Abseits (existieren) und Widerstand (denken). Versagen von Bildungs- und Erziehungsgrundsätzen im Nationalsozialismus
anahnd der Autobiographie Peter Brückners
Zusammenfassung
Der umfassende Besitzanspruch der in diesen Worten zum Ausdruck kommt, gehört zu den greifbarsten Charakteristika des Nationalsozialismus, dem sich die deutsche Jugendgeneration der Zwanziger und Dreißiger Jahre ausgesetzt sah. Einer dieser Jugendlichen war Peter Brückner. Dessen Autobiographie ‚Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945‘ schildert den zunehmenden Zugriff des Regimes in die Bildung und in weite Lebensbereiche der Jugendlichen, sowie die vereinzelten Versuche sich diesem Zugriff zu entziehen.
„Wie bildet sich ein Antifaschist im Wildwuchs [...]“ fragte Brückner rückblickend, und „[…] wie wird aus ihm später eine politische Existenz?“ Diese spezielle politische Existenz ist im Bezug zu Peter Brückner eine Kernfrage, die den Hintergrund, die Intention und den Zweck seiner Autobiographie erhellt.
Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Autobiographie als Quelle für den Nationalsozialismus
3. Peter Brückner zwischen Nationalsozialismus und Deutschem Herbst
3.1. Der Staats- und Systemkritiker
3.2. Aufbau und Struktur der Autobiographie Brückners
4. Das Abseits als sicherer Ort
5. Ergebnisse und Fazit der Untersuchung
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Hier ist das jüngste Deutschland der Reinen und Reifenden, hier ist unsere Zukunft und unser Schicksal“, schrieb 1934 der Reichsjugendführer Baldur von Schirach in einem Geleitwort zu Heinrich Hoffmans Bildband „Jugend um Hitler“. In dessen Zuge beschwor er die völlige Ergebung einer nationalsozialistischen Jugend zu Adolf Hitler. So folgerte von Schirach weiter, dass „[...] hier noch ein anderes [ist], das kein Gesetz befehlen, kein Staatsmann kommandieren kann: die Liebe der Jugend. Kein Deutscher hat in solchem Ausmaß die Jugend wirklich besessen wie der Führer.“1
Der umfassende Besitzanspruch der in diesen Worten zum Ausdruck kommt, gehört zu den greifbarsten Charakteristika des Nationalsozialismus, dem sich die deutsche Jugendgeneration der Zwanziger und Dreißiger Jahre ausgesetzt sah. Einer dieser Jugendlichen war Peter Brückner. Dessen Autobiographie ‚Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945‘ schildert den zunehmenden Zugriff des Regimes in die Bildung und in weite Lebensbereiche der Jugendlichen, sowie die vereinzelten Versuche sich diesem Zugriff zu entziehen.
Die Vereinnahmung der Jugend, z.B. durch Jugendorganisationen, war und ist kein neues Phänomen, geschweige denn war sie mit der Hitlerjugend eine Erfindung des Nationalsozialismus. Erste Konzeptionen und Institutionen entstanden in Deutschland schon Ende des 19. Jahrhunderts zur Zeit des Kaiserreichs.2 Nach dem Ersten Weltkrieg begann erneut das Ringen um eine vorerst ‚überflüssig‘ gewordene Jugendgeneration. Im Zeitgeist der Weimarer Republik wurde von verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Strömungen das ‚Jugendproblem‘ als Kontrollproblem empfunden, dem mit geeigneter staatlich initiierter Militarisierung, Programmatik oder Organisation entgegenwirkt werden sollte.3 Mit dem Verbot der katholischen Jugend 1938 blieb am Ende dieser Entwicklung nur noch eine politisch-ideologische Ausrichtung, die der Hitlerjugend, übrig.
Der Nationalsozialismus, speziell die Jugend unter Hitler, ist ein weitreichend erforschtes Feld mit einer Vielzahl von Quellen und Publikationen.4
Jedoch lag und liegt der wissenschaftliche Fokus in all seinen Facetten vornehmlich auf quellenbasierten Interpretationen und bloßen Darstellungen des Nationalsozialismus oder auf Entwicklungslinien, die zu den unfassbaren Folgen des NS-Regimes geführt haben.
