Django Reinhardts Erben - Aktuelle Tendenzen des Sinti-Swing
Zusammenfassung
Der Essay umfasst einen historischen Abriss zur Entstehung des Sintiswing und stellt dann vier Gitarristen und einen Geiger vor. Es ergibt sich ein lebendiges Bild der aktuellen Situation des Sintiwsing.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Das Geheimnis der Tradition
Die Geburtsstunde des Sinti-Swing
Ein Vermächtnis für die Nachwelt
Markus Reinhardt
Wawau Adler
Ein unverhofftes Talent
Gismo Graf
Irisch-ungarische Koproduktion
Wunderbare Haltung
Einleitung
Bei der Entstehung eines großen Stils, in der Karriere eines bedeutenden Musikers gibt es ihn fast immer: den Moment, an dem sich alles entscheidet. Dieser Moment ist in der Regel erst viel später als solcher erkennbar: Wenn die Zeiten des großen Erfolges da sind, oft auch erst im Rückblick. Was die Entstehung des sogenannten „Zigeunerjazz“ und die Karriere des Django Reinhardt betrifft, hat dieser Moment im Jahr 1934 stattgefunden, als Pierre Nourry und Charles Delaunay den Gitarristen Django Reinhardt und den Geiger Stéphane Grappelli miteinander bekannt machten. Django Reinhardt spielte bereits seit einiger Zeit in den Pariser Cafés und war den beiden Managern aufgefallen. Sie betrieben gemeinsam den „Hot Club de France“, einen im Paris der 30er Jahre äußerst angesagten Musikklub. Natürlich vertraten die beiden Männer handfest ihre eigenen Interessen, als sie die beiden hochtalentierten Musiker zusammen brachten. Sie hofften auf den „Kairos“, den besonderen Moment. Kurz gesagt – es sollte funken zwischen Reinhardt und Grappelli. Die Rechnung von Nourry und Delaunay ging auf, der Geiger und der Gitarrist fanden rasch eine musikalische Basis. Nach nur wenigen Jamsessions gründeten sie gemeinsam das „Quintette du Hot Club de France“ und taten genau das, was die Besitzer sich gewünscht hatten: Sie sorgten dafür, dass der Laden voll war.
Nebenbei schrieben Grapelli und Reinhardt auch noch Musikgeschichte. Bis in die 30er Jahre hinein war die Jazzproduktion in Europa von Amerika bestimmt gewesen. Dixie und der New Orleans-Stil beherrschten das Treiben in den meisten Bands, Blasinstrumente waren die führenden Stimmen. Mit der – abgesehen von Reinhardts Gitarre – ausschließlich mit Streichinstrumenten besetzten Gruppe hob sich das „Quintette du Hot Club“ nun deutlich vom Mainstream ab. Und auch das, was die Instrumentalisten da machten, war eine gänzlich andere Musik. Dies lag vor allen Dingen an Reinhardt, der dem traditionellen Jazz eine ganz andere Note verlieh. Er brachte die Musik der Sinti in den Jazz.
Das Geheimnis der Tradition
Die Geschichte der Sinti und Roma in Europa war lange nur die Geschichte der Zigeuner. Und es war eine Geschichte von Verfolgung und Unterdrückung, mit gelegentlicher Lockerung und Akzeptanz der scheinbar fremden Volksgruppen, die jedoch nie lange genug anhielt, um ein echtes bürgerliches Miteinander zu schaffen. Die einzige Ausnahme bildet hier Ungarn, das schon im ausgehenden Mittelalter ein anerkennendes Verhältnis mit den Sinti und Roma ihres Landes einging. Der Grund für diese zunehmend erstarkende Symbiose war die musikalische Begabung dieser aus Indien stammenden Bevölkerungsgruppe sowie die fehlende Nationalkultur der Ungarn, die schließlich im 19. Jahrhundert durch die verlorenen Türkenkriege ihre staatliche Selbständigkeit verloren.
Wie ein roter Faden zieht sich durch die ungarische Kulturgeschichte die Präsenz der Zigeunerkapellen, die zunächst zu zweit und zu dritt anzutreffen sind, als fahrendes Volk unterwegs. Aus dem sporadischen Spiel auf öffentlichen Plätzen wurde rasch eine feudale Kultur. Zigeunerkapellen sind im 16. Jahrhundert an vielen Höfen und in aristokratischen Kreisen anzutreffen. Als im Jahr 1599 der Woiwode Michail von der Walachei einen Festzug ausrichtet, wird von der außergewöhnlichen Pracht der zehn Zigeunerkapellen berichtet, die an dem Zug teilnehmen.
