Bis zum Mauerfall 1989, versuchten insgesamt ca. 370.000 Flüchtlinge der SED-Diktatur zu entkommen. Die Gründe hierfür waren vielschichtig, jedoch basierten sie fast alle auf der Unzufriedenheit mit der Herrschaftsweise des SED-Regimes. Doch nicht allen Flüchtlingen gelang ein erfolgreicher Weg in den Westen. Trotz der scharfen Kontrollen der Machthaber schafften wenige Menschen unter glücklichen Umständen die Flucht in die Freiheit, viele hingegen wurden erschossen, zahlreiche gefasst und gefangen genommen.
Es stellt sich die Frage: Was passierte mit denjenigen, welchen die Flucht misslang? Das Schicksal dieser Menschen war im DDR-System nicht sichtbar, da nach offiziellen Angaben der Regierung politische Flüchtlinge nicht existierten .
Umso schockierender erscheint die heute geschätzte Anzahl von ca 200.000 Bürgern, welche aufgrund ihrer Gegnerschaft zum SED-Regime inhaftiert und im Zeitraum von 1949 bis 1989 in den Untersuchungshaftanstalten der DDR gefangen gehalten wurden.
Unter ihnen waren nicht nur Fluchtwillige, sondern auch Fluchthelfer, und selbst einige Personen, die einen Antrag zur Ausbürgerung stellten, konnten mithilfe der undurchsichtigen Gesetzgebung der DDR mit bis zu 5 Jahren Haft verurteilt werden.
Ab 1962 gab es für die Gefangenen einen Lichtblick. Mithilfe der Bundesrepublik Deutsch-land wurden durch die Zahlung von über drei Milliarden West-Mark bis zum Mauerfall 1989 ungefähr 34.000 Häftlinge befreit und in die Bundesrepublik übergesiedelt.
Doch bis dahin hatten die Inhaftierten in den Untersuchungshaftanstalten der DDR unter einem perfiden System psychischer Druckmittel zu leiden, mit dessen Auswirkungen viele der Häftlinge auch heute noch zu kämpfen haben. Um gegen den sog. „Klassenfeind“, dessen Bedeutung im ersten Kapitel erläutert wird, vorzugehen, setzte das Ministerium für Staatssi-cherheit in- und außerhalb seiner Untersuchungshaftanstalten verschiedene Mittel ein.
In dieser Arbeit werden diese angewandten Maßnahmen aufgezeigt und im Hinblick auf ihre Wirksamkeit zur Unterdrückung und Bekämpfung des sog. „Klassenfeindes“ untersucht und bewertet. Eine besondere Rolle kommt hierbei auch dem System der Untersuchungshaft in der DDR zu, welches auf der Rechtsgrundlage der Strafprozessordnung (StPO) basierte, sie wird analysiert und auf ihre korrekte Anwendung hin überprüft. Ferner wird aufgezeigt, welche Auswirkungen und Intentionen die Arbeit des MfS im Bereich der Untersuchungshaft auf die Inhaftierten hatte.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Begriff des „Klassenfeindes“
2. Untersuchungshaft
2.1 Die gesetzlichen Voraussetzungen
2.2 Die Linie IX – das Untersuchungsorgan
2.3 Ermittlungsverfahren
2.4 Verhaftung
2.5 Vollzug und Zweck der Untersuchungshaft
2.6 Einsatz psychischer Zwangsmittel
2.6.1 Isolation
2.6.2 Desorientierung
2.6.3 Totale Überwachung
2.7 Die Vernehmungen
3. Fazit
4. Literatur- und Quellenverzeichnis
Einleitung
Maschendrahtzäune, Wachhunde, Grenzsoldaten mit Maschinengewehren – diese und ähnliche Bilder werden häufig mit dem Thema der Flucht aus der Deutschen Demokratischen Republik, kurz DDR assoziiert. Diese war 1949 als Staat aus der Teilung Deutschlands hervorgegangen und hatte bis zur Wiedervereinigung 1990 Bestand.
