Anhand des Videomaterials aus dem Jahr 1985 von Frank Castorfs Transformation Nora (>>Et dukkehjen<<) im Theater Anklam soll in dieser Arbeit das Verhältnis der
beiden Hauptfiguren Nora und Helmer sowie der Nebenfigur 1. Ordnung Dr. Rank untersucht werden. Des Weiteren wird das Stück in Hinblick auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund analysiert. Die letzte Inszenierung des Regisseurs in der DDR in Anklam zeigt Castorf als Provokateur, der gegen das sozialistische Theater verstößt. Die Transformation des Stücks auf der Grundlage des klassischen Dramas von Henrik Ibsen aus dem Jahr 1879 in ein postdramatisches Werk zeigt interessante sozialpsychologische Strukturen vor allem im Hinblick auf die Offenheit der Sexualität im historischen Kontext.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1.1 Angaben zu der Inszenierung
1.2 Themenübersicht: Ziele und Absichten dieser Arbeit
2. Figurenanalyse – Die Erscheinung der Schauspieler als Zeichen
2.1 Nora
2.2 Helmer
2.3 Dr. Rank
3. Analyse der Figurenkonstellation
3.1 Nora und Helmer
3.2 Nora und Dr. Rank
3.3 Nora, Helmer und Dr. Rank
4. Die Aufführung im historischen Kontext
5. Ergebnisse der Analyse
6. Anhang
6.1 Notizen zu der Videoaufnahme
6.2 Seite aus dem Programmheft
Literaturverzeichnis
Einleitung
1.1 Angaben zu der Inszenierung
Henrik Ibsen
Nora
(>>Et dukkehjen<<)
Schauspiel in drei Akten
Fassung von Frank Castorf für das Theater Anklam nach einer Übersetzung von Bernhard Schulze
Premiere am 16. Februar 1985 Im Theater Anklam
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.2 Themenübersicht: Ziele und Absichten dieser Arbeit
Anhand des Videomaterials aus dem Jahr 1985, von Frank Castorfs Transformation Nora (>>Et dukkehjen<<) im Theater Anklam soll in dieser Arbeit das Verhältnis der beiden Hauptfiguren Nora und Helmer sowie der Nebenfigur 1. Ordnung Dr. Rank untersucht werden. Des Weiteren wird das Stück in Hinblick auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund analysiert.
Die letzte Inszenierung des Regisseurs in der DDR in Anklam zeigt Castorf als Provokateur der gegen das sozialistische Theater verstößt.
Die Transformation des Stücks auf der Grundlage des klassischen Dramas von Henrik Ibsen aus dem Jahr 1879 in ein postdramatisches Werk zeigt interessante sozialpsychologische Strukturen vor allem im Hinblick auf die Offenheit der Sexualität im historischen Kontext.
Im ersten Teil der Arbeit werden die Erscheinungen der einzelnen Figuren als Zeichen nach Erika Fischer-Lichtes Semiotik des Theaters analysiert.
Fischer- Lichte zerlegt den Zeichenkomplex „äußere Erscheinung“ in drei Komponenten Maske, Frisur und Kostüm“[1]. Darauf aufbauend sollen die äußeren Erscheinungen von Nora, Helmer und Dr. Rank untersucht werden.
Darauffolgend wird auf der Basis eigener Notizen zu der Videoaufzeichnung und Rezensionen zu Castorfs Arbeit die Figurenkonstellation Nora-Helmer, Nora-Rank sowie der dreier Konstellation durchleuchtet und an jeweils zwei Beispielen untersucht. Die Analyse wird unter Berücksichtigung von Hans Krahs Werk Einführung in die Literaturwissenschaft: Textanalyse[2], Erika Fischer-Lichtes Die Zeichensprache des Theaters[3] und Christopher Balmes Einführung in die Theaterwissenschaft[4] ausgearbeitet.
Abschließend wird sich die Arbeit anhand eines Interviews von Jürgen Balitzki mit Frank Castorf, Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch der DDR und Zeitschriftenartikeln kritisch mit dem historischen Kontext der Inszenierung auseinandersetzen.
2. Figurenanalyse – Die Erscheinung der Schauspieler als Zeichen
2.1 Nora
Nora, gespielt von Silvia Rieger, trägt eine blasse und dezente Maske bzw. Schminke. Ihr Gesicht scheint das einzige Puppenhafte an ihr zu sein, da es nahezu makellos erscheint. Sie wirkt sinnlich durch ihre vollen Lippen und zugleich dominant auf Grund ihrer Frisur. Sie trägt ihre schwarzen, langen Haare bis zu der Weihnachtsfeier bzw. bis zu ihrem Ausbruch in einem strengen, nach hinten gekämmten Zopf. Dieser deutet darauf hin, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt eingeengt und nicht frei ist.
Ihre schwarzen Haare symbolisieren in unserer Kultur gegenüber blonden, welche meist mit Unschuld assoziiert werden, etwas Schuldiges bzw. Verruchtes.
Noras Kostüm ist während der gesamten Aufführung schwarz. Die Farbe schwarz steht als Zeichen der Trauer. Sie trägt ab dem ersten Akt lange, schwarze Kleider, vergleichbar mit der Kleidungsordnung einer Beerdigung.
