Bei einer repräsentativen Studie zum Journalismus in Deutschland haben 88,6% der befragten Journalisten angegeben, dass es zu ihrem Rollenselbstverständnis gehört, „das Publikum möglichst neutral und präzise“ zu informieren (Weischenberg et al. 2006: S. 356). Nicht belegt ist, was sie darunter genau verstehen und wie gut es ihnen in der täglichen Arbeit gelingt, diesem Ziel gerecht zu werden. Voraussetzung für eine präzise Berichterstattung sind in der Regel aufwändige Recherchen, bei denen manchmal nur wenig Konkretes herauskommt. Im redaktionellen Alltag konkurriert der Präzisionsanspruch zudem mit anderen Zielen, wie Aktualität, Relevanz oder Publikumswirksamkeit.
Präzision ist kein Selbstzweck: Zuviel davon lässt einen Zeitungstext schnell akademisch wirken und bringt dem Leser meistens keinen zusätzlichen Nutzen. Übertriebene Genauigkeit kann sogar schaden, wenn dadurch das Leseverständnis leidet. Ein gezielter Einsatz von Vagheit kann den Rezipienten dagegen helfen, zu erkennen, auf welche Informationen sie ihre Aufmerksamkeit richten sollten (vgl. Jucker et al. 2003: S. 1737). Pan (2012) argumentiert, dass vage Sprache auch helfen kann, die Genauigkeit von Zeitungsinhalten zu verbessern. Dies ist z. B. der Fall, wenn präzise Zahlenangaben zu einem aktuellen Ereignis noch nicht vorliegen und Reporter mit Formulierungen, wie mindestens oder bis zu, diesen Unsicherheitsbereich in ihrem Kenntnisstand transparent machen. Tatsächlich können vage Ausdrücke also erforderlich sein, um möglichst präzise zu informieren.
Nicht jeder Journalist geht gleichermaßen redlich mit den sprachlichen Mitteln um. Besonders Boulevardzeitungen sind dafür bekannt, im Kampf um die Aufmerksamkeit der Leser, zu dramatisieren, zu skandalisieren, und sogar zu verfälschen. Das belegen mehr als 6000 Einträge im BILDblog, die „sachliche Fehler, Sinnentstellendes und bewusst Irreführendes in den Berichterstattungen“ deutscher Medien dokumentieren, wie es in der Eigenbeschreibung heißt. Vage Sprache eignet sich eben auch für Sensationsjournalismus, weil sie es ermöglicht, Übertreibungen zu verschleiern und unrealistische Vorstellungen hervorzurufen. Andererseits verzichten die entsprechenden Blätter oft auf vage Formulierungen, wo sie eigentlich zur Kenntlichmachung ungesicherter Informationen angebracht wären und präsentieren diese stattdessen als Fakten.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Theorie und Methoden
1. Untersuchte Kollektive
1.1. Vage Sprache
1.2. Deutsche Zeitungstexte des 20. Jahrhunderts
2. Material
2.1. Inventar vager Ausdrücke
2.2. DWDS-Kernkorpus 20
3. Methoden
3.1. Korpusanalyse
3.2. Datenerhebung
3.3. Datenaufbereitung
3.4. Datenauswertung
III. Ergebnisse
1. Hypothesentest
2. Entwicklungstendenzen
2.1. vage Mengenwörter
2.2. vage Frequenzwörter
2.3. Zahlen-Approximatoren
2.4. Shields
2.5. Kategorievergleich
2.6. Einzelne Ausdrücke
3. Kritik
IV. Zusammenfassung
V. Ausblick
1. Verwertung
2. Weiterentwicklung
VI. Literaturverzeichnis
VII. Anhang
Frequenzdaten
weitere Basisdaten
I. Einleitung
Bei einer repräsentativen Studie zum Journalismus in Deutschland haben 88,6% der befragten Journalisten angegeben, dass es zu ihrem Rollenselbstverständnis gehört, „das Publikum möglichst neutral und präzise“ zu informieren (Weischenberg et al. 2006: S. 356). Nicht belegt ist, was sie darunter genau verstehen und wie gut es ihnen in der täglichen Arbeit gelingt, diesem Ziel gerecht zu werden. Voraussetzung für eine präzise Berichterstattung sind in der Regel aufwändige Recherchen, bei denen manchmal nur wenig Konkretes herauskommt. Im redaktionellen Alltag konkurriert der Präzisionsanspruch zudem mit anderen Zielen, wie Aktualität, Relevanz oder Publikumswirksamkeit.
