Soziale Bildungsungleichheit im deutschen Bildungssystem
In wie weit werden Merkmale sozialer Herkunft bei der Vergabe von Übergangsempfehlungen berücksichtigt?
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zur Relevanz von Übergängen und Übergangsempfehlungen
3. Der Begriff der sozialen Herkunft
4. Theoretisches Modell nach Boudon
4.1 Primäre Herkunftseffekte nach Boudon
4.2 Sekundäre Herkunftseffekte nach Boudon
4.3 Erweiterung der boudonschen Theorie
5. Exemplarische Darstellung der empirisch relevanten Studien
6. Einordnung der Studienergebnisse in die Theorie Boudons
7. Erklärungen für das Entscheidungsverhalten der Lehrkräfte
8. Fazit
9. Literatur
1. Einleitung
Im Zuge der großen internationalen Schulleistungsstudien der letzten Jahre (IGLU 2001 & 2006, LAU 5, PISA 2000, TIMSS u.a.) sind die an den Übergängen im deutschen Bildungssystem hergestellten Ungleichheiten der Bildungschancen vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit sowie der sozial- und bildungswissenschaftlichen Forschung gerückt (vgl. Maaz/Nagy 2010: 151). Diese Studien konnten einen signifikanten Zusammenhang zwischen den in Übergangssituationen produzierten Disparitäten mit Merkmalen der sozialen Herkunft aufzeigen (vgl. Baumert/Schümer 2001; Bos et al. 2004; Ditton/Krüsken 2006; Lehmann/Peek/Gänsfuß 1997; Stubbe/Bos 2008; Uhlig 2012). Im Hinblick auf die Relevanz von Bildung und Bildungschancen für die spätere berufliche Karriere, den Lebensstandard, die soziale Sicherheit, die Gesundheit oder auch für das private Glück gelten somit Transitionsprozesse, insbesondere der Übergang von der Grundschule auf die Sekundarstufe I, als „entscheidende Stationen für die Entstehung von [herkunftsbedingten] Bildungsungleichheiten“ (Baumert et al. 2010: 5; vgl. Geißler 2006: 34). Bei diesen den weiteren Bildungs- und Lebensverlauf von Kindern und Jugendlichen prägenden Weichenstellungen konnten die in der vierten Klasse erteilten Übergangsempfehlungen von Lehrkräften als zentrale Produzenten herkunftsabhängiger Bildungsteilhabe enthüllt werden (vgl. u.a. Bos et al. 2004; Lehmann/Peek/Gänsfuß 1997). An dieser Stelle könnte argumentiert werden, dass die beschriebenen Unterschiede aus der herkunftsabhängigen Leistungsfähigkeit (primäre Herkunftseffekte) der Kinder und nicht aus einem auf sozialen Herkunftseffekten basierendem Entscheidungsverhalten (sekundäre Herkunftseffekte) resultieren[1]. Dieser Einwand findet in der vorliegenden Arbeit besondere Berücksichtigung (siehe Ende Kapitel 6).
Die Aktualität im öffentlichen Diskurs ebenso wie die unverkennbare Relevanz von Bildungsabschlüssen für den beruflichen und auch persönlichen Erfolg begründen die Auswahl und Thematisierung der Fragestellung der vorliegenden Hausarbeit. In Anlehnung an die in den Studien herausgestellte soziale Bildungsungleichheit im deutschen Bildungssystem, soll geklärt werden, in wie weit Merkmale sozialer Herkunft bei der Vergabe von Übergangsempfehlungen berücksichtigt werden.