Bereits unmittelbar nach dem Krieg nahmen Autobiographien in der gesamten Bandbreite der Forschung stets eine Sonderstellung ein. Unabhängig davon ob es nun die Schwierigkeit ist, Einzelschicksale in einen größeren Kontext einzuordnen oder die unsichere Aussagekraft von Autobiographien zu bewerten, der Forschungsansatz bleibt entscheidend für die wissenschaftliche Arbeitsweise. Aus diesem Grund wird im ersten Abschnitt dieser Arbeit zunächst die Autobiographie als Quelle im Spannungsfeld zwischen Geschichts-, Literatur- und Erziehungswissenschaft untersucht um diese Sonderstellung für die Autobiographie Peter Brückners aufzulösen.
„Wie bildet sich ein Antifaschist im Wildwuchs [...]“ fragte Brückner rückblickend, und „[…] wie wird aus ihm später eine politische Existenz?“5 Diese spezielle politische Existenz ist im Bezug zu Peter Brückner eine Kernfrage, die den Hintergrund, die Intention und den Zweck seiner Autobiographie erhellt. Der Entstehungszeitraum des Werkes und der Zeitpunkt der Veröffentlichung schlagen eine Brücke zur Gegenwart des Autors und stellen einen weiteren Schwerpunkt dieser Arbeit dar. Abschließend werden am Beispiel der Autobiographie, zum einen der Aufbau und zum anderen spezielle Aussagen analysiert, um wesentliche Hinweise für den Bildungs- und Politisierungsprozess Brückners herauszustellen.
Die nachfolgende Untersuchung verfolgt nicht den Anspruch einer vollständigen Darstellung der Autobiographie Brückners oder neue Sachverhalte über Jugend im Nationalsozialismus zu formulieren. Vielmehr soll sie anhand der Kernaussagen das persönliche Bildungsschicksal Brückners darstellen und wesentliche Merkmale seiner Jugend im Nationalsozialismus vermitteln.
2. Die Autobiographie als Quelle für den Nationalsozialismus
Autobiographische Schriften wie z.B. ‚Abrechnung mit Hitler‘ von Dr. Hjalmar Schacht oder Albert Speers ‚Erinnerungen‘ fanden in der Geschichtswissenschaft aufgrund der Nähe zu Hitler große Beachtung. Dabei hat die Erforschung des Widerstands der Bevölkerung, vornehmlich der bildungsintendierte ‚aktive‘ Widerstand wie u.a. die Weiße Rose oder Einzelschicksale der Sozial- und Alltagsgeschichte erst zeitversetzt begonnen und anfangs nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Das besondere Problem der Erforschung dieses speziellen Widerstandes kann man mit zwei vornehmlichen Problemstellungen erklären. Spätestens nach Kriegsende bestand ein großes Interesse daran, „sich als ‚Widerständler‘ auszuweisen, um den Sühnebestimmungen des Gesetzes zu entgehen. Die Zahl der ‚Widerständler‘ wuchs von Tag zu Tag lawinenartig an. Namentlich am 20. Juli 1944, dem Tag des Attentats, wollte jeder beteiligt gewesen sein.“6 Die aus einem Rechtfertigungsbestreben heraus resultierende Unübersichtlichkeit führte zur zweiten Problemstellung: dem definitorischen Problem des Widerstandes bzw. der Bewertung des Widerstandes.
Besonders bezüglich des Bildungssystems des Nationalsozialismus, dem sich diese Arbeit über die Autobiographie Peter Brückners nähern will, stellt sich die Frage, wann beginnt Widerstand? Ist der gedankliche Widerstand schon ein Widerstand a priori oder muss dem im speziellen Fall des Nationalsozialismus eine bestimmte Aktivität folgen, um eine entsprechende Wertigkeit zu erzielen?
