Das Gesellschaftsspiel als Grundlage für diagnostische Interviews im Vorschuljahr
Mathematische Lernchancen und Einblicke in Vorerfahrungen am Beispiel "Geißlein, versteck dich!"
Zusammenfassung
Dazu wurde das Spiel „Geißlein versteck dich!“ ausgewählt und ein Interviewleitfaden erstellt (siehe Anhang), mittels welchem die oben angesprochenen Aspekte erkundet werden sollen. Anwendung fand dieser Leitfaden in einer zweiteiligen Erprobungsphase. Im ersten Teil spielten vier Kinder nach Erläuterung der Spielregeln gemeinsam das Spiel und wurden dabei gefilmt, im zweiten Teil spielten jeweils zwei Kinder mit dem Interviewer das Spiel nochmals und an die Spielphase schloss sich ein diagnostisches Interview an. Auch dieser Abschnitt wurde in Bild und Ton festgehalten.
Um die Ergebnisse darzustellen, wird zuerst erläutert, inwieweit laut Literatur Vorschulkinder bereits in der Lage sind, Mengen zu erfassen und wie ihre Zahlvorstellung und die Kenntnis über Invarianz ausgeprägt sind. Anschließend werden die Aufgaben- und die Spielwahl begründet, indem das Potential des gewählten Spiels erläutert wird.
Abschließend wird dargestellt, welche Fähigkeiten das an der Erkundung teilgenommene Kind A bereits erworben hat und welche es noch zu erwerben gilt. Grundlage dazu sind die aus den Aufzeichnungen gewonnenen Transkripte sowie ausgewählte Bilder.
Leseprobe
Inhalt
1. Ziele des Erkundungsprojektes
2. Hintergrundwissen
3. Potential des gewählten Spiels
4. Analyse eines Fallbeispiels
5. Literatur
Anhang
Interviewleitfaden
Transkript Aufbauphase
Transkipt Spielphase gemeinsam
Bildmaterial
1. Ziele des Erkundungsprojektes
Schwerpunkt der Erkundung ist es, die Fähigkeit der Kinder zur Mengenerfassung (strukturierte und unstrukturierte Mengen) und zur Zahlvorstellung, inklusive der Vorstellung der Invarianz, im Zahlenraum bis 7 zu ermitteln. Weiterhin wird ausgelotet, ob die Zahlvorstellung der Kinder über diesen Rahmen hinaus geht und ob sie bereits im Zahlenraum bis 7 (oder darüber hinaus) rechnen können.
Dazu wurde das Spiel „Geißlein versteck dich!“ ausgewählt und ein Interviewleitfaden erstellt (siehe Anhang), mittels welchem die oben angesprochenen Aspekte erkundet werden sollen. Anwendung fand dieser Leitfaden in einer zweiteiligen Erprobungsphase. Im ersten Teil spielten vier Kinder nach Erläuterung der Spielregeln gemeinsam das Spiel und wurden dabei gefilmt, im zweiten Teil spielten jeweils zwei Kinder mit dem Interviewer das Spiel nochmals und an die Spielphase schloss sich ein diagnostisches Interview an. Auch dieser Abschnitt wurde in Bild und Ton festgehalten.
Um die Ergebnisse darzustellen, wird zuerst erläutert, inwieweit laut Literatur Vorschulkinder bereits in der Lage sind, Mengen zu erfassen und wie ihre Zahlvorstellung und die Kenntnis über Invarianz ausgeprägt sind. Anschließend werden die Aufgaben- und die Spielwahl begründet, indem das Potential des gewählten Spiels erläutert wird.
Abschließend wird dargestellt, welche Fähigkeiten das an der Erkundung teilgenommene Kind A bereits erworben hat und welche es noch zu erwerben gilt. Grundlage dazu sind die aus den Aufzeichnungen gewonnenen Transkripte sowie ausgewählte Bilder.
2.Hintergrundwissen
Der Umgang mit Zahlen und Rechenoperationen fordert von Kindern mehr, als bloß Plus- und Minusaufgaben zu rechnen. Es gilt bereits vorab einige Kompetenzen zu erwerben, um einen Zahlbegriff zu etablieren. Dazu gehören die Kenntnis um Invarianz, die Entwicklung einer „Eins-zu-Eins-Zuordnung“, die Klassifikation und die „Bildung von Reihenfolgen“ [vgl. Hasemann, S. 12], wobei die beiden erstgenannten Aspekte ausschlaggebend sind für die hier vorliegende Erkundung, sodass letztgenannte hier nicht weiter behandelt werden.