Den einleitenden Worten folgend, dienen die nachstehenden Kapitel (Kapitel 2-4) der theoretischen Fundierung der vorliegenden Hausarbeit. Mit der Darstellung der Relevanz von Übergängen im deutschen Schulsystem und den damit zusammenhängenden Übergangsempfehlungen wird das zweite Kapitel eröffnet. In Anknüpfung an die KMK-Empfehlungen und das Schulgesetz werden grundlegende Kriterien für die Schulempfehlung angeführt und die Eltern als endgültige Entscheidungsinstanz für die Schulformwahl in Nordrhein-Westfalen herausgestellt. Neben der Übergangempfehlung ist die soziale Herkunft zentraler Gegenstand der Hausarbeit. Unter Zuhilfenahme eines Kategorisierungssystems der IGLU-Studie soll die soziale Herkunft im dritten Kapitel definiert werden. Im vierten Kapitel werden die beiden vorgestellten Aspekte, Übergangsempfehlung und soziale Herkunft, durch eine Erweiterung des auf den Überlegungen des französischen Soziologen Raymond Boudon (1974) basierenden, theoretischen Modells der primären und sekundären Herkunftseffekte erstmals zusammengeführt. Dabei werden schwerpunktmäßig die sekundären Herkunftseffekte thematisiert. Die Darstellung seines mikrosoziologischen Ansatzes dient der späteren theoriegeleiteten Untersuchung der Fragestellung.
Vor diesem Hintergrund werden im nachfolgenden Kapitel ausgewählte empirische Studien exemplarisch vorgestellt, die einen bedeutungsvollen Zusammenhang zwischen den von Lehrkräften formulierten Übergangsempfehlungen und Effekten sozialer Herkunft aufzeigen. Besondere Berücksichtigung finden dabei die hausarbeitsrelevanten Forschungsergebnisse der IGLU-Studien von 2001 und 2006, sowie der LAU 5-Studie. Deren zentrale Befunde werden im anschließenden 6. Kapitel zusammengefasst und in das theoretische Modell Boudons eingeordnet. Die Überlegungen Boudons basieren auf Annahmen der Wert-Erwartungs-Theorie, die im vorletzten Kapitel zur Erklärung der herausgestellten Bedeutsamkeit sozialer Merkmale für die Übergangsempfehlungen herangezogen wird. Zentrale Motive der Lehrkräfte für die herkunftsabhängige Vergabe von Übergangsempfehlungen werden an dieser Stelle kurz aufgegriffen. Die vorliegende Hausarbeit schließt mit einem Fazit.
2. Zur Relevanz von Übergängen und Übergangsempfehlungen
Der Beginn der Kindergartenzeit, der Wechsel in die erste Klasse, der Übertritt auf eine weiterführende Schulform, Neuanfänge nach Klasse 10 oder dem Abitur: Derartige Übergänge im deutschen Bildungssystem gelten als einschneidende und weitreichende Erlebnisse in den Bildungsbiographien junger Individuen (vgl. Baumert et al. 2010: 5; siehe z.B. zur Relevanz von Übergangsempfehlungen für das Fähigkeitsselbstkonzept die Studie von Billmann-Mahecha/Tiedemann 2006). In Anlehnung an die Tatsache, dass „Bildung [.] als hoch bedeutsame Ressource für die Chancen der persönlichen Lebensgestaltung [fungiert]“ (Speck-Hamdan 2007: 6), entscheiden Transitionsprozesse neben dem zu erreichenden Bildungsabschluss, auch über die spätere „[sozioökonomische] Position als Erwachsener innerhalb der Gesellschaft“ (Baumert et al. 2010: 5). Denn mit „einem guten Qualifikationsniveau hängen die Chancen auf beruflichen Erfolg, Lebensstandard, soziale Sicherheit und Gesundheit genauso zusammen wie die Chancen auf Selbstbestimmung und Freiheit“ (Geißler 2006: 34). Von diesen, den künftigen Bildungs- und Berufsweg prägenden Weichenstellungen ist der Wechsel von der Grundschule in die Sekundarstufe I der unverkennbar bedeutendste Übergang (vgl. Bos et al. 2004: 193; Maaz et al. 2006: 300). Dies hängt u.a. damit zusammen, dass Entscheidungen für die jeweiligen Schulformen, trotz angeblicher Durchlässigkeit des Schulsystems, vergleichsweise selten revidiert werden (vgl. Tiedemann/Billmann-Mahecha 2007: 109).
