Arbeit nimmt in unserem Leben unweigerlich einen sehr großen Raum ein. Die kaum zu umgehende Notwendigkeit des Geldverdienens zwingt früher oder später die Mehrheit der Menschen dazu, irgendeiner Art von Arbeit nachgehen zu müssen. Die Frage, wie und womit wir unseren Lebensunterhalt bestreiten, ist deshalb für die meisten von uns von zentraler Bedeutung. Mindestens ebenso wichtig ist jedoch eine Reflexion über den Stellenwert der Arbeit an sich und ihren Einfluss auf unser Selbst- und Weltverständnis. Hierbei gilt es unter anderem folgende Punkte zu berücksichtigen: Wenn wir uns zunehmend über unsere Arbeit definieren, was sagt dies dann über unser Menschenbild aus? Welche Annahmen über den Sinn und das Wesen der Arbeit liegen ihrer identitätsstiftenden Rolle zugrunde? Welche Folgen hat es, wenn diese Annahmen als unabänderliche Grundvoraussetzungen unseres Alltags in einer arbeitsteiligen Gesellschaft angesehen werden? Inwiefern bestimmt unsere Vorstellung von dem, was der Mensch sei, die Gestaltung der modernen Arbeitswelt und wie wirken sich ihrerseits veränderte Arbeitsbedingungen auf ebendiese Vorstellung aus?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Arbeit als gesellschaftliche Konstruktion
3. Der Arbeitsbegriff im historischen Wandel
4. Moderne Arbeitsobsession
5. Der Arbeitsbegriff als erkenntnistheoretisches Problem
6. Die „Humanisierung“ der Arbeit
7. Arbeit als Grundbedürfnis
8. Die Problematik anthropologischer Aussagen
9. Pädagogische Konsequenzen
10. Fazit
11. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Arbeit nimmt in unserem Leben unweigerlich einen sehr großen Raum ein. Die kaum zu umgehende Notwendigkeit des Geldverdienens zwingt früher oder später die Mehrheit der Menschen dazu, irgendeiner Art von Arbeit nachgehen zu müssen. Die Frage, wie und womit wir unseren Lebensunterhalt bestreiten, ist deshalb für die meisten von uns von zentraler Bedeutung. Mindestens ebenso wichtig ist jedoch eine Reflexion über den Stellenwert der Arbeit an sich und ihren Einfluss auf unser Selbst- und Weltverständnis. Hierbei gilt es unter anderem folgende Punkte zu berücksichtigen: Wenn wir uns zunehmend über unsere Arbeit definieren, was sagt dies dann über unser Menschenbild aus? Welche Annahmen über den Sinn und das Wesen der Arbeit liegen ihrer identitätsstiftenden Rolle zugrunde? Welche Folgen hat es, wenn diese Annahmen als unabänderliche Grundvoraussetzungen unseres Alltags in einer arbeitsteiligen Gesellschaft angesehen werden? Inwiefern bestimmt unsere Vorstellung von dem, was der Mensch sei, die Gestaltung der modernen Arbeitswelt und wie wirken sich ihrerseits veränderte Arbeitsbedingungen auf ebendiese Vorstellung aus?
Diese und weitere kritische Fragen zur anthropologischen Dimension der Arbeit stehen im Fokus meiner Hausarbeit und sollen im Folgenden anhand der zwei Texte „Geste und Ritual der Arbeit“ von Christoph Wulf sowie „Anthropologie der Arbeit im Postfordismus“ von Ramón Reichert eingehender erörtert werden. Beide Texte befassen sich mit der historischen Entwicklung der Bedeutung von Arbeit für den Menschen und nutzen diesen Vergleich zur Illustration der Problematik unhinterfragter anthropologischer Grundannahmen über die universelle Natur des Menschen. Aufgrund der unterschiedlichen methodischen und historischen Schwerpunkte der Autoren ergibt sich ein differenziertes Bild von der Wechselwirkung zwischen unserem Verständnis von Arbeit und der Wertbestimmung des Menschen in der Gesellschaft. Um der Diskussion über das unser Leben so weitreichend bestimmende Konzept der Arbeit ergänzende Perspektiven hinzuzufügen, werde ich außerdem einen kurzen Blick auf theoretische Ansätze innerhalb der sozialpolitisch reflexiven Pädagogik werfen und dabei die Implikationen arbeitsbezogener Definitionen des Menschseins auf Bildung und Erziehung näher beleuchten.