Präzision ist kein Selbstzweck: Zuviel davon lässt einen Zeitungstext schnell akademisch wirken und bringt dem Leser meistens keinen zusätzlichen Nutzen. Übertriebene Genauigkeit kann sogar schaden, wenn dadurch das Leseverständnis leidet. Ein gezielter Einsatz von Vagheit kann den Rezipienten dagegen helfen, zu erkennen, auf welche Informationen sie ihre Aufmerksamkeit richten sollten (vgl. Jucker et al. 2003: S. 1737). Pan (2012) argumentiert, dass vage Sprache auch helfen kann, die Genauigkeit von Zeitungsinhalten zu verbessern. Dies ist z. B. der Fall, wenn präzise Zahlenangaben zu einem aktuellen Ereignis noch nicht vorliegen und Reporter mit Formulierungen, wie mindestens oder bis zu, diesen Unsicherheitsbereich in ihrem Kenntnisstand transparent machen. Tatsächlich können vage Ausdrücke also erforderlich sein, um möglichst präzise zu informieren.
Nicht jeder Journalist geht gleichermaßen redlich mit den sprachlichen Mitteln um. Besonders Boulevardzeitungen sind dafür bekannt, im Kampf um die Aufmerksamkeit der Leser, zu dramatisieren, zu skandalisieren, und sogar zu verfälschen. Das belegen mehr als 6000 Einträge im BILDblog1, die „sachliche Fehler, Sinnentstellendes und bewusst Irreführendes in den Berichterstattungen“ deutscher Medien dokumentieren, wie es in der Eigenbeschreibung heißt. Vage Sprache eignet sich eben auch für Sensationsjournalismus, weil sie es ermöglicht, Übertreibungen zu verschleiern und unrealistische Vorstellungen hervorzurufen. Andererseits verzichten die entsprechenden Blätter oft auf vage Formulierungen, wo sie eigentlich zur Kenntlichmachung ungesicherter Informationen angebracht wären und präsentieren diese stattdessen als Fakten.
Nach Auffassung von Grice (1967) müssen Präzision und Vagheit im richtigen Verhältnis zueinander stehen, um angemessene Sprachbeiträge zu ergeben. Er geht davon aus, dass kompetente Sprecher sich unter normalen Umständen an die sogenannte Quantitätsmaxime halten, wonach ein Gesprächsbeitrag genau so informativ wie nötig gestaltet werden soll, aber nicht informativer. Scheint diese Maxime verletzt zu sein, weil anscheinend zu viel oder zu wenig gesagt wurde, nimmt der Empfänger der Botschaft an, dass eine zusätzliche Botschaft erschlossen werden soll (Implikatur). Ob die Maxime verletzt wurde, ist allerdings nicht immer leicht zu erkennen.
Welches das richtige Maß von Präzision und Vagheit ist, kann nur im konkreten Fall, unter Berücksichtigung aller Informationen, entschieden werden. Es hängt von verschiedenen Faktoren ab, zu denen neben der reinen Sachlage auch äußere Umstände der Textentstehung gehören können, wie Vorgaben des Verlags oder die politische Situation in einem Land. Da das richtige Maß nicht vollständig objektivierbar ist, spielt zudem die innere Haltung der urteilenden Person eine Rolle. Sie wird z. B. von der Ausbildung abhängen und kann auch vom Zeitgeist geprägt sein.
Aber wie groß ist die Wirkung dieser sachfremden Einflüsse? Wie viel Vagheit ist normal und wie viel ist politisches Kalkül oder Stil? Ohne äußere Einflüsse wäre zu erwarten, dass das Vagheitsniveau sich im statistischen Mittel ausgleicht und somit konstant bleibt. Wenn aber festgestellt werden kann, dass es sich auch im Mittel verändert, muss dies ein Hinweis auf die Bedeutung textunabhängiger Einflüsse sein. Ein Vergleich von Texten aus verschiedenen Zeitperioden kann Aufschluss darüber geben, in welchem Umfang sich der Vagheitsgrad in der Realität verändert. Je nach Menge und Zusammenstellung dieser Texte muss es zudem möglich sein, größere, überindividuelle Tendenzen zu erkennen.
