Der "gute" Sozialarbeiter. Die Berücksichtigung einer geschlechtsspezifischen Moral
Zusammenfassung
„Gerechtigkeit ist mehr die männliche, Menschenliebe mehr die weibliche Tugend.“ (Schopenhauer).
Die Thematik, die in diesen Fragestellungen steckt, ist seit langem in der Entwicklungspsychologie kontrovers diskutiert. Ausgehend von dieser Ausgangsfrage werde ich in der vorliegenden Arbeit das Handeln des guten Sozialarbeiters oder der guten Sozialarbeiterin unter Berücksichtigung der weiblichen Fürsorgemoral nach Carol Gilligan beleuchten. Zudem werde ich kontroverse Ansichten darstellen sowie ein Fallbeispiel aus meiner Praxis zum Zweck des Bezuges auf die Soziale Arbeit heranziehen.
Der Berufsalltag eines Sozialarbeiters liefert ständig konfliktreiche Situationen, die es zu bewältigen gilt. Notwendiger Teil hierbei ist das ethische Bewusstsein, das immer dann eine Rolle spielt, wenn Konflikt- und Dilemmasituationen auftreten und eine Entscheidung zu fällen ist.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Gilligans Modell der Fürsorgemoral
2.1. Kontroverse
2.2. Hinweise auf das Bestehen einer geschlechterabhängigen Moral
3. Fallbeispiel
3.1. Falldarstellung
3.2. Reflexion nach berufsethischen Grundlagen des DBSH
4. Bezug der geschlechterspezifischen Moral zur Sozialen Arbeit
5. Fazit
6. Literatur
1. Einleitung
„Können Frauen überhaupt gerecht sein, wenn sie so gewohnt sind zu lieben?“1 - Friedrich Nietzsche „Gerechtigkeit ist mehr die männliche, Menschenliebe mehr die weibliche Tugend.“2 - Schopenhauer Die Thematik, die in diesen Fragestellungen steckt, ist seit langem in der Entwicklungspsychologie kontrovers diskutiert. Ausgehend von dieser Ausgangsfrage werde ich in der vorliegenden Arbeit das Handeln des guten Sozialarbeiters oder der guten Sozialarbeiterin unter Berücksichtigung der weiblichen Fürsorgemoral nach Carol Gilligan beleuchten. Zudem werde ich kontroverse Ansichten darstellen sowie ein Fallbeispiel aus meiner Praxis zum Zweck des Bezuges auf die Soziale Arbeit heranziehen.
Der Berufsalltag eines Sozialarbeiters liefert ständig konfliktreiche Situationen, die es zu bewältigen gilt. Notwendiger Teil hierbei ist das ethische Bewusstsein, das immer dann eine Rolle spielt, wenn Konflikt- und Dilemmasituationen auftreten und eine Entscheidung zu fällen ist.
Will man ethisches Handeln in der Sozialen Arbeit zum Ausgangspunkt seiner Arbeit machen, ist eine genaue Definition der Begrifflichkeiten notwendig. Der Begriff der Ethik geht auf das griechische Wort éthos zurück. Es wird mit Sitte, Charakter oder auch Ort des Lebens übersetzt. Die Ethik bezeichnet demnach die Suche nach allgemeingültigen Aussagen über das gute und gerechte Handeln, ohne Berufung auf Gewohntes und Bewährtes, wo überkommene Lebensweisen ihre Geltung verlieren. Dabei ist die philosophische Ethik von der Idee eines sinnvollen menschlichen Lebens geleitet. Nach Aristoteles erfordert es eine Differenzierung der Begrifflichkeiten. Demnach kennzeichnet es die das Sittliche behandelnde Wissenschaft und das Sittliche selbst. Im Bezug auf die Wissenschaft spricht man hier vom „ethischen“, bezogen auf den Gegenstand aber von „moralisch“.3
2. Gilligans Modell der Fürsorgemoral
Carol Gilligan war eine Mitarbeiterin Lawrence Kohlbergs, eines US-amerikanischen Psychologen und Professors für Erziehungswissenschaft an der Harvard University School of Education, der 1958 seine Kognitive Entwicklungstheorie des moralischen Urteils veröffentlichte. Diese knüpfte an Piagets frühere Forschungen an. Kohlberg entwickelte ein Stadienschema, das entwicklungsabhängige Neuordnungen im Verständnis von Moral beleuchtet. Es verdeutlicht, wie Moral verstanden wird. Ich werde das Schema nun kurz versuchen zu umreißen, da es in seiner Komplexität mit begrenztem Rahmen schwer zu fassen ist.