Auffallend ist das Latex-Kleid, welches Helmer ihr zu Weihnachten schenkt und das sie auf der Feier trägt. Es verweist auf Helmers Egoismus und Fetisch auf. Nora fühlt sich offensichtlich unwohl in ihrer Kleidung. Es ist sehr kurz, enganliegend und aufreizend geschnitten. In Verbindung mit den Netzstrümpfen, welche sie ebenfalls trägt, erscheint sie wie eine Prostituierte, oder Domina. Aus dem Kleid hängt während des Tragens stets provokant das Preisschild heraus, was die Materialität der Helmers präsentiert.
Ebenfalls sticht ins Auge, dass sie während ihres Befreiungsaktes nicht nur ihr Haar offen trägt sondern sogar nackt erscheint und sich symbolisch von all dem löst.
Des Weiteren wird durch die Betonung ihrer Füße Noras Kindlichkeit und ihr Weg, den sie zu bewältigen hat, unterstrichen, da sie zu Beginn barfuß erscheint.
Die Farbwahl, ferner das Gesamtbild ihrer äußeren Erscheinung zeigt nicht nur ihre Trauer und die Zwänge, welchen sie unterliegt, sondern ebenso ihr farbloses Leben.
2.2 Helmer
Henrie Hübchen als Torvald Helmer erscheint wie Nora mit blasser Haut und dunklen Haaren. Durch sein Auftreten, nur im Bademantel bekleidet, beim Betreten der Bühne kommt sein Charakter als Chauvinist zum Ausdruck. Im Verlauf der Aufführung kleidet er sich adrett in einem schlichten Anzug. Vergleichbar mit Ibsens klassischem Stück wird auch hier der gut bürgerliche Anschein dadurch gewahrt. Auch bei ihm unterstreicht die Kleidung in schwarz-weiß die Farblosigkeit im Leben der Familie.
In Bezug auf sein Kostüm tritt auch eine seiner Neurosen auf. Helmer lässt sich von Nora die Schnürsenkel binden und ist offensichtlich nicht in der Lage dies selbst zu tun. Als diese ihm zusammengebunden werden, erscheint er hilflos und sucht panisch nach einer Schere.
Auf der Party legt Helmer sein Jacket ab und ist am Ende der Aufführung leger in Hemd und Hose gekleidet. Auffallend ist das Schild auf seinem Rücken. Die Zahl zwei ist darauf zu erkennen. Diese kann für ein Gegensatzpaar bzw. für Dualismus stehen. Im Gegensatz zu der eins als ein Punkt lässt die zwei auf eine Strecke oder einen Konflikt deuten, welcher sich in der Aufführung vollzieht und durch Noras Abschied beendet wird. Die zwei kann auch die Zweisamkeit darstellen die Nora Gefangenhält und aus der sie flüchtet.
2.3 Dr. Rank
Dr. med. Anna-Marie Ranks (Eva-Marie Fröhlich) Maske ist blass und faltig. Sie wird als alte erfahrene Frau mit männlichen Zügen dargestellt. Ihre Frisur, kurze graue Haare, unterstützt dies. Unter den Augen ist Dr. Rank etwas dunkler geschminkt, was auf ihren Krankheitszustand hinweist.
Rank trägt einen Hosenanzug, sowie eine Frauenkrawatte was zum einen ihre Homosexualität und zum anderen ihr Agieren als Psychoanalytikerin betont.
Dr. Rank trägt zu dem weiße Handschuhe, welche ebenfalls als Hinweis zu ihrer ärztlichen Funktion fungieren. Weiße Handschuhe als Zeichen für etwas Steriles, etwas Edles und als Schutz lassen Dr. Rank als Kontrast zu den beiden Hauptfiguren kennzeichnen.
Auf der Party trägt Rank ein pompöses, mit hellen Farben leuchtendes Kostüm, welches bei Ibsen ursprünglich für Nora bestimmt war. Dieses Kostüm in Kombination mit ihrer ebenfalls strahlenden und funkelnden Kopfbedeckung steht im Kontrast zu den restlichen Kostümen der Feier.
3. Analyse der Figurenkonstellation
3.1 Nora und Helmer
Direkt zu Beginn des Stücks lässt Castorf erkennen, in welcher Beziehung Nora und Helmer zueinander stehen. Unterstützt durch die Kälte des Raums und die düstere Stimmung auf der Bühne kommt das „Familienglück“ des Ehepaares sofort zum Ausdruck.
Helmer betritt nach fünf Minuten die Bühne. Zum Frühstück teilen sich die beiden eine Zigarette. Anfangs wird nur durch ihren Intermediär Jörgensen gesprochen. Eine große Distanz der beiden ist erkennbar: Noras Puppenhaftigkeit, vielmehr ihre Apathie und krankhafte Ausstrahlung kommt nach sieben Minuten zum Ausdruck.
Sie beginnt mit ihrer Morgengymnastik. Es sind unnatürliche, marionettenähnliche Bewegungen.