Westin (2002) beleuchtet die Frage nach der Veränderlichkeit von Vagheit am Rande ihrer quantitativen Korpusanalyse für die englische Zeitungssprache. An einem Korpus von Leitartikeln aus drei angesehenen Londoner Zeitungen untersucht sie die Entwicklung verschiedener stilistischer Parameter über die Dekaden des 20. Jahrhunderts. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Frequenz von Vagheitsmarkern im Lauf der Zeit leicht abgenommen hat, wodurch die Sprache insgesamt präziser geworden sei. Partington (2010) weist aber darauf hin, dass die zehn untersuchten Subkorpora, mit je ca. 50.000 Wörtern, relativ klein sind. Ungerer (2006) macht ebenfalls deutlich, dass er sich größere Stichproben gewünscht hätte, obwohl Westin die statistische Signifikanz ihrer Ergebnisse belegt.
Duguid (2010) stellt bei einem Vergleich britischer Tageszeitungen von 1993 und 2005 fest, dass die Frequenz lexikalischer Vagheitsmarker im späteren Korpus um 45,7% höher ist. Die verwendeten Korpora sind mit rund 100 bzw. 145 Millionen Wörtern wesentlich größer als Westins und enthalten nicht nur Leitartikel, sondern komplette Ausgaben von Guardian, Telegraph und Times. Da die Studien der beiden Forscherinnen verschiedene Zeiträume abdecken und unterschiedliche Vagheitsmarker untersuchen, sind ihre Ergebnisse allerdings nicht direkt vergleichbar. Es fällt aber auf, dass Duguid eine deutliche Zunahme feststellt, während Westin eine leichte Abnahme registriert.
Eine vergleichbare Untersuchung von Zeitungen des deutschen Sprachraums gibt es bisher nicht. In dieser Arbeit gehe ich deshalb der Frage nach, welche Entwicklungen es bei der vagen Sprache in deutschsprachigen Zeitungstexten gegeben hat. Dabei konzentriere ich mich, wie Westin, auf das 20. Jahrhundert. Ich beschränke mich aber nicht auf Leitartikel, sondern beziehe eine breitere Palette journalistischer Formen ein, um fundiertere Schlüsse auf die Presse als Ganzes ziehen zu können. Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht die Quantifizierung und vergleichende Betrachtung der Vagheit von Korpora deutschsprachiger Zeitungstexte aus den zehn Dekaden des vergangenen Jahrhunderts. Die Ergebnisse zeigen, wie sich der Vagheitsgrad im Lauf der Zeit entwickelt hat und wie groß die Schwankungsbreite innerhalb des ereignisreichen 20. Jahrhunderts ist. So ist es möglich, einerseits allgemein den Einfluss historischer Umstände auf die Vagheit der Zeitungssprache einzuschätzen und andererseits etwas über sprachliche Eigenheiten vergangener Zeiten zu erfahren. Mittelbar können dadurch auch konkrete Texte aus diesen Zeiten besser im zeitlichen Kontext gesehen werden. Nicht zuletzt bilden die Daten eine Grundlage für den Vergleich mit anderen Zeiträumen und literarischen Genres, sowie für die Einschätzung der Vagheit beliebiger Schriftwerke.
Die Ausarbeitung erfolgt in zwei wesentlichen Schritten. Im ersten Schritt werte ich die einschlägige linguistische Literatur aus, um zu einer funktionalen Definition von Vagheit zu gelangen, welche mir ermöglicht, die konkreten sprachlichen Elemente zu ermitteln, die als Vagheitsmarker fungieren. Im zweiten Schritt erhebe ich, im Rahmen einer Korpusanalyse am Kernkorpus des 20. Jahrhunderts des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS), Daten zur Frequenzentwicklung dieser Elemente. Die Daten werte ich anschließend gesammelt aus, und damit meine Ausgangsfragen zu beantworten.