Das Geheimnis der Zigeunermusik liegt in einer ausschließlich auf mündlicher Überlieferung basierenden Musizierpraxis und einer ungebrochenen Traditionskette über viele Jahrhunderte hinweg. Wer jemals eine Sinti- oder Romakapelle gehört hat, wird sie so schnell nicht vergessen. Diese Musik zeichnet sich durch eine besondere Präsenz aus. Die Art und Weise, wie die Musiker aus einem einmal aufgenommenen Motiv sofort eine Variation, eine Ableitung und schließlich eine Improvisation bilden, ist für die Mitglieder einer Kultur, die in erster Linie auf Schriftlichkeit beruht, schier unbegreiflich. Dieses phänomenale „hörende Improvisieren“ ist eine Folge der über Jahrhunderte andauernden direkten Weitergabe von Melodien und Musizierformen. Keine störende Schriftlichkeit verhinderte die Ausbildung dieser besonderen Spielweise, die bis heute von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Die Geburtsstunde des Sinti-Swing
Django Reinhardt wurde auf einem Zigeunerplatz in der Nähe von Paris geboren. Er gehörte zu den „Manouches“, wie die in Frankreich lebenden Sinti genannt wurden. Im Gegensatz zu den Roma sind die Sinti seit 600 Jahren im westeuropäischen Raum ansässig. Ihre Kultur ist somit stark von der Landeskultur, in diesem Fall der französischen, geprägt. Dennoch gilt für alle Volksgruppen der Sinti und Roma ein strenger eigener Sittenkodex, zu dem zum Beispiel das Verbot der Weitergabe ihrer Sprache gehört. Die Gemeinschaft und insbesondere die Familie sind der wichtigste Faktor in ihrer Kultur. Somit ist Jean Django Reinhardt in jeder Hinsicht eine Ausnahme. Kaum jemand vor ihm und auch nach ihm hat je wieder der Geschichte des Jazz eine so deutliche Wendung gegeben. Bereits mit zwölf Jahren war Reinhardt als Kinderstar in der Pariser Musette-Szene bekannt. Die Musette, ein kleines Akkordeon, das in Frankreich sehr populär ist, bestimmt bis heute die Volksmusik Frankreichs. Hier begann die Karriere des Musikers, und hier begann er die lebendige französische Volksmusik mit der Tradition der Zigeuner zu verschmelzen. Als Reinhardt auf Grapelli traf, hatte er bereits einen ganz eigenen Stil entwickelt, der von seinen manisch schnellen Gitarrensoli, der rhythmischen Akzentuierung der Sintimusik und den Melodien der französischen Folklore geprägt war. Dazu kam sein Interesse für den amerikanischen Jazz. In der Verbindung mit Grapelli entwickelte sich nun eine ganz neue Form des Jazz, die zwar von den Standards aus New Orleans geprägt war, jedoch im Endergebnis ein wenig an die Musik der französischen Impressionisten erinnerte. Damit hatten die Besitzer des Hot Club etwas, was sonst niemand in Frankreich, ja in ganz Europa bisher besaß: Eine eigene, nationale Ausprägung des amerikanischen Jazz.
Ein Vermächtnis für die Nachwelt
Mit diesem Sinti-Swing, wie die Musik von Reinhardt/Grapelli später allgemein genannt wurde, machte das „Quintette du Hot Club de France“ in den 30er und 40er Jahren eine unglaubliche Karriere. Als der Krieg ausbrach, ging die Formation auseinander, Grapelli ließ sich in England nieder. Es ist einer der Winkelzüge der Geschichte, dass Django Reinhardt in Paris mehr oder weniger unbehelligt leben und Musik machen konnte, während Abertausende seines Volkes von Hitler in Auschwitz/Birkenau umgebracht wurden. In der Nachkriegszeit geriet der Sinti-Swing in Vergessenheit und nach Reinhardts frühem Tod im Jahr 1953 sollte es noch eine Weile dauern, bevor man sich seiner Hinterlassenschaft besann. Doch in den 60er Jahren begann eine Art Revival von Reinhardts Musik in Sintikreisen. Aufnahmen des legendären Musikers kursierten und in den traditionellen Musikergruppen begann man sich mit dem großen Erneuerer zu identifizieren.
Markus Reinhardt
Aus diesem Impuls ist auch das musikalische Credo des Markus Reinhardt entstanden: So ist er ganz in der musikalischen Tradition der Sinti aufgewachsen. Das Geigespiel lernte er von seinem Vater, mit sechs Jahren trat er erstmals in einer Formation mit der Familie auf. Als Großneffe des legendäre Django Reinhardt lag es nur nahe, dass der Junge sich auch für die Aufnahmen, die im Umfeld des „Hot Club du France“ entstanden waren, interessierte. Mit 17 Jahren gründete er seine erste eigene Band, aus der später die Gruppe hervorgehen sollte, mit der er inzwischen regelmäßig auftritt. Django Reinhardt war seinem Großneffen aber mehr als nur musikalisches Vorbild. Markus Reinhardt zielt zudem darauf, ganz wie sein Großonkel, neue, aktuelle Einflüsse in den Sinti-Swing mit aufzunehmen. Dass er sich dabei auch von dem Stil des französischen Jazzgitarristen entfernen muss, ist selbstverständlich. Es liegt Markus Reinhardt und seinen Musikern fern, einen Stil zu kopieren und sei er noch so anziehend. So nimmt die Formation auch wieder auf die osteuropäische Musik der Roma Bezug und schließt auf diese Weise die verschiedenen Stränge der Tradition zusammen. Hier fließen nun die temperamentvollen Melodien der ungarischen Roma, die galanten und virtuosen Klänge der französischen Sinti und die Musik, die aktuell das Leben von Markus Reinhardt bestimmt, zusammen. Damit wagt Reinhardt etwas ganz Neues und gibt gleichzeitig die einzige Antwort, mit der man auf das Lebenswerk eines berühmten Verwandten reagieren kann: Anstatt es zu kopieren, erneuert und belebt der junge Geiger Django Reinhardts Vermächtnis und sorgt auf diese Weise dafür, dass es nicht vergessen wird.
[...]