Imitation without original. Die Gender-Theorie nach Judith Butler
Zusammenfassung
Die amerikanische Adorno-Preisträgerin und Feministin Judith Butler hat Philosophie an der Yale Universität und an der Universität Heidelberg studiert und gilt als „Philosophin der Gender“. In ihren verschiedenen Werken näherte sie sich dem Begriff Gender und was dieser überhaupt bedeutet. Dabei spricht sie auch immer wieder von einem Rahmen, der durch Normen gebildet wird. In ihren Arbeiten wird wiederholt deutlich, dass man bestimmte Normen zwar brechen, sich nach anderen jedoch auch wieder richten muss:
"Infolgedessen ist das „Ich“, das ich bin, zugleich durch die Normen geschaffen und von den Normen abhängig, es ist aber auch bemüht, so zu leben, dass es ein kritisches und veränderndes Verhältnis zu ihnen unterhalten kann. "
Das Individuum muss demnach versuchen in eben jenem Verhältnis zu den Normen zu stehen. Es handelt sich hierbei um
"[d]ie Normen, die eine idealisierte menschliche Anatomie regieren [und] einen selektiven Sinn dafür [produzieren], wer menschlich ist und wer nicht, welches Leben lebenswert ist und welches nicht".
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Der Tanz mit den Normen
2. Ist Geschlecht gleich Gender?
2.1. Doing Gender: Über die Performativität von Geschlechtsidentität
3. Breaking the ideal
3.1. Das Messer der Norm – Der Fall Brenda/David
3.2. Junge, Mädchen oder keins von beidem? Die Gesetzesänderung
4. Das Leben lebenswerter machen
5. Quellen
1. Der Tanz mit den Normen
Eine Einleitung
Die amerikanische Adorno-Preisträgerin und Feministin Judith Butler hat Philosophie an der Yale Universität und an der Universität Heidelberg studiert[1] und gilt als „Philosophin der Gender“[2]. In ihren verschiedenen Werken näherte sie sich dem Begriff Gender und was dieser überhaupt bedeutet. Dabei spricht sie auch immer wieder von einem Rahmen, der durch Normen gebildet wird. In ihren Arbeiten wird wiederholt deutlich, dass man bestimmte Normen zwar brechen, sich nach anderen jedoch auch wieder richten muss:
Infolgedessen ist das „Ich“, das ich bin, zugleich durch die Normen geschaffen und von den Normen abhängig, es ist aber auch bemüht, so zu leben, dass es ein kritisches und veränderndes Verhältnis zu ihnen unterhalten kann.[3]
Das Individuum muss demnach versuchen in eben jenem Verhältnis zu den Normen zu stehen. Es handelt sich hierbei um [d]ie Normen, die eine idealisierte menschliche Anatomie regieren [und] einen selektiven Sinn dafür [produzieren], wer menschlich ist und wer nicht, welches Leben lebenswert ist und welches nicht.[4]
Dadurch, dass es sich nach bestimmten Normen richtet, andere hingegen umgeht, kann das Individuum sein „Leben lebenswerter machen“[5]. Wieso sollte ein Leben jedoch nicht lebenswert sein? Hier geht es vor allem in der Feminismus-Debatte häufig um die Frage nach der Anerkennung der Gesellschaft. Anerkennung in Form von Akzeptanz als ein Individuum, welches vielleicht nicht in die oben beschriebenen Normen und somit in die typischen Geschlechterkategorien „männlich/weiblich“ hineinpasst. Hierzu zählen Trans- und Intersexuelle genauso sehr wie Schwule und Lesben. Oftmals werden diese von der Gesellschaft abgelehnt, da sie nicht in stereotype Kategorien von Geschlecht einzuordnen sind, wodurch der Wert ihres Lebens gegenüber dessen anderer gemindert wird. Butler zeigt daher, dass es nicht nur schwarz und weiß gibt und man nicht immer zwangsläufig Mann oder Frau sein muss, denn
[a]ls intentional organisierte Materialität ist der Körper immer eine Verkörperung von Möglichkeiten, die durch historische Konventionen sowohl konditioniert wie beschnitten sind.[6]
Der Mensch sollte sich demnach aussuchen dürfen, welche Möglichkeit er für sich wählt. Was möchte ich verkörpern? Was möchte ich sein? Kann ich diese Entscheidung überhaupt selbst treffen oder handelt es sich hierbei nur um eine Nachahmung dessen, was mir vorgelebt wird? Hierzu muss nun zunächst geklärt werden, was Butler überhaupt unter Geschlecht und auch unter Gender versteht und wie dies zustande kommt, um dann im Anschluss auf Butlers Forderung nach einer veränderten Politik einzugehen, in der jedes Individuum als solches wahrgenommen wird und die nötige Anerkennung erhält.