Die Leistung eines Kindes bei Aufgaben zur Invarianz liegt darin, dass es erkennen muss, „dass sich Aussagen wie „mehr als“ oder „weniger als“ auf die Anzahl der Elemente in einer Menge bezieht und nicht auf die räumliche Ausdehnung dieser Elemente“ [Hasemann, S. 13] Kinder ab sechs Jahren sind in der Lage, die Invarianz zu erkennen und „räumliche Verschiebung durch eine nur in Gedanken durchgeführte Handlung wettzumachen“ [Hasemann, S. 14]. Der Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung an Schulanfängern zeigte, dass die Eins-zu-eins-Zuordnung den Kindern teilweise Schwierigkeiten bereitet: mit Abzählen waren 75% der Teilnehmer in der Lage, Objekte zuzuordnen, ohne Zählen 61%, wobei die meisten Fehler deshalb entstanden, da sich die Teilnehmer von der Optik der Aufgabenstellung täuschen ließen [vgl. Käpnick S. 68]. Mehr als die Hälfte der Kinder jedoch sind in der Lage, die Aufgaben aus dem Test zu diesem Aspekt korrekt zu lösen. Resnick schlussfolgert, dass
“[sich] im Vorschulalter […] die Sprachfähigkeit so weit [entwickelt], dass die Kinder Mengenvergleiche und – veränderungen […] beschreiben können. […] Die Vergleiche beruhen […] auf der Wahrnehmung und weniger auf exaktem Bestimmen von Anzahl durch Zählen. Eine weitere Erkenntnis der Kinder […] ist, dass das Hinzufügen von Elementen eine Menge größer macht, das Wegnehmen kleine und dass eine Menge unverändert bleibt, wenn nichts hinzugefügt oder weggenommen wird.“ [Hasemann, S. 16].
Daraus ergibt sich, dass „die Zählkompetenz wesentlich für die Entwicklung des Zahlbegriffs“ ist [ebd.].
Das Aufsagen der Zahlwortreihe hat noch nichts mit einer Anzahlbestimmung durch Zählen zu tun, denn um korrekt abzuzählen, muss das Kind die fünf Zählprinzipien nach Gelman und Gallistel einhalten:
- Das Eindeutigkeitsprinzip legt fest, dass „jedem der zu zählenden Objekte […] genau ein Zahlwort zugeordnet [wird.]“
- Das Prinzip der stabilen Ordnung legt die Reihenfolge der Zahlwörter fest.
- Das Kardinalzahlprinzip bestimmt, dass die Anzahl der Objekte der Menge durch das zuletzt genannte Zahlwort festgelegt wird.
- Das Abstraktionsprinzip besagt, dass die Art der zu zählenden Objekte irrelevant ist und damit jede Menge gezählt werden kann.
- Das Prinzip der Irrelevanz der Anordnung besagt, dass die Lage der Objekte für das Zählergebnis unerheblich sind. [vgl. Hasemann, S. 19]
Die ersten drei genannten Zählprinzipien werden bis zu einem Alter von dreieinhalb Jahren erworben, auch wenn noch Schwierigkeiten mit der Zahlwortreihe bestehen [vgl. Hasemann S. 21]. Bezüglich der Zählkompetenzen ergab sich beim Osnabrücker Test, dass 77% der Kinder die Zahlwortreihe bis 20 aufsagen konnte, 72% von 9 bis 15 weiter zählen, die Hälfte in Zweierschritten, 58% geordnete, 49% ungeordnete und 32% rückwärts anhand von Material zählen konnten [vgl. Käpnick, S. 68]. Auch Selter und Spiegel stellen fest: „dass sehr viele Schulanfänger die Reihe der Zahlworte schon ziemlich weit aufsagen, Mengen im Bereich bis 20 sicher abzählen und auch die Zahlzeichen (ein- und zweistellige Zahlen) benennen können“ [Selter, S. 20].