Kohlbergs Schema besteht aus 6 Stufen, wobei dort zwischen präkonventioneller, konventioneller und postkonventioneller Ebene unterschieden wird und jeder Eben zwei Stufen zugeteilt werden. Stufe 1 entwickelt sich im Kindesalter. Die Moral wird dort rein instrumentalistisch verstanden: Gut ist, was belohnt wird, schlecht ist, was bestraft wird. Stufe zwei sagt aus: Gut ist, was mir und gelegentlich auch anderen nutzt. Das für Erwachsene typische Argumentationsniveau ist die konventionelle Ebene. In Stufe 3 gilt als gut, was in der eigenen Bezugsgruppe als gut angesehen wird. Richtig ist, gute Absichten zu haben und die wechselseitigen Beziehungen aufrecht zu erhalten. In Stufe 4 hingegen gibt es einen Bezug auf die Gesellschaft. Gut ist also, was in der Gesellschaft, einer großen Gruppe als gut gilt. Es ist die Modifikation der dritten Stufe, da es sich auf ein komplexeres Netzwerk bezieht, nicht mehr nur auf die Beziehung zwischen wenigen Menschen. Das Schema findet seinen Abschluss auf postkonventionellem Niveau, mit Stufe 5 und 6, die die Orientierung an selbst gewählten universalistischen Prinzipien wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Würde der Person in den Mittelpunkt stellen. Nach Kohlberg durchläuft der Mensch diese Stufen hintereinander, ohne das Überspringen einer Stufe möglich wäre. Ihm zufolge erreichen zudem wenige Menschen das postkonventionelle Argumentationsniveau.
Kohlberg fand heraus, dass Frauen, beantworteten sie hypothetische moralische Fragen, die Kohlberg entwickelte, eher im Schema der Stufe 3 antworteten, Männer hingegen nach dem Prinzip der Stufe 4. Betrachtet man nun seine Argumentation, dass die Stufen unweigerlich aufeinander aufbauen, scheint es zu bedeuten, dass Frauen moralisch „unterentwickelt“ sind.4
Gilligans Modell scheint durch die Stereotype der traditionellen Rollenverteilung immer noch etwas beeinflusst. So glorifiziert sie die weibliche Erfahrungswelt als „(...) ein Territorium, in dem Gewalt selten ist und Beziehungen sicher erscheinen." 5
Den großen Vorteil sieht Gilligan in der Möglichkeit, auch Bereiche des öffentlichen Lebens mit diesen gewaltarmen Strukturen zu regulieren. Im Folgenden werde ich nun in Anknüpfung an Kohlbergs Schema das Modell Gilligans veranschaulichen.