2. Ist Geschlecht gleich Gender?
Zur Unterscheidung von Anatomie und Identität
In vielen Schriften und Theorien werden die Begriffe Geschlecht und Gender verwendet, doch muss geklärt werden, was darunter zu verstehen ist und ob es einen prägnanten Unterschied zwischen den Begrifflichkeiten gibt. Hierzu werfen wir einen Blick in Butlers Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“ („Gender Trouble“), um uns schrittweise dem Thema zu nähern. Butler beginnt im zweiten Kapitel damit, dass bei Geschlecht und Gender erst einmal grob „zwischen anatomischem „Geschlecht“ (sex) und Geschlechtsidentität (gender)“[7] unterschieden wird. Dabei
[…] soll diese Unterscheidung das Argument stützen, daß die Geschlechtsidentität eine kulturelle Konstruktion ist, unabhängig davon, welche biologische Bestimmung dem Geschlecht weiterhin hartnäckig anhaften mag.[8]
Hier kann auch auf Simone de Beauvoir verwiesen werden, welche diese Unterscheidung unterstreicht: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“[9] Beauvoir „[…] betont […] ganz offensichtlich den Unterschied zwischen Geschlecht als biologischer Faktizität und Geschlechterzugehörigkeit als der kulturellen Interpretation oder Bedeutung dieser Faktizität.“[10] Es bedeutet demnach, dass der Körper, das anatomische Geschlecht, wie bereits in der Einleitung erwähnt, eine Verkörperung von Möglichkeiten ist. Dass also „Geschlechtsidentität als vielfältige Interpretation des Geschlechts“[11] und somit als Möglichkeit verschiedener Interpretationen im Sinne von Gender zu verstehen ist. Wenn wir nun im weiteren Verlauf dieser Arbeit von Geschlecht sprechen, so ist stets das anatomische Geschlecht und bei Gender stets die Geschlechtsidentität gemeint. Gehen wir nun noch einen Schritt weiter:
Wenn der Begriff „Geschlechtsidentität“ die kulturellen Bedeutungen bezeichnet, die der sexuell bestimmte Körper (sexed body) annimmt, dann kann man von keiner Geschlechtsidentität behaupten, daß sie aus dem biologischen Geschlecht folgt.[12]
Dies bedeutet also, dass das anatomische Geschlecht männlich/weiblich nicht zwangsläufig dazu führt, dass man als Mann/Frau in der Gesellschaft lebt. Gender kann unabhängig vom Geschlecht wahrgenommen werden und
[w]enn wir […] den kulturell bedingten Status der Geschlechtsidentität als radikal unabhängig vom anatomischen Geschlecht denken, wird die Geschlechtsidentität zu einem freischwebenden Artefakt.[13]
Betrachtet man nun dieses „freischwebende Artefakt“, so stellt man fest, dass sich für die Begriffe männlich/weiblich und Mann/Frau verschiedene „Kombinationsmöglichkeiten“ ergeben, denn
[d]ie Begriffe Mann und männlich können dann ebenso einfach einen männlichen und einen weiblichen Körper bezeichnen wie umgekehrt die Kategorien Frau und weiblich.“[14]
Die stereotypen Geschlechterkategorien können demnach aufgebrochen werden, um neuen Möglichkeiten an Wert zu verleihen. Wenn man nun überlegt, ob das Geschlecht womöglich ebenso „kulturell hervorgebracht“[15] ist wie die Geschlechtsidentität, so könnte es sein, dass
[…] das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen [ist], so daß sich herausstellt, daß die Unterscheidung zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität letztlich gar keine Unterscheidung ist.“[16]
Und wenn nun diese klassische Kategorisierung „Mann/Frau“ überflüssig wird, weil „Geschlecht (sex) definitionsmäßig immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen ist“[17], so steht die Frage nach der Bildung dieses Geschlechts, eben dieser Geschlechtsidentität, nun im nächsten Abschnitt im Vordergrund.
