Der Erlöser im modernen Film. Jugendliche Sinnsuche in „Harry Potter“ und „Matrix“
Zusammenfassung
Doch neben immensem Erfolg und zeitnaher Veröffentlichung haben beide Filmreihen wesentlich mehr gemeinsam, so sind sie vollbepackt mit religiösen Momenten, greifen religiöse Sehnsüchte der Gesellschaft auf und sind beide durch eine Hauptperson gezeichnet, die ein Erlöser des jeweiligen Kosmos ist und prägnante Parallelen zum biblischen Jesus zeigt. Und genau dieser letzte Punkt könnte verantwortlich für den enormen Erfolg bei Jugendlichen sein.
So möchte diese Arbeit beweisen, dass religiöse Muster, wie eine Erlöserfigur als Protagonist, im modernen Film für überdurchschnittliches Interesse bei Jugendlichen sorgen. Zunächst wird hierfür nachvollzogen, wie die Religions- und Sinnsuche bei einem jugendlichen Publikum funktioniert und ob religiöse Muster im Film sie in dieser Lebensphase überhaupt tangieren. Hierzu werden zunächst soziologische und danach entwicklungspsychologische Aspekte der Sinn und Religionssuche durchleuchtet. Im Zweiten wird sich damit beschäftigt, wie viel Religion und Erlöser eigentlich wirklich in den exemplarischen „Erlöserfilmen“ Matrix und Harry Potter stecken.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Darlegung des Themas
2. Sinnsuche und religiöse Orientierung der Jugendlichen
2.1 Die Lebensphase Jugend
2.2 Soziologische Perspektive
2.2.1 Säkularisierung und die Wiederkehr der Religion
2.2.2 Quantitative Entwicklung der Religiösen
2.2.3 Qualitative Entwicklung der Religiösen
2.2.4 Individualisierung und Pluralisierung der Lebensräume
2.3 Entwicklungspsychologische Perspektive
2.3.1 Entwicklungsaufgaben der Jugendlichen
2.3.2 Psychosoziale Krisen der Adoleszenz
2.3.3 Identitätsentwicklung
3. Untersuchung der Filme „Matrix“ und „Harry Potter und der Stein der Weisen“
3.1 Untersuchung des Films „Matrix“ (Originaltitel „The Matrix“)
3.1.1 Inhaltliche Zusammenfassung
3.1.2 Neo der Erlöser
3.1.3 Weitere Figuren in Bezug auf biblische Momente
3.2 Untersuchung des Filmes „Harry Potter und der Stein der Weisen“ (Originaltitel „Harry Potter and the Philosopher’s Stone“)
3.2.1 Inhaltliche Zusammenfassung
3.2.2 Harry Potter als Erlöser
3.2.3 Weitere Figuren in Bezug auf biblische Momente
4. Bedeutung von Filmen mit religiösen Elementen für die Sinnsuche und religiöse Orientierung Jugendlicher
5. Fazit und Ausblick
Quellenverzeichnis
1. Einleitung und Darlegung des Themas
Die Science-Fiction Trilogie „Matrix“ sowie die Fantasy-Saga „Harry Potter“ gehören zu den erfolgreichsten Filmreihen aller Zeiten[1]. „Harry Potter“, der diese Tabelle sogar anführt, liegt damit vor Klassikern wie „James Bond“ und „Star Wars“. Vor allem bei Jugendlichen ist ein regelrechter Hype um diese Filme ausgebrochen. Egal ob stundenlanges Anstehen vor dem Kino[2], Sparen auf den heißbegehrten (Neo-) Ledermantel, oder das ständige Einüben von Sprüchen aus den Filmen, um diese anschließend vor Freunden zu präsentieren - nichts ist zu aufwendig, um den Geschichten näher zu kommen und diesen einen Platz im echten, im realen Leben zu geben.
Doch neben immensem Erfolg und zeitnaher Veröffentlichung haben beide Filmreihen wesentlich mehr gemeinsam, so sind sie vollbepackt mit religiösen Momenten, greifen religiöse Sehnsüchte der Gesellschaft auf[3] und sind beide durch eine Hauptperson gezeichnet, die ein Erlöser des jeweiligen Kosmos ist und prägnante Parallelen zum biblischen Jesus zeigt. Und genau dieser letzte Punkt könnte verantwortlich für den enormen Erfolg bei Jugendlichen sein.