Doch bevor ich Gilligans Theorie vereinfacht versuche darzustellen, ist hier eine Klärung des Moralbegriffes nötig. Nach Zimbardo ist Moral ein System aus Norm- und Wertvorstellungen, das beim Urteilen über richtige oder falsche Handlungen zum Tragen kommt. Es ist vom Großteil der Gesellschaft anerkannt und sichert somit die Einhaltung der Verpflichtungen des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft, um die Rechte und Interessen der einzelnen Mitglieder nicht zu verletzen.6 Dem Lexikon der Ethik zufolge bezeichnet Moral auch den normativen Grundrahmen für das Verhalten zu Natur und zu sich selbst. Moral bildet also im weiteren Sinn einen der Willkür der Einzelnen entzogenen Komplex von Handlungsregeln, Wertmaßstäben und auch Sinnvorstellungen in einer Gesellschaft.7
Gilligan nennt zur Verdeutlichung und zum Einstieg in ihre komplexe Darstellung ihrer Moralvorstellungen die Betrachtung einer mehrdeutigen Figur. Zwei Betrachtungsweisen eines Bildes oder einer Figur sind denkbar, doch erscheint eine oft als hervorstechender. Dort spielen Vorerfahrung und Erwartung des Betrachters eine Rolle. Beim Betrachten der berühmten Enten-Kaninchen-Figur wird ein Ornithologe etwas anderes sehen als ein Kaninchenzüchter. Gilligan vergleicht dies mit dem Einnehmen einer Perspektive in Dilemmasituationen. Der Mensch ist fähig, verschiedene Perspektiven einzunehmen, doch erleichtert die Einnahme einer einzigen Perspektive die Entscheidungsfähigkeit ungemein. Daher neigt der Mensch dazu, eine Perspektive ins Zentrum zu rücken, da es Klarheit schafft und die Entscheidung strukturiert.8
Rommelspacher beleuchtet zudem Gilligans Bezug auf neuere Untersuchungen, die zeigen, dass die Psyche der Frau eine stärkere Prägung durch soziale Bindungen erfährt als der Mann. Die Frau habe somit ein höheres Interesse an dem Erhalt von Bindungen, woraus sich auch eine zum Mann unterschiedliche Werteskala ergebe.
Darin liegt dem Modell nach der grundlegende Unterschied zwischen Mann und Frau. Die weibliche Moral ist nach Gilligan fixiert auf Fürsorge, Erhalt von Beziehungen, Verantwortung für andere und daher personen- und beziehungsorientiert. Im Mittelpunkt steht das Abwenden von Schaden in Bezug auf andere und setzt, bezogen auf Entscheidungen, an den persönlichen Bedürfnissen des Menschen an. Keine große Rolle spielt hierbei der Aspekt des Rechtes eines jeden auf eine bestimmte Entscheidung.
Als männliches Pendant dazu betrachten wir die männliche Gerechtigkeitsmoral. Der Fokus liegt hier weitestgehend auf der Respektierung der Rechte eines jeden und dem Zugeständnis der Rechte für jeden. Es fordert die Einhaltung festgelegter Rechte und Pflichten.9 Das geltende moralische Prinzip ist hierbei die Goldene Regel: „Was du nicht willst, was man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“10
Durch Gilligans Forschung entstand eine Kontroverse, die bis heute keinen Abschluss findet und vielseitige Meinungen zulässt. Auf diese werde ich im nächsten Kapitel näher eingehen.
2.1. Kontroverse
Nunner-Winkler und auch andere Ethiker kritisieren an Gilligans Modell die Einengung auf mögliche Erklärungen, die aufgrund der Annahme einer Koppelung zwischen inhaltlicher Moralorientierung und Geschlecht zustande kommt. Demzufolge würden ein unterschiedlicher Aufbau im Gehirn oder ein andersartiger Hormonhaushalt als universell an das Geschlecht gebundene Faktoren infrage kommen. Auch die eingeschränkte Reproduktionsfähigkeit der Frau und die damit zusammenhängenden erhöhten Fürsorglichkeit für das Kind könnten Erklärungsansätze sein. Frauen haben zudem zu Neugeborenen eine enge Bindung, da sie die erste Bezugsperson darstellen. Nach Nunner-Winkler lässt Gilligan z.B. soziokulturelle Einflüsse wie Religion, Kultur und Tradition außer Acht.