2.1. Doing Gender: Über die Performativität von Geschlechtsidentität
Was die Bildung von Gender betrifft, so geht Butler davon aus, dass es sich um eine Konstruktion handelt. Man konstruiert seine eigene Geschlechtsidentität ganz individuell, denn „die Geschlechterzugehörigkeit [ist] keine Tatsache“[18].
Man ist nicht einfach ein Körper, sondern man macht seinen Körper in einem ganz zentralen Sinn, ja man macht ihn anders als seine Zeitgenossen und auch anders als seine verkörperlichten Vorgänger und Nachfolger.[19]
Jedes Individuum kann also „sein“ Gender selbst „machen“. Dies geschieht vor allem durch Diskurse, sprich Sprechakte, und Performation: „Anders gesagt ähneln die Akte, durch die die Geschlechterzugehörigkeit konstituiert wird, performativen Akten in theatralischen Kontexten.“[20] Dadurch, dass man sich auf eine bestimmte Art und Weise verhält wird dies zur eigenen Geschlechtsidentität. Ähnlich hält es sich mit der Performativität von Aussagen, von Sprechakten. Ich kann ein Individuum allein durch meine Sprache kategorisieren:
Am Beispiel der Äußerung einer Hebamme oder der Eltern, die beim Anblick eines Säuglings feststellen: „Es ist ein Mädchen!“, wird verständlich, dass es dabei nicht um eine Beschreibung oder die bloße Feststellung eines Sachverhaltes geht, sondern zugleich um eine Anweisung, ein weibliches Geschlecht zu sein; darin besteht die Performativität der Aussage.[21]
Laut Butler zeichnet dieser Sprechakt den Körper mit einem Sachverhalt, woraufhin Performationen folgen, mit denen dies verkörpert wird. Genau dort ist der Ursprung der Debatte: Es muss bereits von Anfang an jedem Individuum die Möglichkeit gegeben werden, eine eigene, nicht vorgeschriebene Geschlechtsidentität zu konstituieren. Und oft ist gerade diese konstituierte Geschlechtsidentität die Ursache für Ablehnung in der Gesellschaft. Dann ist es die Aufgabe jeder einzelnen abgelehnten Person eine Art und Weise zu finden, mit dieser Ablehnung umzugehen:
Wenn ich jemand bin, der nicht „sein“ kann ohne ein „Tun“, dann sind die Bedingungen meines Tuns zum Teil die Bedingungen meiner Existenz. Wenn mein Tun davon abhängt, wie mit mir umgegangen wird, oder vielmehr, wie ich von den Normen behandelt werde, dann ist die Möglichkeit meines Weiterbestehens als ein „Ich“ davon abhängig, dass ich in der Lage bin, damit, wie mit mir umgegangen wird, etwas anzufangen.[22]
Oftmals gehen Theorien davon aus, dass Gender durch Nachahmung vorgelebter Verhaltensmuster gebildet wird. Doch Butler fasste während einer Rede recht passend zusammen: „Gender is a kind of imitation for which there is no original, what they imitate is a phantasmic ideal of heterosexual identity […]“[23]. Das bedeutet, dass es kein Original gibt, keine perfekte Vorlage dessen, was nachgeahmt, bzw. imitiert werden kann. Oftmals ist das Problem eben jenes, dass die Normen und somit auch der Gros der Gesellschaft das Bild einer heterosexuellen Identität heraufbeschworen, welches es nachzuahmen gilt. Doch genau dies ist laut Butler nichts mehr als ein trügerisches Ideal. Wie ist es nun möglich diesem Ideal die Kraft und den Wert zu nehmen? Dies muss auf einer politischen Ebene geschehen, weshalb Butler eine veränderte Politik fordert, was im Folgenden näher betrachtet wird.