Michel Foucault schreibt in diesem Zusammenhang im Zeitgeist der 70er Jahre, dass der gedankliche Widerstand Kämpfe um Subjektivitäten sind, die den Status des Individuums in Frage stellen und sich gegen alles wenden, „was das Individuum zu isolieren und von den anderen abzuschneiden vermag, was die Gemeinschaft spaltet, was den Einzelnen zwingt, sich in sich selbst zurückzuziehen, und was ihn an seine eigene Identität bindet.“7 Also ein Abseits, dass Peter Brückner für sich selbst als einen sicheren Ort bezeichnete. Demgegenüber schrieb Eugen Kogon, ein Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald, dass „alles, was sie zu leisten vermochten, [...] dem Regime zugute [kam], auch wenn sie mit ihm nicht einverstanden waren (in manchem und vielem waren sie bei allem innerlichen Widerstand wohl einverstanden) [...]“, denn „[...] Freiheit und Recht als absolute Werte [waren] ihnen kein Zentralproblem.“8 So ist für Kogon die Summe von Schwächen, Unterlassungen oder Opportunismus ein Teil individueller Schuld.
Die beschriebene Ambivalenz zwischen Schuldfragen und Widerstandsbestrebungen sind bei Sachfragen um den Nationalsozialismus kaum aufzutrennen und eine allgemeine Akzeptanz wann Schuld endet und Widerstand beginnt ist definitorisch kaum zu erreichen.
Aus diesem Grund ist die Annäherung über alltagsbeschreibende Autobiographien eine gute Möglichkeit neue Blickwinkel zum Nationalsozialismus einzunehmen. Spätestens wenn es sich um Kinder und Jugendliche handelt, muss man von statischen Erklärungsmustern Abstand nehmen, da sich hier nicht eine Schuldfrage stellen kann. Aussagekräftiger sind die Erkenntnisse, wie und unter welchen Umständen ein Jugendlicher im Nationalsozialismus, trotz des totalen Besitzanspruches, Widerstand entwickeln und ggf. zeigen konnte und welche Gefahren damit einhergingen.
Die besondere Herausforderung einer autobiographischen Quelle liegt in ihrer interdisziplinären Nutzung und den daraus folgenden, sich zum Teil widersprechenden Interpretationsmustern, zumal sich die verschiedenen Forschungsdisziplinen mal mehr und mal weniger aufgeschlossen zueinander zeigen. So ist in der Geschichtswissenschaft bislang ungeklärt, welche Quellensystematik, also die Einordnung in u.a. Tradition, Überrest oder Selbstzeugnis, einer Autobiographie eigentlich zugrunde liegt.9 Ähnlich verhält es sich in der Literaturwissenschaft, da es sich im Fall einer Autobiographie um keine eigene Textgruppe und den ihr zugehörigen Textmerkmalen handelt. So identifizierte die Germanistin Wagner-Egelhaaf die „Autobiographie als ein hybrides Genre, das zwischen literarischem Text und historischem Dokument angesiedelt sei und [die Autobiographie] in der Literaturwissenschaft allgemein eine Randposition einnehme, weil [sie] sich nicht so ohne weiteres in die traditionellen Großformen Epik, Lyrik und Dramatik einfügen lasse.“10 Die inhaltlichen Konflikte innerhalb und zwischen den Disziplinen zeigen deutlich, wie sehr die Analyse und Beurteilung einer Autobiographie vom Untersuchungsgegenstand abhängt und welcher wissenschaftliche Blickwinkel die Deutungshoheit im speziellen Fall zugewiesen bekommt.