So möchte ich mit dieser Arbeit beweisen, dass religiöse Muster, wie eine Erlöserfigur als Protagonist, im modernen Film für überdurchschnittliches Interesse bei Jugendlichen sorgen. Zuerst werde ich hierfür nachvollziehen, wie die Religions- und Sinnsuche bei einem jugendlichen Publikum funktioniert und ob religiöse Muster im Film sie in dieser Lebensphase überhaupt tangieren. Hierzu werde ich zunächst soziologische und danach entwicklungspsychologische Aspekte der Sinn und Religionssuche durchleuchten. Im Zweiten beschäftige ich mich damit, wie viel Religion und Erlöser eigentlich wirklich in den exemplarischen „Erlöserfilmen“ Matrix und Harry Potter stecken. Die Liste weiterer beispielhafter Filme hätte ich noch deutlich verlängern können, jedoch werde ich mich, in Anbetracht der Länge dieser Arbeit, auf je einen Film der Gattung Science-Fiction sowie Fantasy beschränken.
In der folgenden Arbeit habe ich mich neben religionspädagogischen Standardwerken, wie „Einführung in die Religionspädagogik“ von Reinhard Boschki und „Religionsdidaktik“ von Georg Hilger auch viel mit Fachliteratur wie „Faszination Harry Potter: Was steckt dahinter“ von den Herausgebern Dormeyer und Munzel, sowie mit aktuellen Schriften wie „Religion und Gewalt im Bibelfilm“ von Reinhold Zwick befasst.
2. Sinnsuche und religiöse Orientierung der Jugendlichen
In diesem Teil der Arbeit werde ich der Frage nachgehen, wie die moralische und religiöse Orientierung der Jugend funktioniert, um in einem späteren Punkt zu klären, ob religiöse Muster im Film in dieser Lebensphase überhaupt interessant für sie sind. Hierzu werde ich zuerst den Begriff der Lebensphase Jugend genauer erläutern. Danach werde ich den soziologischen sowie den entwicklungspsychologischen Kontext durchleuchten.
2.1 Die Lebensphase Jugend
Über den Beginn und das Ende der Lebensphase Jugend gibt es unterschiedliche Ansätze. So bestimmt zum einen der deutsche Gesetzgeber, dass ein Jugendlicher 14, aber noch keine 18 Jahre alt ist.[4] Zudem beschreibt das Sozialgesetzbuch weiter, dass ein „junger Volljähriger“ ist, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist.[5] In der Shell-Jugendstudie hingegen gilt als Jugendlicher, wer zwischen 12 und 25 Jahre alt ist.[6] Im Alltagsverständnis wird die Sozialgruppe Jugend oftmals einfach als eine bestimmte „Lebensaltersgruppe“ abgestempelt,[7] ohne jedoch die Besonderheit dieser biographisch äußerst wichtigen Phase genauer zu berücksichtigen. Denn neben seiner biologischen Besonderheit, nämlich vom Kind über die Pubertät (Geschlechtsreife) hin zu einem erwachsenen Menschen zu reifen, gilt es zudem die Besonderheit der psychologischen und soziologischen[8] Veränderung dieser Phase zu beachten. So geht mit dem sichtbaren, körperlichen Wandel vor allem ein unsichtbarer einher.
Viele der Ereignisse und Entscheidungen dieser Phase können sich auf das ganze weitere Leben auswirken: Die erste große Liebe, der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt, die Trennung von der ersten großen Liebe, der Auszug bei den Eltern in eine eigene Wohnung oder sogar die Zeugung des ersten eigenen Kindes, sind nur einige Beispiele hierfür.