II. Theorie und Methoden
Den Ausgangspunkt meiner Untersuchung bildet die einfache, ungerichtete Hypothese, dass das mittlere Vagheitsniveau der Zeitungssprache sich im Verlauf eines Jahrzehnts signifikant verändern kann. Um diese allgemeine Hypothese zu überprüfen, untersuche ich konkret, wie sich die Vagheit deutscher Zeitungstexte im 20. Jahrhunderts entwickelt hat, indem ich ihr Niveau für verschiedene Zeiträume messe und die Ergebnisse gegenüberstelle.
Da das Vagheitsniveau (bzw. der Vagheitsgrad, oder einfach die Vagheit) von Texten keine direkt messbare Größe ist, muss ich diesen Parameter zuvor so operationalisieren, dass er als Variable in einen statistischen Hypothesentest einfließen kann. Ausgehend von grundlegenden Begriffsbestimmungen arbeite ich dazu in diesem Kapitel eine geeignete Definition sowie passende Indikatoren heraus.
1. Untersuchte Kollektive
1.1. Vage Sprache
Am Anfang steht die Frage, was als vage Sprache im Sinn der Hypothese verstanden werden kann. Ich möchte sie so konkret wie möglich, in Form greifbaren sprachlichen Materials, beantworten, um sie damit für quantitative Untersuchungen zugänglich zu machen. Gesucht sind also Wörter oder Formulierungen, in denen sich Vagheit zeigt. Um sie zu finden, muss ich jedoch erst grundlegend klären, was Vagheit ist und ob die Annahme gerechtfertigt ist, dass sie eine Eigenschaft der Sprache darstellt.
1.1.1. Vagheit als Eigenschaft von Sprache
Wenn Vagheit das Gegenteil von Präzision ist, ist vage Sprache das Gegenteil von präziser Sprache. Aber was bedeutet das? Präzision, oder Genauigkeit, ist, allgemein gesagt, die Wiedergabetreue einer Repräsentation. Sie besteht aus Faktoren wie Gründlichkeit, Sorgfalt und Realitätsnähe. In den exakten Wissenschaften kann sie sich zum Beispiel auf die Qualität einer Messung beziehen und gibt dann an, wie gut die ermittelten Zahlen die gemessene Wirklichkeit abbilden. Übertragen auf Sprache heißt das, dass präzise Sprache eine gute und vollständige Repräsentation der Realität darstellt, was im Umkehrschluss bedeutet, dass vage Sprache ihrem betreffenden Gegenstand weniger gut und vollständig entspricht. Diese Vorstellung enthält implizit den Gedanken, dass die Welt selbst grundsätzlich genau ist und die Dinge in ihr über exakte Grenzen verfügen.
Diese sogenannte epistemische Sichtweise sieht Vagheit als Form der Unwissenheit an (vgl. z. B. Williamson 1999). Epistemiker sind der Meinung, dass eine vage Aussage wie „Angela ist schlank“ auch in Grenzfällen eindeutig wahr oder falsch sein muss. Man wisse nur nicht, wie die korrekte Antwort lautet. Es müsse demnach eine scharfe Trennlinie zwischen schlank und nicht schlank geben, von der wir nur nicht wissen, wo genau sie verläuft.
Im Widerspruch hierzu steht die Annahme ontischer bzw. metaphysischer Vagheit, die z. B. Evans (1999) diskutiert. Danach kann argumentiert werden, dass nicht die Sprache vage ist, sondern die besprochenen Objekte selbst. Beispielsweise verfügen Wolken und Berge über unbestimmte räumlich-zeitliche Ausdehnungen und könnten deshalb als vage Objekte angesehen werden. Die herrschende Meinung lehnt metaphysische Vagheit jedoch ab (vgl. Keefe, Smith 1999). Wie Channell (1994) richtig bemerkt, verlagert diese Sichtweise ein linguistisches Problem lediglich in den außerlinguistischen Bereich. Weiter verbreitet, und m. E. zutreffend, ist die Ansicht, dass Vagheit linguistischer Natur ist (vgl. Merricks 2001). Dies verträgt sich mit dem Epistemizismus, für den sich in der Sprache unsere Unwissenheit spiegelt.