Wilhelm Dilthey erkannte Anfang des 20. Jahrhunderts in der Selbstbiographie das Fundament aller Geisteswissenschaften und sorgte für eine Neubelebung eines hermeneutischen Ansatzes für diese Art historischer Quelle.11 Für die Erziehungswissenschaft hat Jürgen Henningsen drei eher auf Sachverhalte basierende Merkmale für die Analyse einer Autobiographie zusammengefasst, die dieser Arbeit die methodische Struktur vorgeben. Neben der reinen erziehungswissenschaftlichen Quelle liegt der Fokus, nach der Methodik von Henningsen, auf dem sprachlich gestaltetem Bildungsschicksal und der Intention einer Bildungsfunktion der Autobiographie.12
Besondere kritische Sorgfalt erfordert Henningsens Wertung bezüglich des Verhältnisses von autobiographischer Aussage zu Aussagen empirischer Methodik. Obwohl sich beide Aussagen gegenseitig bedingen, kann die Überbetonung der autobiographischen Aussage schnell zu einem Kunstgriff werden, der in unzulässigem Maße Relativierungen zu Gunsten einer Subjektivität oder der Bildungsintention duldet.13
Eine weitere Schwierigkeit autobiographische Aussagen wissenschaftlich zu verwerten liegt in ihrem Quellencharakter. Der Wahrheitsgehalt der Aussagen ist in der Regel nicht nachweisbar. Wolfgang Klafki weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass autobiographische Aussagen rückschauend interpretierende Rekonstruktionen sind14 und kommt zu dem Schluss, dass es „nur ein Korrektiv [gibt]: den Willen des Autobiografen zur persönlichen Wahrhaftigkeit. Aber dieses Korrektiv bleibt an die berichtende Person gebunden, es [sic!] läßt sich nicht in die Form einer intersubjektiv überprüfbaren Methodik übersetzen.“15 Aus diesem Grund werden die von Klafki skizzierten Fragestellungen, z.B. nach den objektiven Bedingungen und der Bedeutung der Erfahrungen u.a.,16 in den folgenden Kapiteln helfen, Henningsens Methodik schärfer zu akzentuieren und den Hintergrund von Peter Brückners Autobiographie darzustellen.
3. Peter Brückner zwischen Nationalsozialismus und Deutschem Herbst
Peter Brückner, Jahrgang 1922, veröffentlichte 1980, zwei Jahre vor seinem Tod, seine Kindheits- und Jugenderinnerungen, die den Zeitraum zwischen seiner Geburt bis zum Kriegsende 1945 umfassen. Die Einordnung von Brückners Autobiographie in einen historischen Kontext ergibt zwei Sachverhalte. Die Autobiographie Brückners ist zum einen vornehmlich eine historische Quelle, die zusätzlich zum persönlichen Schicksal, umfassend über die allgemeine Sozialisation und die Bildungsprozesse im Nationalsozialismus informiert. Zum anderen ist sie eine rückschauende Konstruktion seiner Jugend, die über persönliche Erinnerungen hinaus, eine auf einer sozialpsychologischen Analyse beruhende Verschränkung mit dem Blickwinkel von 1980 ist. Die Psychologen Bruder und Bruder-Bezzel beschreiben Brückners Vorgehensweise und Methodik wie folgt: „[...] seine Art von politischer Psychologie, sein Ansatz der Analyse, unterscheidet sich von dem der meisten politischen Psychologen und politischen Theoretiker, und zwar in [sic!] 2erlei Hinsicht: 1. Brückner versucht zu verstehen und 2. er sucht nach Erklärungen in der Geschichte.“17
Zum besseren Verständnis des Inhaltes und des strukturellen Aufbaus der Aufzeichnungen ist es unerlässlich, zuerst Brückners Hintergrund um das Jahr 1980 zu beleuchten, um im weiteren Prozess die Kernaussagen seiner Autobiographie zu isolieren und grundsätzliche Fragestellungen zur Bildung, zur Inklusion und Exklusion von Jugendlichen im NS-Regime und letztlich die Prozesse des Widerstandsdenkens zu erläutern.
3.1. Der Staats- und Systemkritiker
Als Theoretiker des linken Spektrums analysierte Brückner vornehmlich die bürgerlichen Entwicklungs- und Soziologiestrukturen, sowie die Psychologie der politischen Kultur. Indem Brückner aber im Nachgang der Gewalteskalation des Deutschen Herbstes 1977 weiterhin das politische Mandat von Wissenschaft propagierte, Terrorismus thematisierte und das Gewaltmonopol des Staates kritisierte, rückte er in den Focus einer aufgeheizten medialen und politischen Auseinandersetzung. „Es ist an der Zeit, innere Monologe zu veröffentlichen“18, schrieb Brückner zur Mescalero-Affäre, die seine zweite Suspendierung verursachte. Der reflektierende Charakter steht in dieser Schaffensphase Brückners wesentlich im Vordergrund und bildet den ersten Verknüpfungspunkt zu seiner kurz danach veröffentlichten Autobiographie.