Die Relevanz dieses Lebensabschnitts spiegelt sich aber auch in etlichen Veröffentlichungen wieder. Zum einen in der Fachliteratur, so hat beispielsweise Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, der auch Herausgeber der Shell-Jugendstudie ist, etliche Publikationen zu diesem Thema veröffentlicht. Ein sehr wichtiges Werk, dass auch in dieser Arbeit Verwendung findet, trägt den Titel: „Lebensphase Jugend: eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung“. Zum anderen gibt es in den Bereichen Film und Unterhaltungsliteratur sogar ein eigenes Genre namens Adoleszenz (lat.; adolescere = heranwachsen, erstarken; Jugendalter, die Zeit zwischen dem Eintritt der Geschlechtsreife (Pubertät) und dem Erwachsen sein)[9], worin meist typische, jugendrelevante Themen wie Jugendkriminalität, Gewalt, Sucht und Drogen aber auch Sexualität behandelt werden.[10] Ein nennenswertes Beispiel hierfür ist der englische Film „Submarine“ von Richard Ayoade, der von einem 15-Jährigen Teenager handelt, welcher sich in der ersten Beziehung versucht, Probleme mit Wertvorstellungen hat und versucht sich in der Welt zu verorten. Eben Themen, die das Erwachsenwerden so mit sich bringen.
2.2 Soziologische Perspektive
Um zu verstehen was Jugendliche an Filmen mit religiösen Mustern fasziniert, ist es neben den entwicklungspsychologischen Aspekten, die eher das Individuum fokussieren, auch essenziell, die gesellschaftlichen Gesichtspunkte genauer zu untersuchen. Hierbei spricht man von Soziologie (lat. socius: Gefährte, Geselle, und griechisch logos: Wort, Vernunft), im religiösen Kontext auch von Religionssoziologie. Diese befasst sich unter anderem mit sozialen Voraussetzungen, Bedingungen und Formen von Religion, sowie den wechselseitigen Einfluss von Gesellschaft auf Religion.
2.2.1 Säkularisierung und die Wiederkehr der Religion
Unter Säkularisierung (=Verweltlichung) versteht man den Prozess, durch den sich die bürgerliche Gesellschaft und Regierung der religiösen Kontrolle entzieht.[11] So waren in vormodernen Gesellschaften Religion und deren Ausübung zentrale Themen des Alltags. Zudem regierte die Kirche zusammen mit dem Adel über das Volk.[12] In Europa begann jedoch mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Säkularisierung sowie die Entzauberung der Welt (Max Weber). So verlor die Religion an etlichen Stellen an Einfluss und Bedeutung: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft (Wissen statt Glauben), Bildung und Erziehung sowie an Kultur.[13] Dies führte soweit, dass man heute, auf den ersten Blick zumindest, von einer säkularen Gesellschaft sprechen kann.[14] Und doch kam es zu Beginn des 21. Jahrhunderts, entgegen der Annahme einer „radikalen Form von Säkularisierung“[15], zu einem „Bedeutungsanstieg des Religiösen“[16] ja sogar zu einer „Wiederkehr der Religion“.[17] So treibt auch die Maschinerie der Globalisierung, mit ihrer hochtechnisierten, komplexen Welt und der resultierenden Beschleunigung des Alltags, viele Menschen wieder zurück in Formen des Glaubens und der Religion.[18] Die Religiosität scheint also wieder auf dem Vormarsch zu sein, jedoch nicht in der Art und Weise wie dies früher der Fall war, sondern in transformierten und teilweise auch esoterischer Formen.[19]
2.2.2 Quantitative Entwicklung der Religiösen
Wie oben schon angedeutet, hat sich die Gesellschaft und mit ihr auch die stark Religionsausübenden verändert. So möchte ich hierbei zuerst auf den quantitativen und danach auf qualitativen Wandel eingehen.