Auch Vertreter des Supervaluationismus (z. B. Fine 1975) lehnen vage Objekte ab. Nach ihrer Theorie resultiert Vagheit aus einer semantischen Unentschlossenheit, was z. B. schlank genau bedeutet. Vage Aussagen verfügten demnach schlicht über keinen Wahrheitswert, weshalb es auch unmöglich sei, ihre Wahrheit zu kennen (vgl. Sorensen 2013). Zwischen den beiden Wahrheitswerten wahr und falsch gebe es eine Lücke. Diese ließe sich nur schließen, indem man die Aussage präzisiert. Eine Präzisierung wäre allerdings willkürlich, weil immer auch andere Präzisierungen möglich sind. Falls eine Aussage jedoch für alle Präzisierungen wahr (bzw. falsch) wäre, wäre sie superwahr (bzw. superfalsch) (vgl. Keefe, Smith 1999: S. 23). Fine (1975) sieht diese Theorie im Einklang mit der klassischen, bivalenten Logik.
Es wäre auch vertretbar, die Lücke zwischen den Wahrheitswerten als einen eigenständigen, dritten Wert zu betrachten (z. B. unbestimmt). Das Ergebnis wäre eine dreiwertige Logik, mit weitreichenden Konsequenzen für logische Operationen. Manche Autoren schlagen sogar eine Logik mit unendlich vielen Werten vor (z. B. Zadeh 1965). Darin werden Wahrheitswerte in der Regel mit einer Zahl zwischen 0 und 1 angegeben, wobei 0 für falsch und 1 für wahr steht und mit den Werten dazwischen (z. B. 0,7) der genaue Grad einer Zuordnung angegeben werden kann. Dass diese sogenannte Fuzzylogik in der Linguistik durchaus eine gewisse Erklärungskraft entfaltet, zeigen Lakoffs (1973) Ausführungen zu Heckenausdrücken.
Abgesehen von der wenig überzeugenden Theorie ontischer Vagheit, betrachten alle Theorien Vagheit als eine Eigenschaft der Sprache. Uneinigkeit scheint aus philosophischer Perspektive lediglich über die Fragen zu bestehen, ob vage Sprache aus unserer Unwissenheit oder einer zu geringen Bestimmtheit resultiert, sowie welche Wahrheitskonditionen sich für ihre Analyse eignen. Ich halte daher die Vorgehensweise, Vagheit in sprachlichen Ausdrücken zu suchen, für gerechtfertigt.
1.1.2. Definition
„Vagueness is all about the meaning and function of language“ (van Deemter 2010: S. 95). Innerhalb der linguistischen Lehre hat sie ihren Platz deshalb in der Semantik und Pragmatik. Klassische semantische Theorien sehen sie oft als „deficiency of meaning“ (Fine 1975: S. 265) und „problem about the meaning of linguistic expressions“ (van Rooij 2005: S. 3), weil sie keine genauen Wahrheitskonditionen erlaubt. Treffender erscheinen mir jedoch die weniger wertenden Beschreibungen, dass ihre Bedeutung semantisch „under-determined“ (Fine 1975: S. 266) und an den Rändern unscharf (fuzziness) sei. Positiv formuliert kann man sagen, dass die Denotation vager Wörter flexible Grenzen hat (vgl. Löbner 2003: S. 62), wodurch sie tolerant gegenüber kleinen Veränderungen in den bezeichneten Objekten ist (vgl. Wright 1975). Die Bedeutung vager Prädikate ist damit „eine Frage des Grades auf einer offenen Skala“ (Löbner 2003: S. 63).
Pragmatische Ansätze betonen oft die Funktionen: Rowland (2007: S. 94) argumentiert, „vagueness is not a deficiency, but an essential ingredient of communicative competence“ und Jucker et al. (2003) erkennen in ihr eine „interactional strategy“ und ein „focusing device“, das Hörern bei der Beurteilung der Wichtigkeit einzelner Informationsbestandteile helfe. Zhang (2011) betont ebenfalls die strategische Bedeutung und definiert vage Sprache über ihre „strategic elasticity“, die darin besteht, die Sprache den jeweiligen kommunikativen Bedürfnissen anzupassen.