Von einem Tag auf den anderen, genauer am 13. August 1961, wurde die von der SED als „antifaschistischer Schutzwall“1 betitelte Grenze in Form einer Mauer mitten durch Berlin gebaut.
In den Jahren danach, bis zum Mauerfall 1989, versuchten insgesamt ca. 370.000 Flüchtlinge der SED-Diktatur zu entkommen.2 Die Gründe hierfür waren vielschichtig, jedoch basierten sie fast alle auf der Unzufriedenheit mit der Herrschaftsweise des SED-Regimes. Doch nicht allen Flüchtlingen gelang ein erfolgreicher Weg in den Westen. Trotz der scharfen Kontrollen der Machthaber schafften wenige Menschen unter glücklichen Umständen die Flucht in die Freiheit, viele hingegen wurden erschossen, zahlreiche gefasst und gefangen genommen.
Es stellt sich die Frage: Was passierte mit denjenigen, welchen die Flucht misslang? Das Schicksal dieser Menschen war im DDR-System nicht sichtbar, da nach offiziellen Angaben der Regierung politische Flüchtlinge nicht existierten3.
Umso schockierender erscheint die heute geschätzte Anzahl von ca 200.000 Bürgern, welche aufgrund ihrer Gegnerschaft zum SED-Regime inhaftiert und im Zeitraum von 1949 bis 1989 in den Untersuchungshaftanstalten der DDR gefangen gehalten wurden.4
Unter ihnen waren nicht nur Fluchtwillige, sondern auch Fluchthelfer, und selbst einige Personen, die einen Antrag zur Ausbürgerung stellten, konnten mithilfe der undurchsichtigen Gesetzgebung der DDR mit bis zu 5 Jahren Haft verurteilt werden.5
Ab 1962 gab es für die Gefangenen einen Lichtblick. Mithilfe der Bundesrepublik Deutschland wurden durch die Zahlung von über drei Milliarden West-Mark bis zum Mauerfall 1989 ungefähr 34.000 Häftlinge befreit und in die Bundesrepublik übergesiedelt.6
Doch bis dahin hatten die Inhaftierten in den Untersuchungshaftanstalten der DDR unter einem perfiden System psychischer Druckmittel zu leiden, mit dessen Auswirkungen viele der Häftlinge auch heute noch zu kämpfen haben.7 Um gegen den sog. „Klassenfeind“, dessen Bedeutung im ersten Kapitel erläutert wird, vorzugehen, setzte das Ministerium für Staatssicherheit in- und außerhalb seiner Untersuchungshaftanstalten verschiedene Mittel ein.
In dieser Arbeit werden diese angewandten Maßnahmen aufgezeigt und im Hinblick auf ihre Wirksamkeit zur Unterdrückung und Bekämpfung des sog. „Klassenfeindes“ untersucht und bewertet. Eine besondere Rolle kommt hierbei auch dem System der Untersuchungshaft in der DDR zu, welches auf der Rechtsgrundlage der Strafprozessordnung (StPO) basierte, sie wird analysiert und auf ihre gesetzlich vorgeschriebene, korrekte Anwendung hin überprüft.
Ferner wird aufgezeigt, welche Auswirkungen die Arbeit des MfS im Bereich der Untersuchungshaft auf die Inhaftierten hatte und auch mit welchen Intentionen von Seiten des MfS diese verbunden war.
Ob, und wenn ja, inwieweit, die Praktiken des MfS in der Bekämpfung des „Klassenfeindes“ Erfolg hatten, ist die Leitfrage. Diese wird durch die Ergebnisse der Seminararbeit am Ende erörtert.
1. Begriff des „Klassenfeindes“
Die größte Zahl der während des Bestehens der DDR in den Untersuchungshaftanstalten gefangenen Personen bildeten die politischen Häftlinge.
