textsorte detailliert her. Dabei unterscheidet er vor allem zwischen verschiedenen Dimensionen der Darstellung, Verfahrensweisen sowie diversen essayistischen Modi und zeigt die Problematik einzelner Aspekte als Eigenschaften des Essays auf. Seine Darlegungen münden in dem Erstellen eines Kriterienkataloges, der, mit partiell ermöglichtem Spielraum und innerhalb seines Charakters als Vorschlag, umfassend Geltung beansprucht. Haas diskutiert, ausgehend von der Definition Rohners[6], unter weitgehend ähnlichen Rückbezügen besonders gängige der bisher aufgestellten Merkmale und wägt deren unterschiedliche Auslegungen gegeneinander ab. Eine endgültige, vollumfängliche Bestimmung des Essays erstellt er nicht, er hält sie vielmehr für unmöglich[7]. In diesem Kapitel wird, in Unterscheidung formaler und inhaltlicher Kriterien, im Schwerpunkt die Argumentation Pfammatters nachgezeichnet sowie in Beziehung und ggf. Kontrast zu den Darlegungen von Haas gesetzt. Aufgrund der jeweils unterschiedlichen Herangehensweise und aus Gründen der Übersichtlichkeit findet keine Gegenüberstellung jedes einzelnen Aspektes statt, stattdessen sollen Übereinstimmungen und Differenzen exemplarisch hervorgehoben werden.
2.1 Formale Kriterien
Als Urheber der Textsorte wird der französische Jurist und Philosoph Michel de Montaigne bezeichnet[8]. Im Jahr 1580 veröffentlicht Montaigne seine ersten „Essais“ (zu deutsch „Versuch, Probe“) in Form von Textsammlungen über Themen verschiedenster Lebensbereiche, darunter Kindererziehung, Freundschaft oder auch Gesprächs- und Diskussionskunst. Der Titel jener Sammlungen ist vor allem als Beschreibung seiner Vorgehensweise zu verstehen, die nicht durch systematisch strukturierte Demonstration etwa von Überzeugungen, sondern durch die allmähliche, assoziative Entwicklung konkreter Gedanken gekennzeichnet ist[9]. Dass im Vorfeld des Schreibprozesses häufig, jedoch nicht zwangsläufig, bereits bestimmte Ziele oder Motive vorhanden sind, ist freilich nicht auszuschließen, wenn nicht sogar wahrscheinlich. Auch ist die oftmals nachgewiesene, mehrfache Bearbeitung der Texte über einen langen Zeitraum ein Hinweis darauf, dass es sich nicht um Verschriftlichungen gänzlich spontaner Überlegungen handelt[10], sondern dass dies lediglich simuliert wird. Eine andere Art des Essays wird durch den englischen Philosophen Francis Bacon zur nahezu gleichen Zeit geprägt. Bacons Essays sind belehrend, urteilend und damit einem Traktat ähnlich[11].
Für Pfammatter ist der literarische Essay zunächst ein nichtfiktionaler, einen realen Gegenstand behandelnder und tatsächliche Fakten aufgreifender Prosatext von relativ kurzem Umfang. Zur genaueren Bestimmung wird unter anderem Ludwig Rohner angeführt, der eine durchschnittliche Länge von 16 Seiten nennt[12]. Die sprechende Instanz ist mit dem Autor gleichzusetzen[13]. Dabei wird der Stil des Essays vor allem durch die „Individualität des Autors“ sowie „Zeit- und Epochenstile“ beeinflusst[14]. Bei der Zuordnung eines Textes zu dieser Gattung spielt weiterhin eine große Rolle, ob der Rezipient ihn als „sprachlich geglückt“ bewertet. Hierbei handelt es sich allerdings um ein „ästhetisches Werturteil“, dessen Verwendung als Genremerkmal sich letztendlich aufgrund seines nur eingeschränkt objektivierbaren Charakters als problematisch erweist[15]. Ferner besteht die Erwartung einer „sprachlich und intellektuell vergleichsweise hohen oder höheren Qualität des Dargelegten“[16] (vgl. w.u.), von Haas auch als „gewisse geistige Exklusivität“[17] bezeichnet. Hiermit geht einher, dass man dem Autor eines Essays einen recht hohen Bildungsgrad unterstellt und der Leser, um ihn zu verstehen und vollumfänglich Gefallen an dem Text finden zu können, ihm in diesem Punkt wenig nachstehen sollte. Diese Auffassung teilt auch Gerhard Haas, der als Beispiel die Texte Montaignes nennt, die nicht explizit benannte Zitate von Plutarch enthalten und entsprechende Kenntnisse des Lesers voraussetzen[18]. Die offene Form des Textes ist ein weiterer wichtiger Aspekt, den beide Theoretiker anerkennen. Dies