Van Rooij (2005) bezieht sich auf Wright und definiert: „A expression is vague, or has a tolerant meaning, if it is insensitive to small changes in the objects to which it can be meaningfully predicated.“ (ebd.: 1). Für Drave (2001: S. 25) ist vage Sprache „that which modifies a linguistic item, phrase or utterance to make its meaning less precise“.
Channells (1994) einflussreiche Definition verfolgt einen gemischt semantisch-pragmatischen Ansatz. Sie besteht aus drei Kriterien. Danach ist ein Wort oder Ausdruck vage, wenn
a. it can be contrasted with another word or expression which appears to render the same proposition;
b. it is ‚purposely and unabashedly vague’;
c. its meaning arises from the ‚intrinsic uncertainty’ referred to by Peirce
Ich werde in dieser Arbeit folgende, vereinheitlichende Definition verwenden, die auf den Arbeiten von Channell, van Rooij und Drave basiert:
Ein sprachlicher Ausdruck ist vage, wenn er Aussagen hinzugefügt werden kann, um sie unempfindlich zu machen, gegenüber kleinen Änderungen an den Objekten, auf die sie sinnvoll bezogen werden können.
1.1.3. Abgrenzung
Um zu verdeutlichen, worauf sich meine Definition erstreckt, erläutere ich kurz, von welchen ähnlichen Phänomenen ich Vagheit unterscheiden möchte.
Vagheit wird oft mit Ambiguität verwechselt, denn auch ambige Aussagen lassen verschiedene Interpretationen zu. Ihre Bedeutung ist aber nicht unscharf, sondern mehrdeutig. Die Interpretation ist keine Frage des Grades auf einer offenen Skala, sondern eine Wahl zwischen distinkten Möglichkeiten. Ambiguitäten existieren auf lexikalischer und syntaktischer Ebene. Lexikalische Ambiguität entsteht durch Homonymie, d. h., durch Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung aber identischer phonetischer Realisierung. Zhang (1998) definiert lexikalische Ambiguität und Homonymie gleichermaßen als sprachlichen Ausdruck, der mehrere, semantisch nicht zusammenhängende, Bedeutungen hat und, im Gegensatz zu Vagheit, überdeterminiert ist.
Van Rooij (2005) vergleicht den Kontrast zwischen Ambiguität und Vagheit auf der Ebene einzelner Wörter mit dem Unterschied zwischen Homonymie und Polysemie. Damit setzt er Polysemie indirekt mit Vagheit gleich. Löbner (2003) hingegen wertet Polysemie, genauso wie Homonymie, als eine Form lexikalischer Ambiguität. Nach meiner Auffassung ist Polysemie weder unter Vagheit noch unter Ambiguität subsumierbar. Mich überzeugt Tuggys (1993) Darstellung, die Polysemie auf einer Zwischenstufe ansiedelt:
traditional definitions [...] have lexical ambiguity (or homonymy) as involving two lexemes, polysemy a single lexeme with different distinct senses, and vagueness a lexeme with a single but non-specific meaning, [...] Thus polysemy is a sort of halfway point between ambiguity and vagueness. (ebd.: 275)
Er beschreibt das Verhältnis der Begriffe als eine Art Kontinuum mit fließenden Übergängen, bei dem die Differenz zwischen den möglichen Interpretationen von links nach rechts abnimmt:
lexikalische Ambiguität (Homonymie) → Polysemie → Vagheit
Tuggy zeigt auch, dass es schwierig sein kann, die einzelnen Konzepte zu unterscheiden, weil z. B. die gängigen Tests zur Unterscheidung von Ambiguität und Vagheit (vgl. z. B. Lakoff 1970) widersprüchliche Antworten liefern können, wenn man den Kontext variiert. Im Ergebnis gelangt er zu der Einsicht, dass Ambiguität, Polysemie und Vagheit zwar eigenständige Phänomene seien, zwischen denen aber Mischformen existierten. Da meine Definition von Vagheit enger gefasst ist, als die von Tuggy, rechne ich jedoch nicht mit Problemen bei der Abgrenzung im Einzelfall.