Betrachten wir zur quantitativen Auswertung also die Mitgliederentwicklung der christlichen Religionsgemeinschaften (Römisch-katholische sowie die Evangelische Kirche):
Vor der Wiedervereinigung:[20]
Nach der Wiedervereinigung:[21]
Wie man an dieser Statistik also gut erkennen kann, geht die Zahl der Gläubigen immer weiter zurück. Auch wenn man den Mauerfall, der die Kontinuität der Darstellung etwas durcheinander bringt, ausblendet, ist alleine von 1990 – 2012 auf katholischer Seite ein Rückgang von 5,2 und auf evangelischer Seite von sogar knapp 8 Prozentpunkten erkennbar. Zudem waren 1950 gut 96% der Deutschen christlich, so waren es 2012 nur noch knapp 60%. Dies ist ein Rückgang über 35 Prozentpunkten. In Ostdeutschland, bedingt durch den (konfessionslosen) Kommunismus der DDR, sind derzeit rund drei Viertel der Jugendlichen ohne Konfession.[22] Interessanterweise zeichnet sich in Österreich ein beinahe identischer Verlauf ab, obwohl dort der Sprung der Konfessionslosen bedingt durch die Wiedervereinigung nicht existiert. Hier ist der Anteil der Christen von 95,2% auf 66,1% geschrumpft.[23]
Dieses Ergebnis wirkt sich selbstverständlich auch auf die Jugend aus. Der gesellschaftliche Wandel ist klar erkennbar. Während damals konfessionslose Mitbürger noch fast etwas wie Exoten waren, so führen sie heute diese Statistik mit einem guten Drittel sogar an. Da es also viele Menschen gibt, die ohne Glauben leben, ist es für die heutigen Jugendlichen nichts Besonderes mehr und gehört zum Alltag. Fokussieren wir nun zuerst die Konfessionslosen. Ein konfessionsloser Jugendlicher kommt höchstwahrscheinlich nur sehr selten mit fundiertem religiösen Wissen oder Ritualen in Kontakt. Neben dem Ethikunterricht, jedoch bleiben zum einen etliche besondere Ereignisse (Rituale) in der Gemeinschaft (Taufe, Kommunion/Konfirmation, Messe etc.) vorenthalten und zum anderen fehlt ein Konzept, dass Fragen zum Sein nach dem Tod sowie zum Übermenschlichen beantwortet. Da sich Religion und Gottesvorstellungen in beinahe allen Kulturen und Gesellschaften und teilweise sogar unabhängig voneinander entwickelt haben, kann man davon ausgehen, dass jeder Mensch sich früher oder später im Leben einmal diese Fragen stellt.[24] Zudem setzen viele Soziologen den Begriff „Religion“ unter psychologischen Aspekten durchaus dem Begriff „Heimat“ gleich. So entwickelt sich laut Linus Hauser, aus der immensen Wahlmöglichkeit des individuellen Lebenslaufes und der Pluralität der Lebensformen eine Art „Heimatlosigkeit im Kosmos“.[25]
Daraus resultiert eine Sehnsucht nach Mystik, Magie und Helden, die in Abwesenheit von Religiosität anderweitig gestillt werden will.
2.2.3 Qualitative Entwicklung der Religiösen
Wie gerade schon erläutert, sank die Zahl der Christen in Deutschland extrem ab. Nun möchte ich überprüfen, wie gläubig die restlichen Christen noch sind.