betrifft vor allem die Art des Denkens[19] bzw. der Vorgehensweise. Es gibt in der Argumentation keine klare Linie, die systematisch verfolgt wird und an deren Ende ein schlüssiges Ergebnis steht. Es werden vielmehr unterschiedliche Sichtweisen auf den Gegenstand beleuchtet[20] und der Leser durch die bewusste – und, wie in Kapitel 2.2 noch zu erläutern sein wird, unvermeidbare – Unabgeschlossenheit der geschilderten Gedankengänge dazu angeregt, sich selbst geistig zu betätigen[21]. Auch besteht kein Anspruch der erschöpfenden Behandlung des jeweiligen Themas[22]. Bei aller Unbestimmtheit der formalen Kriterien betont Pfammatter, dass es in einem Essay vor allem darauf ankommt, dass die Mittel zur Darstellung im Hinblick auf ihre „funktionale Notwendigkeit, kommunikative Angemessenheit und artistische Stimmigkeit“ gewählt werden, und zwar speziell bezogen auf den individuellen Text[23]. Der Punkt der funktionalen Notwendigkeit erklärt sich aus der Absicht der bestmöglichen schriftlichen Vermittlung der Gedanken und gewinnt besonders bei der Verwendung rhetorischer Mittel Bedeutung. Diese können neben ihrer Eigenschaft als kunstvolles sprachliches Gestaltungselement zur Verdeutlichung und Verstärkung der getätigten Aussagen dienen, so etwa Antithesen zum Hervorheben von Gegensätzen[24]. Aber auch über den Gebrauch rhetorischer Mittel hinaus wird Sprache gezielt eingesetzt. Sie ist gerade im Essay besonders facettenreich, beinhaltet unter anderem Wortspiele, Fachvokabular und/oder Regionalwortschatz und erzeugt somit Originalität und Pointierung[25]. Auch Ironie findet häufig Verwendung. Durch sie wird „das Gesagte in Frage gestellt oder relativiert, […] das Denken im Essay ständig perspektivisch erweitert“, oder die Gegenposition wird durch Übernahme und ironische Behandlung kritisiert[26]. Auch können subjektive Schilderungen mit Hilfe von Rhetorik vermeintlich objektiven Charakter erhalten[27]. Der Aspekt der artistischen Stimmigkeit wiederum geht auf einen künstlerischen, spielerischen Anspruch des Essays zurück. Ferner ist es beabsichtigt, dass der Essay nicht bloß für sich existiert, sondern von einer Person gelesen wird, sodass gewissermaßen eine sprachliche Kommunikation[28] stattfindet, die während des Schreibvorganges berücksichtigt wird (vgl. Inhalte und Verfahren). Der Essay will das Interesse des Lesers gewinnen, aufrechterhalten und ihn für seine Ansicht(en) öffnen. Das beginnt bereits im Titel, der durch prägnante, markante oder auch provokante Formulierung einen Hinweis auf das geben kann, was den Leser bei der Lektüre erwartet, sowohl auf sprachlicher als auch inhaltlicher Ebene[29]. Wie schon oben erwähnt, kommt dem Vorwissen bzw. der Bildung von Autor und Leser eine große Bedeutung zu. Verweist der Titel zum Beispiel auf bestimmte literarische Werke oder verwendet spezielle Fremdworte, ist es möglich, dass manch ein potenzieller, auf dem jeweiligen Gebiet wenig oder nicht bewanderter Leser dadurch „abgeschreckt“ wird, mit anderen Worten, es besteht theoretisch die Möglichkeit einer Selektion des Lesepublikums[30] bereits vor der eigentlichen Lektüre.
[...]
[1] Vgl. Pfammatter, S. 65.
[2] Pfammatter, René: Essay – Anspruch und Möglichkeit.
[3] Haas, Gerhard: Essay.
[4] Vgl. Glaudes, S. I, in: Zima, S. 1.
[5] Vgl. Pfammatter, S. 1f.
[6] Vgl. Rohner, S. 672, in: Haas: Essay, S. 47.
[7] Vgl. Haas: Essay, S. 47.
[8] Vgl. Pfammatter, S. 8.
[9] Vgl. ebd., S. 10.
[10] Vgl. Hardison, S. 16, in: Pfammatter, S. 96.
[11] Vgl. Pfammatter, S. 12.
[12] Vgl. Rohner, S. 348, in: Pfammatter, S. 70.
[13] Vgl. Pfammatter, S. 48f.
[14] Vgl. ebd., S. 52.
[15] Vgl. Pfammatter, S.55f.
[16] Vgl. ebd., S. 65.
[17] Vgl. Haas: Essay, S. 31.
[18] Vgl. ebd., S. 80.
[19] Vgl. Pfammatter, S. 59.
[20] Vgl. Atkins, S.6f., in: Pfammatter, S. 61.
[21] Vgl. Haas: Essay, S.51, in: Pfammatter, S. 60.
[22] Vgl. Haas: Essay. S. 38.
[23] Vgl. Pfammatter, S. 62.
[24] Vgl. ebd., S. 77f.
[25] Vgl. Pfammatter, S. 80.
[26] Vgl. ebd., S. 96.
[27] Vgl. ebd.
[28] Vgl. ebd., S. 40.
[29] Vgl. ebd., S. 67-69.
[30] Vgl. ebd., S. 68.