„Wenn ein Wissenschaftler Hochschullehrer, mithin Staatsbeamter und als solcher Objekt von Maßnahmen seines Dienstherrn wird, verdreifacht er sich: Er wird Person, wissenschaftlicher Produzent und Fall“,19 schrieben in kollegialer Solidarität die Wissenschaftler Krovoza, Oestmann und Ottomeyer, die in der Aufsatzsammlung ‚Über Peter Brückner‘ exemplarisch „den Versuch, die Wissenschaft dem [sic!] Definitionsmonopol von Politikern, Regierungs- und Verwaltungsjuristen zu unterwerfen“20 anprangerten, um darüber hinaus auf die andauernden Disziplinarverfahren und Suspendierungen Brückners hinzuweisen.
Die nachfolgenden Jahre bedeuteten nicht nur für Peter Brückner eine Zäsur. Die ganze linksorientierte Bewegung in ihren verschiedenen Strömungen galt als gescheitert und ihre Vertreter gerieten ins Abseits. Ein Abseits, das für Brückner einmal einen sicheren Ort darstellte; ein Abseits in dem eine innere Emigration stattfand. „Manchmal meine ich, als eine >öffentliche< Person [sic!] müßte ich wieder lernen zu schweigen. Lust des Schweigens“21 – eine Lust die Brückner in seiner Jugend gelernt hatte, nur mit dem Unterschied, dass er nicht als Heranwachsender in einem totalitären Regime, sondern als Wissenschaftler in einer Demokratie zum Schweigen verurteilt wurde.
Fragt man nach den Motiven Brückners – und nach dem ersten Hinweis auf die Bildungsintention in seiner Autobiographie –, so dürften die Entfremdung zu seiner Umgebung und die Parallelen zu seiner Jugend ausreichend erscheinen, jedoch verweist Oestmann auf die zu diesem Zeitpunkt gängige Praxis „tragikomische Selbstinszenierungen des unglücklichen [sic!] Bewußtseins“22 zu veröffentlichen. Ein weiterer Hinweis findet sich in Brückners Arbeiten, in denen er die Gewaltförmigkeit von Gesellschaften als Daseinstechnik von Herrschaft identifiziert23. Das Verhältnis von Individuen und Herrschaft ist ein beständiges Motiv in Brückners wissenschaftlichem Wirken, das in seiner Autobiographie als erlebtes Schicksal analysiert wird. Kernelement ist die Provokation, die für Brückner Züge des Anarchischen enthält – er bezeichnet sich in der Autobiographie selbst als anarchisches Kind24 – welche sich nicht nur gegen die Herrschaft selbst, sondern auch gegen die eigene Bezugsgruppe richtet, wenn sie die Herrschaft bereits verinnerlicht hat.25
Diese Hinweise machen deutlich, dass Brückners Autobiographie kein für sich alleinstehendes Werk über den Nationalsozialismus ist, sondern vielmehr eine Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit.
3.2. Aufbau und Struktur der Autobiographie Brückners
Brückner verfährt in seinen Beschreibungen chronologisch; seine feineren Unterteilungen innerhalb der Kapitel werden in dieser Arbeit zur besseren Übersicht auf drei Phasen, 1922 bis 1935, 1936 bis 1939 und die Kriegsjahre bis 1945 zusammengefasst. Das letzte Kapitel ‚Der Krieg: Rückblicke‘ wird dabei ggf. in den zeitlichen Kontext eingefügt bzw. in der Auswertung der Kernaussagen eine gesonderte Rolle spielen.