In der Shell-Jugendstudie 2010 wurden Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren über ihre Grundhaltungen zu bestimmten Themen befragt. Unter anderem auch zum Thema Religiosität. So wurden sie 2010, wie schon zuvor 2002 und 2006 gefragt, ob Gott in ihrem Leben eine besonders wichtige Rolle spielt:
Bei den Katholiken fällt auf, dass ein gutes Drittel den Glauben im Leben als unwichtig einstufen. Diese Zahl ist im Vergleich zu 2002 sogar noch etwas angestiegen. Nur rund 44% schätzen den Glauben als wichtig ein, was noch einmal 6% weniger sind als 2002. Bei den Evangelischen ist dies sogar noch etwas extremer. Nur 39% geben an, den Glauben als wichtig zu empfinden. Jedoch ist dieser Wert im Vergleich zu 2002 um einen Prozentpunkt gestiegen. Am erstaunlichsten an dieser Tabelle ist jedoch, dass die Jugendlichen der anderen Religionen eine wesentlich intensivere Bindung zum Glauben haben. So schätzten 2010 rund 76% ihren Glauben als wichtig und nur 12% als unwichtig ein. Zudem gaben 51% den höchsten Skalenwert („außerordentlich wichtig“) an. Bei den Christen waren das hingegen jeweils nur 12%.[26]
Der Trend bei den jugendlichen Christen ist klar erkennbar und führt sie immer weiter weg vom traditionellen Glauben. Dies zeigt sich auch aus kirchensoziologischen Untersuchungen. So sinken die Besucherzahlen der Gottesdienste, kirchliche Rituale in der Familie werden weniger und der Abstand zu zentralen kirchlichen Aussagen nimmt zu.[27] Diese Enttraditionalisierung bedeutet jedoch nicht, dass Heranwachsende derzeit schlicht das Interesse an Religion an sich verlieren, sondern diese gegenwärtig eher in anderen Formen suchen und finden. So zählt Boschki als „Religiöse Phänomene der Gegenwart“[28] unter anderem auf, dass eine neue Suche nach Spiritualität erkennbar sei, die sich auch in einem Boom an spiritueller Ratgeber oder an der neuen Beliebtheit von Pilgerwegen zeigt. Weiter zählt er die esoterischen Strömungen auf, die sich in Unmengen an angebotenen Kursen oder Artikeln (z.B. bei Astro-TV) äußern.
2.2.4 Individualisierung und Pluralisierung der Lebensräume
Eine weitere Besonderheit unserer derzeitigen Gesellschaft und weitere Ursache des Bedeutungsverlusts von Religionen ist die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen. Laut Ulrich Beck, einem der Begründer dieser Theorie, führte die Modernisierung zu einer dreifachen „Individualisierung“: „Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (,,Freisetzungsdimension"), Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (,,Entzauberungsdimension") und - womit die Bedeutung des Begriffs gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird - eine neue Art der sozialen Einbindung (,,Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension").“[29] Die Pluralisierung, kommt vom Wort „Plural“ (= Mehrzahl), und meint zum einen, eine Zunahme an Möglichkeiten, seinen individuellen Lebensentwurf zu leben, der durch etliche Optionen verändert werden kann. Zum anderen entwickeln sich etliche Lebensbereiche, wie Bildung, Freizeit und Medien immer weiter, werden komplexer und können zu „Unübersichtlichkeits- und Ohnmachtserfahrungen“ bei Menschen führen.[30]
Dies alles führt dazu, dass jeder sein Leben selbst zusammensetzen und gestalten kann wie er möchte. Beruf, Wohnort oder Familienform – alles kann und muss entschieden und ausgewählt werden. Dennoch ist zu erwähnen, dass es keine absolute Wahlfreiheit bzw. Freiheit an sich gibt.[31] Alle Entscheidungen sind immer an andere Faktoren und Parameter, wie Wohnraum oder Arbeitsplätze gekoppelt. Diese Freiheit zu wählen, zeigt sich selbstverständlich auch in den Religionen. Diese wird nicht mehr einfach von den Eltern vererbt, sondern wird auch, je nach momentanem Lebensentwurf gesucht und gewählt. Oft nur phasenweise, was zu lockeren bis gar nicht existenten Beziehungen in Gemeinschaften führt.
2.3 Entwicklungspsychologische Perspektive
2.3.1 Entwicklungsaufgaben der Jugendlichen
Der amerikanische Wissenschaftler Robert J. Havighurst (1900-1991) geht aus entwicklungspsychologischer Sicht davon aus, dass in jeder Lebensphase, die man als Mensch durchlebt, unterschiedliche Aufgaben, Themen oder Herausforderungen anstehen. Die Auseinandersetzung und Lösung dieser sogenannten Entwicklungsaufgaben bringen dann Kompetenzen und Fähigkeiten mit sich, die für die nächsten Lebensphasen von Bedeutung sind.[32] Das deutsche Wissenschaftler-Ehepaar Dreher hat dieses Model auf deutsche, sowie zeitgemäße Anforderungen abgeändert.
Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
PEERS: einen Freundeskreis aufbauen
KÖRPER: Veränderungen des Körpers akzeptieren
ROLLE: sich mit der Rolle als Mann oder Frau auseinandersetzen
BEZIEHUNG: enge Beziehung zu einem Freund/Freundin aufbauen
ABLÖSUNG: anfangen, sich von den Eltern abzulösen
BERUF: sich über Ausbildung/Beruf Gedanken machen
PARTNERSCHAFT/FAMILIE: Vorstellungen entwickeln, wie man eigene Partnerschaft/Familie gestalten möchte
SELBST: sich selbst kennen lernen, Klarheit über sich gewinnen
WERTE: eigene Weltanschauung entwickeln
ZUKUNFT: Zukunftsperspektive entwickeln: Leben planen, Ziele ansteuern
Wie man in diesen Entwicklungsaufgaben sieht, dreht sich die Jugendphase stark um die Bildung erster (Lebens-)Ansätze, wie etwa eine eigene Weltanschauung, also persönlicher Vorstellungen und Sichtweisen auf das Leben, oder auch über sich selbst Klarheit zu gewinnen, also Stärken/Schwächen eingestehen und Ziele und Werte im Leben zu definieren. Konstrukte außerhalb von Religion, die diese Dinge thematisieren, gewinnen jetzt extrem an Bedeutung.
2.3.2 Psychosoziale Krisen der Adoleszenz
Ein weiteres interessantes Entwicklungsmodell stammt von Erik H. Erikson, einem deutsch-amerikanischem Psychoanalytiker. Erikson hat ebenfalls ein altersbezogenes Schema entwickelt. Hierin geht er davon aus, dass Krisensituationen spezifische Entwicklungsaufgaben enthalten und deren Lösungen, ähnliche wie im vorangegangenen Modell, einen Reifungsfortschritt ermöglichen:[33]
Identität durch Bewältigung von Lebenskrisen (Erikson)[34]
Relevant für diese Arbeit sind hauptsächlich die Lebensphasen der Adoleszenz, sowie teilweise die des frühen Erwachsenenalters. In der Adoleszenz-Phase hinterfragen die Jugendlichen sich selbst sowie ihre Identität. Eine Auseinandersetzung und Infragestellung der Bezugspersonen, sowie die Stellungen innerhalb von Gruppen prägen diese Zeit. Falls zu wenig Selbstvertrauen und positive Erfahrungen vorhanden sind, kann dies zu einer Identitätsdiffusion (lat.; das Auseinanderfließen, Zersplitterung des Selbstbildes) führen. Diese wiederum führt oftmals zu einer Suche nach Gruppen und Konzepten mit klaren Regeln, um sich dieser unterzuordnen.[35] Diese werden dann häufig in neuen Freundeskreisen, Sportvereinen oder Fanclubs gesucht.
2.3.3 Identitätsentwicklung
Zuerst wird geklärt, was Identität überhaupt ist, und wie sie sich entwickelt. Danach werde ich zeigen, dass auch Medien einen großen Anteil an der Identitätsentwicklung haben. Und als letzten Punkt werde ich die religiöse Identitätsentwicklung genauer betrachten.
2.3.3.1 Allgemeine Aspekte
Um zu verstehen, wie sich jugendliche Moral- und Religionsorientierung vollzieht, muss man, wie gerade schon angedeutet, die Identitätsentwicklung der Heranwachsenden berücksichtigen. Doch was ist Identität? Der deutsche Theologe Reinhold Boschki meint das Fragen wie: „Wer bin ich?“, „Was gehört zu mir?“, „Was ist mir wichtig?“, „Was kann ich?“, „Wo sind meine Stärken und Schwächen?“, „Wo gehöre ich dazu?“, als typische Fragen nach der eigenen Identität gewertet werden können.[36] Der Theologe und Erziehungs- und Sozialwissenschaftler Hans-Georg Ziebertz erklärt zudem, dass „(...) Identität auf einer Balance zwischen Selbstbild und Fremdbild beruht und, dass diese Balance permanent in und durch Interaktion hergestellt werden muss.“[37] Dies bedeutet also, dass soziale Kontakte und Beziehungen essenziell für die Prägung einer eigenen Identität sind. Jedoch wird genau dieser Prozess der Identitätsfindung in Gruppen, durch die Pluralisierung der Lebensformen (= eine Vervielfältigung der möglichen Lebensformen) immens erschwert. So gab es für vorangegangene Generationen eine relativ überschaubare Anzahl an Möglichkeiten, die Jugendzeit auszuleben und Menschen wurden mehr oder weniger in ihre Identitäten hineingeboren. Heute hingegen müssen Jugendliche aus einem gigantischen Angebot einzelne, passende Elemente aussuchen und diese so kombinieren, dass ein subjektiv sinnvoller Zusammenhang entsteht.[38] Da sich das Selbstbild verändert, müssen die zu Beginn gestellten Fragen (s.o) regelmäßig neu gestellt und beantwortet werden[39]. Daher folgert Boschki, dass Identität keine feststehende Größe ist, sondern ein „dynamischer und lebenslanger Prozess“(ebd).