Einen maßgeblichen Einfluss auf die Wahl der Schulart haben die von Lehrerinnen und Lehrern formulierten Übergangsempfehlungen, die Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen mit dem Halbjahreszeugnis der vierten Klasse erhalten (vgl. KMK 2010: 17). Diese Empfehlungen basieren auf subjektiven Einschätzungen der Lehrkräfte über die Eignung des Kindes für eine bestimmte weiterführende Schulform und seinem damit zusammenhängenden Bildungserfolg (vgl. Neugebauer 2010: 204). „Es erhalten dann diejenigen Schüler eine Gymnasialempfehlung, deren Schulleistungen so gut sind, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit das Gymnasium erfolgreich abschließen werden“ (Neugebauer 2010: 204).
Als Grundlage dieser Prognosen über das weitere Lernverhalten sollen der Leistungsstand, die Lernentwicklung sowie die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler dienen (vgl. § 11 Abs. 5 SchulG). Da es keine „vorgegebene quantifizierte Gewichtung der jeweiligen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten gibt“ (KMK 2010: 17f), liegt eine begründete Entscheidung für eine bestimmte Schulform im Ermessen der Lehrkräfte. Dennoch finden sich in den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz elementare Grundsätze, die bei Übergängen und somit auch bei Übergangsempfehlungen berücksichtigt werden sollen (vgl. ebd.: 6f). So soll „jedem Kind [.] - ohne Rücksicht auf Stand und Vermögen der Eltern – der Bildungsweg offenstehen, der seiner Bildungsfähigkeit entspricht“ (Ebd.: 5). Gleichzeitig sollen „das jeweilige Umfeld, die Lernausgangslagen und die Lernmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler“ (Ebd.: 6), ebenso wie deren „Eignung, Neigung und Wille [zur geistigen] Arbeit“ (Ebd.: 5) bewertet werden. Die Erteilung einer Übergangsempfehlung setzt somit hohe diagnostische Kompetenzen bei Lehrkräften voraus, die weitreichende Konsequenzen haben können. Denn nicht nur für das einzelne Kind selbst, sondern auch für das Bildungssystem und die Gesellschaft sind inkorrekte Bildungsentscheidungen teilweise mit hohen Kosten und Mühen verbunden (vgl. McElvany 2010: 297).
Im Gegensatz zu einigen anderen Bundesländern hat die Übergangsempfehlung der Grundschulen in Nordrhein-Westfalen keinen bindenden Charakter. Somit liegt die Entscheidungsgewalt über den weiteren Bildungsverlauf letztendlich bei den Eltern der jeweiligen Schülerinnen und Schüler (vgl. § 11 Abs. 5 SchulG). Dennoch wird auch in diesem Bundesland der Empfehlung eine bedeutende Rolle zugeschrieben.
Denn „die Grundschullehrkräfte sind neben der direkten Einbindung über die schulische Übergangsempfehlung in vielfältiger anderer Weise formell und informell mit dem Übergang verbunden: Sie sind es, die den Schülerinnen und Schülern in den Jahren vor dem Übergang kognitive, motivationale, emotionale und soziale Kompetenzen vermittelt haben, und sie kommunizieren mit Eltern und Kindern in mehr oder weniger institutionalisierten Gesprächen über den Übergang. Sie informieren und beraten und gestalten den innerschulischen Entscheidungsprozess, der schließlich zu einer Übergangsempfehlung führt“ (McElvany 2010: 297).
Zudem wurde vielfach gezeigt (z.B. in IGLU 2006), dass Übergangsempfehlungen eine zentrale Orientierungshilfe für das elterliche Entscheidungsverhalten darstellen und Eltern vermehrt dieser Empfehlung nachkommen (vgl. Arnold et al. 2010: 18; Maaz/Nagy 2010: 153; Nölle et al. 2011: 94). Dies trifft im besonderen Maße auf Eltern bildungsferner Schichten zu, da diese meist die professionelle Bewertung der Lehrkräfte über die eigenen Beurteilungskompetenzen stellen (vgl. Solga 2008: 16f).