3. Potential des gewählten Spiels
Das Spiel „Geißlein, versteck dich“ bietet im Spielverlauf die Möglichkeit, die (quasi-) simultane Zahlerfassung im Zahlenraum bis 5 unter den Verstecken zu überprüfen. Weiterhin müssen die Kinder ihre erspielten Figuren im Blick behalten und mit der Anzahl ihrer Mitspieler und des fiktiven Spielers „Wolf“ vergleichen, um den Sieger des Spiels zu ermitteln. Hier erweitert sich der Zahlenraum auf 6 bzw. 7. Die Menge der Figuren unter den Verstecken liegt unstrukturiert vor. Ob die Kinder in der Lage sind, Mengen zu strukturieren, - oder ob sie diese Struktur benötigen - wird anhand der Beobachtung ermittelt, wie sie sich ihre erspielten Figuren auslegen und wie sie ihre Anzahl mit denen ihrer Mitspieler vergleichen, um den Sieger des Spiels zu ermitteln.
Der Zahlenraum, in dem die Kinder sich sicher bewegen, wird anhand eines dritten (bzw. vierten) Bildes ausgelotet, welches die Anzahl aller Spielfiguren unter allen Verstecken zeigt, auch hier wieder einmal strukturiert und einmal unstrukturiert.
Der Aufbau des Spiels wird genutzt, um die Anzahlerfassung der Kinder zu beobachten bzw. ihre Zählfähigkeiten zu ermitteln. Der Neuaufbau des Spiels wird genutzt, um die Fähigkeit der Ergänzung zu anderen Mengen zu beobachten. Hier bietet es sich auch an, das Prinzip der Schachtelaufgaben mit einfließen zu lassen.
Das Spiel bietet insgesamt ein hohes Potential an Beobachtungen und Ermittlung von Fähigkeiten alleine durch Beobachtung. Entsprechende Impulse während des Spielverlaufs können tiefer gehende Kompetenzen herausarbeiten, doch durch Zurückhaltung und Arbeit mit dem Spiel und den Situationen an sich sind schon viele Anreize für die Kinder gegeben, ihre vorhandenen mathematischen Fähigkeiten zu zeigen. Aufgrund der Vielfältigkeit der Situationen, in denen sich mathematische Kompetenzen und Fähigkeiten bereits während des Spielverlaufs zeigen können (siehe auch Interviewleitfaden im Anhang), kann das sich anschließende diagnostische Interview im Anschluss an die Spielrunde kurz gehalten werden. Hierzu wurde Material vorbereitet, welches die Zahlerfassung im Vergleich zwischen strukturierten und unstrukturierten Mengen anhand zweier Bilder ermittelt soll, bei denen die gleiche Spielsituation einmal strukturiert und einmal unstrukturiert vorliegt. So soll eine Diskussion über den Vorteil von strukturierten Mengen angeregt werden.
Der Interviewer an sich spielt beim Spielgeschehen ebenfalls eine Rolle. Er hat die Möglichkeit, entweder nur zu beobachten oder aktiv am Spielgeschehen teilzunehmen. Im aktiven Spielgeschehen können Fragen zur Zahlerfassung gestellt werden oder problematische Situationen zur tiefer gehenden Analyse der Fähigkeiten genutzt werden. Durch nonverbale Impulse, allein durch seine Spielweise, kann er ein Vorbild bieten, z.B. beim Auslegen der gewonnenen Figuren. Dadurch kann er z.B. vermitteln, dass ein strukturiertes, geordnetes Auslegen der Figuren von Vorteil ist, um den Überblick über die Menge zu behalten und auch die Anzahl der Figuren des Gegners schneller zu erfassen, wenn sich alle an ein strukturiertes Auslegemuster halten.
Neben dem Potential als Diagnoseinstrument hat das Spiel also auch das Potential als Fördermaterial: der Einbau der Schachtelaufgaben fördert Rechenfähigkeiten, die Vorteile der Strukturierung von Mengen können vermittelt und die (quasi-)simultane Anzahlerfassung kann geübt werden. In ganz besonderer Weise kann also mittels des hier angewandten Spiels auf einfache Art und Weise Diagnose und Förderung mit einem „Werkzeug“ verbunden werden, welches zudem durch seinen spielerischen Charakter gleichzeitig Motivation und Interesse weckt.