[...]
[1] Vgl. http://www.the-numbers.com/movies/franchises/sort/World (Stand: 16.07.2014)
[2] Vgl. http://www.berliner-kurier.de/archiv/england-steht-schlange-fuer-harrypotter,8259702,8148598.html (16.07.2014).
[3] Vgl. Trujillo (2004), S. 5.
[4] gemäß § 1 Abs. 2 JGG. Abrufbar: http://dejure.org/gesetze/JGG/1.html (10.07.2014)
[5] gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII. Abrufbar: http://dejure.org/gesetze/SGB_VIII/7.html (10.07.2014)
[6] Shell Jugendstudie 2010, S. 11.
[7] Vgl. Münchmeier 2003, S. 57.
[8] Vgl. Hurrelmann 2004. S. 13.
[9] Vgl. Bibliog. Inst. 1971, S. 292.
[10] Vgl. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=5840 (11.07.14).
[11] Vgl. http://www.global-ethic-now.de/gen-deu/lexikon/daten/inhalt_00.php?show1=s&show2=604 (26.07.2014)
[12] http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138614/saekularisierung-und-die-rueckkehr-der-religion (13.07.2014).
[13] ebd.
[14] Vgl. Boschki 2008, S. 51 f.
[15] Dinter/Söderblom 2010, S. 9 f.
[16] Pollack 2003, S. 1.
[17] Pollak 2009, S. 27.
[18] Vgl. Boschki 2008, S. 53; Dinter/Söderblom 2010, S. 9.
[19] Vgl. Dinter/Söderblom 2010, S. 9.
[20] http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkerung_1970_2011.pdf (26.07.2014).
[21] ebd. und: http://www.dbk.de/zahlen-fakten/kirchliche-statistik/ (13.07.2014).
[22] Shell Jugendstudie 2010, S. 204.
[23] http://www.statistik.at/web_de/static/bevoelkerung_nach_dem_religionsbekenntnis_und_bundeslaendern_1951_bis_2001_022885.pdf und: http://www.katholisch.at/site/kirche/article/102078.html (26.07.2014).
[24] http://www.deutschlandfunk.de/warum-haben-alle-kulturen-eine-religion-entwickelt.1148.de.html?dram:article_id=180467 (27.07.2014).
[25] Hauser 2005, S. 7.
[26] Shell Jugendstudie 2010, S. 205.
[27] Vgl. Boschki 2008, S. 55.
[28] Vgl. Boschki 2008, S. 56.
[29] Beck 1986, S. 206 f.
[30] Vgl. Boschki 2008, S. 53 f.
[31] ebd. S. 54 f.
[32] Boeger, Annette (2014): Kindheit und Jugend / Einführung (Vorlesungsskript) - online: http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-10161/Einfuehrung_%20Jugendalter.pdf (19.07.14).
[33] Vgl. Hilger 2005, S. 125.
[34] Eriksson 1977, S. 72 .
[35] Stangl, Werner (2011): Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Erik Homburger Erikson. Abrufbar: http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/EntwicklungErikson.shtml (14.07.2014).
[36] Vgl. Boschki. 2008. S. 64 f.
[37] Ziebertz. 2005. S. 127.
[38] Vgl. Boschki, 2008. S. 65 f.
[39] Vgl. Keupp 2002. S. 23.