2. Arbeit als gesellschaftliche Konstruktion
In seinem „Geste und Ritual der Arbeit“ betitelten Beitrag zur historisch-pädagogischen Anthropologie entlarvt der Professor für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft Christoph Wulf Arbeit als „eine gesell-schaftliche Konstruktion“ (Wulf 2001, S. 109), die sich auf keinen zu allen Zeiten und in allen Kulturen gleichermaßen gültigen Arbeitsbegriff zurückführen lässt (vgl. ebd.). Die historische und kulturelle Bedingtheit unseres Verständnisses menschlicher Erwerbstätigkeit verdeutlicht Wulf, indem er Arbeit als „Geste und Ritual“ (ebd.) betrachtet:
„Das Verständnis von Arbeit als Geste verweist darauf, dass unser Verhältnis zur Arbeit und damit zur Welt und zu anderen Menschen von früher Kindheit an habitualisiert und enkorporiert wird […] In der Ritualisierung der Arbeit kommt auch ihr Charakter als eine kulturelle ‚Aufführung‘ und Inszenierung, mit nachhaltigen Wirkungen zum Ausdruck“ (ebd., S. 109f).
Unter Gesten versteht Wulf hier „signifikante Bewegungen des Körpers […] denen Intentionen zugrunde liegen, ohne dass sich deren Darstellungs- und Ausdrucks-formen vollständig aus ihnen erklären ließen“ (ebd., S. 110). Als solche sind sie „vom Körper und von spezifischen sozialen Situationen ablösbar; dadurch […] gestaltbar und lernbar“ (ebd.) sowie „geschlechts- und klassenspezifisch“ (ebd., S. 111) und demnach nicht universell oder naturgegeben. Wulf weist ihnen „im Prozess menschlicher Selbstdomestikation eine wichtige Funktion“ (ebd.) zu und zeigt am Beispiel ihrer Institutionalisierung, wie sehr sie unseren Alltag durchdringen und sogar Machtverhältnisse beeinflussen:
„Über die Einübung institutionsspezifischer Gesten setzen Institutionen ihre Machtansprüche durch. Auch Arbeit lässt sich als eine gesellschaftliche Institution begreifen, deren Ansprüche über vielfältige Mechanismen durchgesetzt werden. Zu den nachhaltigen Strategien der Durchsetzung von Arbeit als dominierender Lebensform gehört die Institutionalisierung der Geste des Machens und der Arbeit im menschlichen Körper“ (ebd.).