3. Breaking the ideal
Die Forderung nach einer veränderten Politik
Wenn Butler von einer veränderten (feministischen) Politik spricht, so ist sie der Meinung, dass eine Politik benötigt wird, welche die bereits beschriebene „veränderliche Konstruktion von Identität als methodische und normative Voraussetzungen begreift, wenn nicht gar als politisches Ziel anstrebt.“[24] Dies wird zwar in mehreren theoretischen Schriften, wie auch in denen von Butler, behandelt und diskutiert, jedoch reicht die Theorie alleine oftmals nicht aus. Benötigt werden „Einmischungen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene, zu denen Aktionen, ausdauernde Bemühungen und institutionalisierte Praxis gehören.“[25] Diese Einmischungen sind jedoch nicht ohne eine theoretische Fundierung möglich, jedoch wesentlich wichtiger als diese.[26] Und wenn beschriebene Einmischungen ihren Weg finden, wird erkannt werden, dass Politik nicht nur eine Sache von wenigen Auserwählten ist, sondern im Volk passiert:
[...]
[1] Munzinger: Judith Butler, https://www.munzinger.de/search/portrait/Judith+Butler/0/27841.html (aufgerufen am 07.09.14)
[2] Siehe gleichnamige Dokumentation: „Judith Butler. Philosophin der Gender“, Frankreich 2006, arte (Ausstrahlung vom 24.09.2013)
[3] Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen (2. Aufl.), Frankfurt am Main 2012, S. 12
[4] Ebd. S. 14
[5] Ebd. S. 9
[6] Butler, Judith: Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie, in: Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz, Frankfurt am Main 2002, S. 305
[7] Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 22
[8] Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 22
[9] de Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek 1968, S. 65
[10] Butler, Judith: Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 305
[11] Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 22
[12] Ebd.
[13] Ebd. S. 23
[14] Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 23
[15] Ebd. S. 24
[16] Ebd.
[17] Ebd. S. 26
[18] Butler, Judith: Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 306
[19] Ebd. S. 304
[20] Butler, Judith: Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 304
[21] Bublitz, Hannelore: Judith Butler zur Einführung, Hamburg 2002, S. 26
[22] Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 12
[23] Goodreads: Judith Butler Quotes, http://www.goodreads.com/quotes/169022-gender-is-a-kind-of-imitation-for-which-there-is (aufgerufen am 26.08.14)
[24] Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 21
[25] Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 325
[26] Ebd.
[27] Butler, Judith: Bodies in Alliance and the Politics of the Street, (November 2011), http://suebellyank.com/wp-content/uploads/2011/11/ola-reader-full.pdf (aufgerufen am 05.09.14)
[28] Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 90-91
[29] Laut dem Verein „Intersexuelle Menschen e.V.“ beschreibt Intersexualität „Menschen, deren äußeres geschlechtliches Erscheinungsbild von Geburt an, hinsichtlich der Chromosomen, der Keimdrüsen und der Hormonproduktion nicht nur männlich oder nur weiblich erscheinen, sondern scheinbar eine Mischung aus beidem darstellt.“ [Intersexuelle Menschen e.V.: Intersexualität, http://www.intersexuelle-menschen.net/intersexualitaet/ (aufgerufen am 07.09.14)]
[30] Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 91
[31] Ebd.
[32] Ebd. S. 92
[33] Zeitonline: Gesetzesänderung für Intersexuelle. Junge, Mädchen oder keins von beidem (01.11.13), http://www.zeit.de/wissen/2013-10/intersexualitaet-geschlechtsangabe-personenstandsgesetz-aenderung ( aufgerufen am 08.09.14), S. 1
[34] Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 99
[35] Auch bekannt als der Fall von John/Joan
[36] Siehe auch: Colapinto, John: Der Junge, der als Mädchen aufwuchs, München 2002
[37] Geboren als Bruce Reimer
[38] Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 100
[39] Hierbei handelt es sich um eine Entfernung der Hoden
[40] Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 101
[41] Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 101
[42] Ebd.