Ebenfalls mit Vagheit verwandt, aber nicht identisch, ist Allgemeinheit (generality). Allgemeine Wörter sind nicht vollkommen spezifisch, sondern lassen Teile der Bedeutung ungeklärt. Ihr vollständiger Sinngehalt kann nur im Kontext bestimmt werden.
For example: the meaning of city is general because it does not specify whether or not a city is big or small, modern or ancient. My friend is general, as it could mean a female friend, a male friend, or a friend from New Zealand. (Zhang 1998)
Gelegentlich werden Vagheit und Allgemeinheit auf eine Stufe gestellt, aber van Rooij (2005: S. 4) macht auf einen wesentlichen Unterschied aufmerksam:
In contrast to vague sentences, however, general sentences have determinate truth conditions, and do not pose a threat to truth conditional semantics.
Man kann zusammenfassend sagen, dass vage Wörter in der Regel auch allgemein sind, während umgekehrt nicht jeder allgemeine Ausdruck auch vage ist.
Zuletzt möchte ich Vagheit von Nichtentscheidbarkeit (undecidability) abgrenzen. Nicht entscheidbare Aussagen ähneln vagen Aussagen insofern, dass der Hörer ihre Gültigkeit nicht abschließend ergründen kann. Der Grund liegt aber nicht in sprachlicher Ungenauigkeit, sondern in der Begrenztheit des möglichen Wissens. So ist beispielsweise die Aussage ‚es gibt unendlich viele Primzahlzwillinge’ mit begrenzten Ressourcen nicht entscheidbar (vgl. Fine 1999: S. 266). Sie ist aber nicht vage im Sinne meiner Definition.
Den gelegentlich in der Literatur anzutreffenden Begriff Fuzziness betrachte ich nicht als eigenständiges Konzept, sondern als Synonym von Vagheit.
1.1.4. Operationalisierung
Nachdem ich den Begriff vage Sprache theoretisch ein- und abgegrenzt habe, werde ich ihn nun so modellieren, dass er mit den Mitteln einer quantitativen Korpusanalyse untersucht werden kann. Dass ein solcher Schritt mit einer gewissen Reduktion einhergeht, ist unvermeidlich, denn kein Modell kann einen beschriebenen Gegenstand vollständig abbilden. Unter dieser Maßgabe operationalisiere ich vage Sprache als abgeschlossene Liste konkreter vager Ausdrücke. Dazu sehe ich mir zuerst an, welche Kategorien vager Sprache es gibt und entscheide, welche davon für Zeitungstexte relevant sein könnten. Anschließend bestimme ich für jede Kategorie passende Vertreter und fasse sie in der Liste zusammen. Bei der Kategorisierung orientiere ich mich an Channell (1994: S. 18–19). Dort ist aufgeschlüsselt, welche Formen sprachlicher Realisierungen theoretisch als Vagheit verstanden werden können:
(1) Vagheit durch Hinzufügen (Vague additives)
(2) Vagheit durch vage Wörter (Vagueness by choice of vague words)
(3) Vagheit durch Implikatur (Vagueness by implicature)
(4) Vagheit durch Auslassen (Vagueness by omission)
(5) Vagheit durch Einschränkung (shields)
Vagheit durch Hinzufügen (1) liegt vor, wenn einer grundsätzlich präzisen Aussage lexikalische Elemente hinzugefügt werden, durch die sich eine vage Lesart ergibt, z. B. „A team of around ten people“ oder „a little bit of stone or something like that“ (beide ebd.: 18). Channell unterscheidet hier zwei Unterformen: (a) in Kombination mit Zahlen und (b) um eine kategoriale Zuordnung vage zu machen. Wie das zweite Beispiel zeigt, handelt es sich bei (b) um eher informelle linguistische Strukturen, die der gesprochenen Sprache zuzuordnen sind. Ich werde sie deshalb hier nicht weiter berücksichtigen. Für die Untersuchung relevant sind aber Vertreter der Form (a), da sie in Zeitungstexten regelmäßig zur näherungsweisen Angabe von Zahlenwerten verwendet werden. Ich nehme sie deshalb, als Kategorie Zahlen-Approximatoren, in die Untersuchung mit auf.
[...]
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