Doch wie oben bereits erwähnt wird nicht nur durch die Verwendung von Gesten, sondern auch mit „Hilfe von Ritualen, die sich als symbolisch kodierte Körper-prozesse begreifen lassen, […] die soziale Realität der Arbeit erzeugt und interpretiert, erhalten und verändert“ (ebd., S. 112). Gerade in „den Ritualen der Arbeit findet eine Selbstinszenierung der Gesellschaft, der Kultur und des Einzelnen statt, in deren Verlauf auch die erforderlichen Fähigkeiten erworben, bestätigt und in praktisches Wissen transformiert werden“ (ebd.). Dadurch wird klar, dass die Rolle und Bedeutung von Arbeit in unserem Leben nichts von vornherein Gegebenes oder Unabänderliches ist, sondern vielmehr etwas Erworbenes, Konstruiertes, und deshalb kritisch hinterfragt werden muss. Dies gilt heute mehr denn je, sind doch die Gesten der Arbeit „gegenwärtig in eine Krise geraten“ (ebd.), ausgerechnet in einer Gesellschaft, die sich „weitgehend als Arbeitsgesellschaft“ (ebd., S. 104) begreift. In einer solchen dient Arbeit nicht allein der Existenzsicherung, sondern ist zu „dem bestimmenden Merkmal des Lebens“ (ebd.) schlechthin geworden, das „dem Individuum zu Sinn und Identität“ (ebd., S. 106) verhilft. Folglich basieren „große Teile des individuellen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses“ (ebd., S. 104) auf der ausgeübten Arbeit. Dabei ist die Sinnzuschreibung und Identitätsfindung über Arbeit keineswegs eine individuelle Angelegenheit, sondern gesellschaftlich erlernt und an bestimmte, vorgegebene Werte gebunden:
„Für den Einzelnen bildet sich der Sinn seiner Arbeit im Verlauf seines Lebens. Der Prozess der Sinnstiftung über Arbeit beginnt in der Familie, wird in der Schule fortgesetzt und steigert sich in der Arbeitswelt. Die mit Arbeit verbundenen Normen und Werte strukturieren und gestalten das Leben. Zu ihnen gehören Motivation und Engagement, Rationalität und Präzision, Gewissenhaftigkeit und Pflichterfüllung, Kreativität und Innovationsbereitschaft. Schon in der Kindheit wird die Übernahme diese Werte angestrebt. Später werden sie kontinuierlich angebahnt und eingeübt. Die Arbeitswelt wird schließlich die gesellschaftliche Institution zur Einschreibung dieser Werte in die Körper der Arbeitenden“ (ebd., S. 105f).
Problematisch ist eine derart enge Verknüpfung von Lebenssinn und Arbeit vor allem dann, wenn „der Gesellschaft die Arbeit aus[geht] oder sie nicht mehr bezahlbar [ist]“ (ebd., S. 106). Leicht kommt es in so einem Fall „zu individuellen und gesellschaftlichen Sinnkrisen“ (ebd., S. 104). Wo Arbeit in hohem Maße „ein Gefühl persönlicher und sozialer Sicherheit gibt“ (ebd., S. 109) und „soziale Anerkennung, Selbstachtung und Selbstverwirklichung vermittelt“ (ebd.), wird Arbeitslosigkeit schnell zu einem „Gewaltakt“ (ebd., S. 104) oder gar zum „Grundskandal unserer Gesellschaft“ (ebd.). Diese Problematik hat derzeit eine hohe Brisanz, da „die Gesamtentwicklung in Richtung Reduzierung der Arbeit [geht] infolge von Rationalisierung und Effizienzsteigerung“ (ebd., S. 106). Auch ist aktuell „ein Großteil der Bevölkerung vom wirtschaftlichen Wachstum ausgeschlossen, es entsteht eine Zweiklassengesellschaft, deren soziale und politische Folgen noch nicht absehbar sind“ (ebd., S. 105).