Auffallend ist an erster Stelle die Asynchronität der historischen Ereignisse und der erlebten Geschichte. Brückner beschreibt diesen Aspekt als einen transzendentalen Rahmen von Geschichte der die Lebensgeschichte einrahmt, denn die innere Lebensgeschichte zeigt sich nicht geschichtsfähig. Kindheit und Jugend folgen einer Abstraktion unabhängig von Geschichtsprozess; einem Rhythmus der weder geschichts- noch akkumulationsfähig ist.26 Vielmehr ist es, wie Brückner es nennt, das ‚Lebensthema‘, dass in einem geschichtlichen Rahmen stattfindet. Die Aussagekraft speist sich aus dem Sozialisationsprozess der Kinder und Jugendlichen im Nationalsozialismus und nicht an fixen Ereignissen, denn „der Krieg erschien uns als eine Fortsetzung genuin nationalsozialistischer Politik; sie ließ Menschen an einer ihnen aufgezwungenen Front oder im Konzentrationslager sterben.“27
Im Wesentlichen bildet das letzte Kapitel im Zusammenspiel mit dem ersten Kapitel ‚Ouvertüre‘ eine Klammer, zwischen denen sich der Sozialisationsprozess des Autors abspielt. So beschreibt er gleich zu Beginn, wie er schon als Einjähriger [!] im Kinderwagen ins Abseits rutscht, bzw. von Faschisten gedrängt wird und erst im Sommer 1945 mit Aufnahme in die KPD das Abseits wieder verlässt.28 Diese Klammer verbindet er, indem er seine eigenen Lebenserfahrungen im letzten Kapitel final analysiert, bewertet und mit Fragestellungen und Deutungsmustern der Gegenwart von 1980 abgleicht. Stilistisch wechselt Brückner dabei zwischen autobiographisch erzählend, ironisch beschreibend und politisch oder soziologisch analysierend.
[...]
1 Auszug aus dem Geleitwort Baldur von Schirach, aus: Hoffmann, Heinrich: Jugend um Hitler. 120 Bilddokumente aus der Umgebung des Führers; aufgenommen und zusammengestellt und herausgegeben, Geleitwort: Baldur von Schirach, Berlin, 1934.
2 Vgl. Peukert, Detlev J.K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main, 1987 (Edition Suhrkamp ; Neue Folge Band 282 ; Neue historische Bibliothek), S. 94. Vgl. hierzu auch Schubert-Weller, Christoph: Hitlerjugend. Vom „Jungsturm Adolf Hitler“ zur Staatsjugend des Dritten Reiches, Weinheim und München, 1993, S. 9 – 11.
3 Vgl. Peukert, S. 95 f.
4 Allein die Suchanfrage ‚Hitlerjugend‘ bei der Deutschen Nationalbibliothek ergab 1.872 Einträge (Stand: 22.01.2014) und zeigt nur den quantitativen Teil der Forschung.
5 Aus Brückner, Peter: Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945, Berlin, 1980, S. 138.
6 Schacht stellt in seiner Autobiographie eben diese Bedeutung des Widerstandes voran, um anschließend, obwohl ehemalige Führungsperson des NS-Regimes bis 1939, seine eigenen Widerstandsmotive darzulegen. Vgl. Schacht, Hjalmar: Abrechnung mit Hitler, Berlin und Frankfurt (M.), 1949, S. 152.
7 Foucault, Michel zitiert in Brieler, Ulrich: Foucault und 1968. Widerspenstige Subjektivitäten, in: Hechler, Daniel und Phillips, Axel (Hrsg.): Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht, Bielefeld, 2008, S. 19 – 38, das Zitat S. 29.
8 Aus Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, 14. Auflage, München, 1974, S. 417.
9 Vgl. Arbeitsgemeinschaft historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland e.V.: Autobiographie zwischen Text und Quelle. Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft im Gespräch; Interdisziplinärer Workshop organisiert von Volker Depkat (Institut für Anglistik und Amerikanistik, Universität Regensburg) und Wolfram Pyta (Historisches Institut, Universität Stuttgart) Regensburg, 16. Bis 17. November 2012, S. 2. URL: http://www.ahf-muenchen.de/Tagungsberichte/Berichte/pdf/2013/027-13.pdf, zuletzt aufgerufen am: 11.01.2014