Das Spiel eignet sich durch sein großes Potential an Diagnose- und Fördermöglichkeiten daher ganz besonders als unterstützendes Instrument beim Übergang von Kindergarten zur Grundschule. Dieser Vorteil ist ganz besonders hervorzuheben, auch wenn er nicht direkt Ziel des Projektes ist, sondern sich durch die Analyse des Potentials beinahe „nebenbei“ ergeben hat. Es ist gut vorstellbar, dass das Spiel im Kindergarten eingeführt wird, sodass die Kinder es bereits kennen, wenn sie in die Grundschule kommen. Dadurch, dass es nicht nur als Diagnose- sondern auch als Fördermaterial genutzt werden kann (s.o.) und zudem den Kindern vertraut ist im Umgang, kann sogleich eine Förderung bei Kindern mit Förderbedarf einsetzen und es müssen nicht erst Ängste vor fremden Materialien abgebaut und Umgangsweisen mit dem Material erarbeitet werden. Zudem wird so der Bruch, der zwischen Kindergarten und Grundschule entsteht, gemildert, wenn die Kinder im neuen Umfeld Schule Dinge entdecken, die ihnen bereits aus dem Kindergarten vertraut sind.
4. Analyse eines Fallbeispiels
Im Folgenden steht in den verwendeten Transkripten die Abkürzung A für die Aussagen des beobachteten Kindes, D für die Aussagen des Spielpartners und I für die Äußerungen des Interviewers.
A ist in der Anzahlerfassung bis fünf noch unsicher. Eine simultane Erfassung der Anzahl ist weder bei strukturierten noch bei unstrukturierten Mengen möglich, wenn die Anzahl größer als zwei ist. Das Kind zählt die Anzahl der Figuren immer wieder bei eins beginnend ab und berührt die Figuren dabei mit seinem Zeigefinger (siehe Transkript Aufbauphase, Zeilen und Spielverlauf gemeinsam, Zeilen im Anhang). Eine Ausnahme dazu ist allerdings die erste Berührung mit den Figuren (Aufbauphase, Zeile 3):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Hier berührt es die Figuren nicht einzeln mit dem Finger, sondern mit seinem Blick. Das mag daran liegen, dass es die Figuren bereits in der Hand hat und somit die haptische Notwendigkeit, die es zum Zählen benötigt, bereits befriedigt ist.
A hat erkannt, dass es von Vorteil ist, wenn die Figuren so liegen, dass das Auge sie gut erfassen kann, also strukturiert. So schiebt es z.B. zum Abzählen die Figuren zuerst zurecht, bevor es zählt (Aufbauphase, Zeile 22 und 29):
Abbildung 1
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3
Während es im ersten Spiel, bei dem nur die Kinder miteinander spielten, die Figuren in den Händen hielt und nicht vor sich auslegte (Bild 1), übernahm es im zweiten Spiel mit Interviewer zuerst die Strategie ihres Mitspielers und legte die Figuren im Haufen vor sich aus (Bild 2), anschließend übernahm es die Strategie des Interviewers und legte die Figuren in einer Reihe (Bild 3). Das Kind stellte dann fast, dass sich die Figuren so sehr gut zählen lassen (Bild 4).
Daraus ergab sich auch, dass A im Spielverlauf die Anzahl der gewonnenen Figuren im Blick behielt und miteinander verglich. So ergab sich folgende Situation:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
A kann also die Anzahl der gewonnenen Figuren eines jeden Spielers erfassen und miteinander in Beziehung setzen. Das Kind erkennt, dass der Interviewer zu dem Zeitpunkt des Spiels vorne liegt, da er die meisten Figuren zu diesem Zeitpunkt hat und zieht daraus den Schluss, dass der Interviewer wohl gewinnen wird. Es zeigt ebenfalls die Fähigkeit, die noch zum Gewinn fehlende Anzahl zu ermitteln, indem es bis zur Zielzahl ergänzt. Dass bis dahin noch einige Runden zu spielen sind und der Interviewer auch verlieren könnte, hat es zu dem Zeitpunkt nicht im Blick. Der Interviewer liegt vorne und wird die noch fehlende Anzahl noch erlangen, um zu gewinnen. Schade ist, dass der Mitspieler die Beantwortung der letzten Frage übernimmt, sodass nicht geklärt werden kann, ob A in der Lage war, die richtige Anzahl zum Gewinn zu ermitteln.
Dass A in der Lage ist, bis zu einer vorgegebenen Menge zu ergänzen, zeigt folgende Situation im diagnostischen Interview im Anschluss an das Spiel:
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