Sie verlangt eine breitere Auslegung möglicher Einflussfaktoren in Bezug auf die Entwicklung von Moral und auch das Berücksichtigen von Überlappungen der Moralperspektiven zwischen beiden Geschlechtern. Sie bewertet Gilligans Modell als eine Reduktion der möglichen moralischen Orientierungen und betrachtet ihre Überlegungen als nicht komplex genug. Generell jedoch sieht auch sie die Tendenzen eines Geschlechts zu einer inhaltlichen moralischen Orientierung gegeben, fordert aber eine genauere Auslegung der Ursachen.11
2.2. Hinweise auf das Bestehen einer geschlechterabhängigen Moral
Kay Johnston suchte in ihren Studien nach einem Zusammenhang zwischen moralischer Orientierung und Geschlecht. Unter Benutzung von Dilemmata in Fabeln untersuchte sie mögliche Perspektivpreferenzen der Geschlechter bei 11-15-Jährigen. Auf die Bitte, nach einer Lösung für das fiktiv geschaffene Problem zu finden, stellte Johnston starke Geschlechterunterschiede fest. Die Jungen bevorzugten die Gerechtigkeitslösungen, während Mädchen eher Lösungen unter dem Fürsorgeaspekt erdachten. Jedoch waren die Kinder auch in der Lage, nach Aufforderung eine andere mögliche Lösung zu finden. Johnston erkannte, dass es auch Kindern möglich ist, verschiedene Perspektiven einzunehmen und moralische Orientierung zu wechseln. Gerechtigkeit und Fürsorge stellen einen Rahmen dar, der moralische Entscheidungen organisiert.
Auch Piaget entdeckte schon früh Unterschiede im Verhalten und der moralischen Orientierung beim Beobachten spielender Kinder. Jungen legen weit häufiger handfeste Regeln fest, an denen sich das Spiel orientiert und bestehen weitestgehend auf die Einhaltung der von ihnen erdachten Gesetze und Gesetzmäßigkeiten. Anhand dieser lässt sich systematisch ein ganzes Netzwerk von sich gegenseitig bedingenden Regelmäßigkeiten ableiten, die sich auf verschiedenste Anwendungsfelder beziehen lassen und somit moralische Dilemmata eher logisch lösen. Jungen haben nach Piaget einen erhöhten Bedarf an Einhaltung von Struktur und Gesetzmäßigkeit beim Spielen.
Mädchen hingegen sind nur solange an Regelsysteme gebunden, bis diese ihre Spielfreude beeinträchtigen. Sobald dies geschieht, sind sie offen für Ausnahmen und neue Regelungen. Der Spaß steht im Vordergrund und das Spielen wird viel offener gestaltet, da durch Eingebungen spontane Änderungen stattfinden können, die bei Mädchen die Spielfreude steigern, sich bei Jungen hingegen eher negativ auf diese auswirken.12
Empirische Untersuchungen beleuchteten verschiedene Fragen zu einer geschlechterspezifischen Moral. Zum einen, ob in der Diskussion moralischer Dilemmata überhaupt unter dem Aspekt der Fürsorge oder der Gerechtigkeit artikuliert werden. Weiterhin entstand die Frage, ob man sich auf nur eine der möglichen Argumentationsniveaus einlässt oder auch, und darauf basiert die Studie, ob es einen Zusammenhang zwischen Geschlecht und moralischer Orientierung gibt.
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1 Nietzsche, Siebtes Hauptstück (Weib und Kind), siehe Abschn. 416.
2 Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral
3 Höffe, S.71/72
4 Nunner-Winkler, S. 9ff
5 Gilligan, S.81
6 Zimbardo, S. 86
7 Höffe, S. 211
8 Gilligan, in: Nunner-Winkler, S. 79f
9 Rommelspacher, S. 63
10 Ausdrucksweise variiert je nach Zeitalter/Religion. So z.B. in Lukas 6:31 der Bibel: „Und wie ihr wollt, daß euch die Menschen tun, so tut auch ihnen.“ Ähnlich auch Kant in seinem kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeingültiges Gesetz werde.“ (Siehe H. J. Paton im Quellenverzeichnis)
11 Nunner-Winkler, S. 14ff
12 Piaget, S. 145