10 Ebd.
11 Nach Dilthey sollen die Geisteswissenschaften drei Leistungsbereiche (Vorstellungs-, Gefühls- und Willensbereich) des Menschen und ihre Regelmäßigkeiten als gesellschaftlich auf einander bezogene individuelle Lebenseinheiten erfassen. Vgl. hierzu Son, Seung-Nam. Die Biographie als Zugang zum Menschenverstehen. Zum Ursprung pädagogischer Biographieforschung bei Wilhelm Dilthey, in Meyer, Meinert A., Reinartz, Andrea (Hrsg.): Bildungsgangdidaktik. Denkanstöße für pädagogische Forschung und schulische Praxis, Wiesbaden, 1998, S. 56 f.
12 Vgl. Henningsen, Jürgen: Autobiographie und Erziehungswissenschaft, Essen, 1981, S. 9 ff.
13 Vgl. ebd. S. 22 f., vgl. hierzu die allgemeine Kontroverse über die Wahrnehmung der Konzentrationslager in der deutschen Bevölkerung. In seiner eigenen Autobiographie postuliert Henningsen, dass die Konzentrationslager in der Bevölkerung allgemein bekannt waren. Zur Stützung dieser Aussage fordert er gleichzeitig eine empirische Untersuchung, wie häufig und in welcher Form in anderen Autobiographien diese Thematik behandelt wird. Damit widerspricht er seiner eigenen These, dass autobiographische Aussagen empirischen Tatsachen überlegen seien. Siehe dazu Henningsen, Jürgen: Vielleicht bin ich heute noch ein Nazi, in: Klafki, Wolfgang (Hrsg.): Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Weinheim und Basel, 1988, S. 214 f. und S. 226.
14 Vgl. Klafki, Wolfgang (Hrsg.): Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Weinheim und Basel, 1988, S. 9.
15 Ebd. S. 9.
16 Vgl. ebd. S. 10 f.
17 Arbeitskreis Psychologie und Postmoderne am Studiengang Psychologie der Freien Universität Berlin: Peter Brückner, vorgestellt von Almuth Bruder-Bezzel und Klaus-Jürgen Bruder, URL: http://web.fu-berlin.de/postmoderne-psych/texte/peter_brueckner.htm, zuletzt aufgerufen am: 14.01.2014.
18 Aus Brückner, Peter: Die Mescalero-Affäre. Ein Lehrstück für Aufklärung und politische Kultur, Hannover, 1977, S. 7.
19 Aus Krovoza, Alfred, Oestmann, Axel R., Ottomeyer, Klaus (Hrsg.): Zum Beispiel Peter Brückner. Treue zum Staat und kritische Wissenschaft, Frankfurt am Main, 1981, S. 7.
20 Ebd., S. 9.
21 Brückner in einem Brief an Oestmann 1979, zitiert in: Oestmann, Axel R.: Ironie und Faschismus, in: Krovoza, Alfred, Oestmann, Axel R., Ottomeyer, Klaus (Hrsg.): Zum Beispiel Peter Brückner. Treue zum Staat und kritische Wissenschaft, Frankfurt am Main, 1981, S. 132.
22 Ebd., S. 134.
23 Vgl. Brückner, Peter: Zur Sozialpsychologie des Kapitalismus, Reinbek bei Hamburg, 1972, S. 164.
24 Brückner, Peter: Das Abseits als sicherer Ort, S. 138.
25 Vgl. Arbeitskreis Psychologie und Postmoderne am Studiengang Psychologie der Freien Universität Berlin: Peter Brückner, zuletzt aufgerufen am: 14.01.2014. Vgl. hierzu auch den Hinweis Brückners, dass jemand, der nur sein Leben genießt schon eine mögliche Komplizenschaft zur Herrschaft eingeht, in: Brückner, Peter: Zur Sozialpsychologie des Kapitalismus, S. 164.
26 Vgl. Brückner, Peter: Das Abseits als sicherer Ort, S. 138 f.
27 Ebd., S. 139.
28 Vgl. ebd., S. 8 und S. 155.