3. Der Begriff der sozialen Herkunft
Die soziale Herkunft ist neben der Übergangsempfehlung zentraler Gegenstand der vorliegenden Arbeit. In diesem Kapitel werden Elemente sozialer Herkunft vorgestellt und definiert. Dabei werden Kategorisierungen, die in den großen internationalen Schulleistungsstudien verwendet werden, hinzugezogen.
In der Literatur lassen sich unterschiedliche Definitionen von sozialer Herkunft und welche Bereiche darunter zu fassen sind, finden. So bezeichnet soziale Herkunft bei Magdalena Schauenberg „Aspekte, die im Zusammenhang mit der sozialen Position eines Menschen in der Gesellschaft stehen, dazu zählen sowohl Status, Bildung, der ökonomische Hintergrund und Migrationserfahrungen“ (Schauenberg 2007: 26). Hingegen werden bei IGLU und PISA der Migrationsstatus und die soziale Herkunft separat voneinander betrachtet (vgl. Bos et al. 2004; Prenzel 2007). Das Merkmal der Migrationserfahrungen wird im Rahmen dieser Hausarbeit nicht weiter vertieft.
Da die vorliegende Hausarbeit hauptsächlich die Ergebnisse der IGLU-Studien zur Argumentation heranzieht, wird nachfolgend die diesen Studien zugrundeliegende Definition von sozialer Herkunft angeführt[2].
Ein wesentlicher Bestandteil dieser Definition ist die Klassifizierung von Berufen in sogenannte EGP-Klassen[3]: obere Dienstklasse (EGP-Klasse I), untere Dienstklasse (II), EGP-Klassen V, VI und VII (Facharbeiter und Arbeiter mit Leitungsfunktionen, Angestellte in manuellen Berufen, un- und angelernte Arbeiter, Landarbeiter)[4] (vgl. Schwippert/Bos/Lankes 2004: 166f). Diese hierarchisch angeordneten Berufsgruppen weisen einen engen Zusammenhang zum International Socio-Economic Index (ISEI) und damit auch zum Einkommen und zur Bildungsnähe[5] der Familien auf (vgl. ebd.: 167; Hervorheb. im Original). Die EGP-Klassen werden bei IGLU, neben dem sozioökonomischen Status - der sich aus den EGP-Klassen, dem Einkommen und der Bildungsnähe der Familie zusammensetzt - als Indikatoren für den sozialen Hintergrund der Familie verwendet (vgl. Bos et al. 2004: 217; Schwippert/Bos/Lankes 2004: 173).
Die zentrale Bedeutung der sozialen Herkunft für die vorliegende Hausarbeit resultiert aus ihren bewiesenermaßen folgenreichen Effekten auf die Lebensbedingungen und insbesondere auf die Bildungschancen von Individuen (vgl. Schauenberg 2007: 26). So kann eine niedrige soziale Herkunft (wie sie z.B. durch ein geringes Bildungsniveau oder einen niedrigen sozioökonomischen Status, auch in Zusammenhang mit einem Migrationshintergrund, entstehen kann) zu gesellschaftlichen Nachteilen führen. Diese Nachteile äußern sich „in weniger guten Chancen der Teilhabe an den wertvollen Gütern dieser Gesellschaft“ (Schauenberg 2007: 26), beispielsweise Bildung.
[...]
[1] Vgl. hierzu die theoretischen Überlegungen des Soziologen Raymond Boudons (1974) in Kapitel 4
[2] Bei der LAU-Studie wurde lediglich der Bildungsabschluss des Vaters berücksichtigt, der an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt wird
[3] Sozialschicht der Bezugsperson im Haushalt / Dienstklassen / Sozialschichtindikator
[4] Lediglich die für die vorliegende Hausarbeit relevanten EGP-Klassen werden hier aufgeführt
[5] Erhoben über den höchsten Bildungsabschluss der Eltern