Die erste Annäherung der beiden findet nach neun Minuten statt. Helmer nähert sich Nora, umarmt sie von hinten und küsst sie zärtlich am Hals. Doch liebevoll wirkt das Ehepaar nicht, denn schnell versucht er ihr unter das Kleid zu greifen. Nora wehrt sich und weicht von ihm. Doch Helmer behandelt sie weiterhin abwertend, indem er ihr wider ihres willens an die Brüste greift. Er wiederholt dies bis beide handgreiflich werden. Schnell wird klar, dass für Helmer die ehelichen Pflichten Noras an erster Stelle stehen. Er betrachtet sie nicht nur wie eine Puppe, sondern wie ein Sexobjekt.
Nora wirkt verstört und voller Scham im Gegensatz zu Helmer, der dies ins Lächerliche zieht. Vertieft wird die Darstellung der Nora als Sexobjekt als es nur kurze Zeit darauf um ihren Weihnachtswunsch geht. Auf die Frage was sie sich wünsche, antwortet sie Helmer mit Geld und lässt erstmals körperliche Annäherungen zu.
Interessant ist nun der weitere Verlauf, da Nora Helmer verführt und versucht, ihn in die Küche zu zerren. Nach 12 Minuten steigert Helmer die Darstellung der Nora als Prostituierte, indem er zu Jörgensen kurz vor dem sexuellen Akt in der Küche sagt:
,,Es ist einfach unglaublich was einen so eine Frau kostet“.
Die Unzufriedenheit von Nora wird verstärkt zum Ausdruck gebracht als Helmer Nora als eine Nymphomanin nach Dr. Wilhelm Reich analysiert.
Nora selbst zählt sich zu den unbefriedigten Frauen, die „ nie so richtig mit einem Mann zusammenkommt und z.B. durch Klavierspielen zum Orgasmus kommt “[5] wie es später im Gespräch mit Dr. Rank zum Vorschein kommt.
Die Nymphomanie, ein Verlangen nach Liebe das mit Sex kompensiert wird, scheint Helmer nicht zu begreifen.
Im Vergleich zu Ibsens klassischen Stück gibt Helmer Nora in dieser Inszenierung keine Kosenamen. Doch auch hier wird schnell klar, dass die Frau an Helmers Seite nur sein hübsches Anhängsel ist und beide eine unbefriedigte und unglückliche Ehe führen.
Das zweite Beispiel, dem dritten Akt entnommen, beginnt nach 02:10 Stunden.
Nora würde gerne Mozart singen, Helmer jedoch verlangt von ihr das Lied „Honky Tonk Woman“ von den Rolling Stones, auf deutscher Sprache vorzutragen.
So berichtet Hübchen:
„Normalerweise, um ein Beispiel zu nennen tanzt Nora bei so`ner Hausparty Tarantella. Franks Grundidee in Anklam macht Herrn Helmer zu nem 68er Typen, der vielleicht gern Rock`n`Roller geworden wäre, aber eben doch die Bankerkarriere vorzog. Eigentlich immer noch 68er, aber `ne attraktive Frau zu Hause und den Mercedes vor der Tür- das war das Thema“[6].
Die Liedwahl zeigt also, dass auch Helmer seinen Lebensweg bereut bzw. unzufrieden ist.
Das Kleid, welches Nora trägt, ein Geschenk Helmers, der als Egoist ihren Wunsch nach Geld nicht erfüllte, ist von Marilyn Faithfull, was Helmer immer wieder betont.
An diesem sei schon ,,Mick Jagger“ dran gewesen, ein weiterer Ausdruck seines Verlangen nach einem anderen Lebensstil. Marianne Faithfull fungierte damals ebenfalls wie Nora nur als Prestige-Symbol für ihren Mann.
Auffallend ist welche Bedeutung das Lied ebenso enthält, wenn man den Songtext näher betrachtet und den Dialog der beiden berücksichtigt.
02:10 h Nora: ,,Nicht meine Kultur“ Helmer:,, Deine Kultur, da wo die Sonne verstaubt“. Wieder einmal wird der Kontrast der Charaktere verdeutlicht und Helmers Selbstbezogenheit, der die Musik bestimmt und Nora unter Kontrolle hat, betont.
[...]
[1] Fischer- Lichte, Erika Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Das System der theatralischen Zeichen, Band 1, Tübingen: Gunter Narr Verlag , hier S.95- 131.
[2] Krah, Hans Einführung in die Literaturwissenschaft: Textanalyse. Kiel: Ludwig, 2006, hier S. 360- 367.
[3] Fischer- Lichte, Erika Die Zeichensprache des Theaters. Zum Problem theatralischer Bedeutungsgenerierung. In: Möhrmann, Renate(Hrsg.). Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung. Berlin, 1990.
[4] Balme, Christoph Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt, 1999.
[5] Balitzki, Jürgen Castorf der Eisenhändler. Theater zwischen Kartoffelsalat und Stahlgewitter. Berlin: Ch. Links Verlag, 1995, hier S.55.
[6] Balitzki, Jürgen Castorf der Eisenhändler. Theater zwischen Kartoffelsalat und Stahlgewitter. Berlin: Ch. Links Verlag, 1995, hier S.58.