3. Der Arbeitsbegriff im historischen Wandel
Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass Arbeit zur „zentralen Strategie menschlicher Selbstverwirklichung“ (Wulf 2001, S. 103) geworden ist? Unser heutiges Verständnis von Arbeit ist ohne seine historischen Wurzeln nicht denkbar, weshalb Christoph Wulf in seinem Text den „konstruktiven Charakter“ (ebd.) des Arbeitsbegriffs am Beispiel von dessen „historische[r] Wandelbarkeit“ (ebd., S. 109) darzulegen versucht. Dabei beschränkt er sich auf den europäischen Kulturkreis. Anhand des Prometheus-Mythos illustriert er, dass Arbeit in der griechischen Antike im Gegensatz zu heute als Strafe (vgl. ebd., S. 113) und als eine menschenunwürdige Tätigkeit gesehen wurde (vgl. ebd., S. 114). Diese Sicht von Arbeit als Bestrafung für menschlichen Ungehorsam gegenüber göttlichen Geboten findet sich in wesentlichen Zügen auch im Christentum (vgl. ebd., S. 115), erfährt dort jedoch eine Aufwertung, indem der Broterwerb zugleich als unumgängliche „Pflicht gegenüber Gott und den anderen Menschen“ (ebd.) eingefordert wird. Dessen Wert wird danach bemessen, wie stark er an spirituellen anstelle von weltlichen Zielen ausgerichtet ist (vgl. ebd., S. 116). Dies ändert sich schlagartig mit Martin Luther. Da dessen Auffassung nach „Seligkeit allein durch Gottes Gnade geschenkt [wird]“ (ebd.), kann Arbeit „sich ganz vom Nutzen für die Ordnung der Welt bestimmen lassen“ (ebd.), denn „der Maßstab ihres ethischen Werts liegt im Nutzen für den anderen Menschen“ (ebd.). Eine Überspitzung dieser Position treffen wir später bei Calvin, für den Arbeit ein „Mittel der Selbstzucht und der Askese“ (ebd., S. 117) sowie ein „Zeichen für Erwähltsein“ (ebd.) darstellt, besonders „wenn die Arbeit durch Erfolg gekrönt ist“ (ebd.). Das Individuum hat sich bei Calvin mitsamt seinen Fähigkeiten, Anlagen und Talenten ganz in den Dienst der produktiven Arbeit zu stellen: „Körper, Sinne und Gefühle sollen den Erfordernissen der Arbeit so untergeordnet werden, dass sie zur Vervollkommnung der Arbeit dienen“ (ebd.). Hier nimmt auch die Rationalisierung der Arbeit ihren ideologischen Ausgang. Allerdings wird diese nicht zum Wohle des arbeitenden Menschen eingesetzt:
„Die Rationalisierung der Arbeit führt nicht zur Erleichterung der Mühsal und Anstrengung, sondern zur Verbesserung der Arbeits-ergebnisse. Aufgrund dieser göttlichen Sinngebung kann es auch keine Befriedigung durch ihre Ergebnisse geben. Arbeit ist eine dauerhafte, nie endende Aufgabe“ (ebd.).
4. Moderne Arbeitsobsession
Anhand dieser historischen Analyse lässt sich dann auch „die Arbeitsobsession der Moderne“ (Wulf 2001, S. 118) besser verstehen:
„Am Beispiel der religiösen Wurzeln der Arbeit wurde ihr überdeterminierter Charakter sichtbar. Arbeit ist immer auch Selbstdarstellung, sei es, dass ihre Rituale Gott oder andere Menschen zum Bezugspunkt haben. Die Selbstdarstellung des heutigen Menschen vollzieht sich wesentlich über die Inszenierung von Ritualen der Arbeit“ (ebd., S. 119).
Schließlich hat in der Moderne „die Geste des Arbeitens eine starke Ausweitung“ (ebd., S. 118) erfahren und „wird zur bestimmenden Bewegung des Menschen zur Welt und zu sich selbst; sie wird zum Mittel der Disziplinierung und zum Ausdruck von Selbstdisziplin und Askese“ (ebd., S. 119). Ein derart verstandener Arbeitsbegriff entwickelt sich mehr und mehr zu einer Belastung für den Menschen:
„In Fortschreibung der Calvinistischen Dynamik kommt es zu einer gewaltigen Intensivierung und Ausweitung der Arbeit, als sei Arbeit der einzige Sinngarant menschlichen Lebens. Die Intensivierung der Arbeit mündet häufig in Überarbeitung […] Arbeit wird statt zu einer Anforderung zu einer Überforderung. Damit einher geht die Ausdehnung der Arbeitsgeste auf alle Bereiche menschlichen Lebens, sodass von politischer Arbeit, Kulturarbeit, Bildungsarbeit, ja sogar Beziehungsarbeit die Rede ist. Mit der Ausdehnung der Arbeit auf alle Bereiche des Lebens findet eine gewaltige Zurichtung und Disziplinierung statt. Menschliches Leben wird in bisher unvorstellbarer Weise arbeitsförmig“ (ebd., S. 120).
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