Sie waren Menschen, welche aufgrund „ihrer politischen Gesinnung [...] oder wegen ihrer politisch oder religiös begründeten Gegnerschaft zum Kommunismus“8 verfolgt und inhaftiert wurden.
Offiziell leugnete die SED jedoch die Existenz jeglicher Form von Opposition in der DDR. Dennoch übten die Machthaber fortlaufend eine Politik aus, welche eben genau dieses politisch oppositionelle Verhalten verfolgte und bekämpfte.9
Die Gesamtheit der Personen, welche in ihrem Denken, Reden und Handeln von der vorgegebenen politischen Meinung und Handlungsweise abwichen, fand sich unter dem Begriff des „Klassenfeindes“. Dieser schloss sowohl in- als auch ausländische „Gegner“ mit ein, deren Beseitigung stets das Hauptziel war.10
Mit diesem Vorgehen gegen die politisch Andersdenkenden verstieß das SED-Regime gegen die Gesetze, welche es sich selbst auferlegt hatte. So war in der Verfassung der DDR vom 7. April 1968 festgelegt, dass jedem Bürger „die gleichen Rechte und Pflichten“ sowie „Gewissens- und Glaubensfreiheit“ garantiert werden.11
Ihre Begründung fand die politische Verfolgung in der Angst der SED, die „Gegner“ könnten sich „zusammenfinden und organisieren“ und somit zur Gefahr für die eigene Macht werden.12
2. Untersuchungshaft
2.1 Die gesetzlichen Voraussetzungen
Artikel 30 der Verfassung der DDR garantierte die Freiheit seiner Menschen.
In diese Freiheit durfte nur aufgrund eines Gesetzes, beispielsweise im Falle einer strafbaren Handlung, eingegriffen werden.13 Ein solches Gesetz war die Strafprozessordnung der DDR (StPO), welche die gesetzlichen Vorschriften für den Ablauf eines Strafverfahrens enthielt. Die Grundlagen und Voraussetzungen für strafbares Handeln waren im Strafgesetzbuch der DDR (StGB)14 festgelegt. Die Straftatbestände im Strafgesetzbuch waren im Einzelfall vielfach nicht abschließend definiert und boten – wie auch heute geltendende Gesetze– verschiedene Auslegungsmöglichkeiten15, welche das SED-Regime für seine Zwecke zu nutzen wusste. Mithilfe der gesetzlichen Vorschriften im 2. und 8. Kapitel des StGB gingen die Machthaber gezielt gegen politische Oppositionelle vor. Den Staat gefährdende Tatbestände waren demnach beispielsweise „Ungesetzlicher Grenzübertritt“ (§ 213) oder auch „Staatsfeindliche Hetze“ (§ 106).16 Nach Letzterem konnte de facto jede frei geäußerte Meinung als Verstoß gegen „die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“17 angesehen, kriminalisiert und schließlich geahndet werden.18
Die Leitung der Behörden zur Verfolgung politischer Strafsachen sowie des Gefängniswesens oblag seit seiner Gründung am 8. Februar 1950 dem MfS.19 Es fungierte seither als Untersuchungsorgan, womit ihm auch strafprozessuale Aufgaben zufielen. Dazu zählten bspw. Einleitung und Abschluss von Ermittlungsverfahren, Vernehmung von Beschuldigten, die Durchsuchung von Personen, Gegenständen sowie deren Beschlagnahme.20 Eine präzise rechtliche Grundlage hierfür gab es in der StPO von 1952 nicht21. Diese kam erst mit der überarbeiteten StPO von 1968, in welcher neben dem Ministerium des Innern (MdI) und der Zollverwaltung das MfS als Untersuchungsorgan definiert und für die Durchführung von Ermittlungen in Strafsachen befugt wurde22. Dennoch wurde auch danach nie gesetzlich festgelegt, wie die Untersuchungshaft im Bereich des MfS durchzuführen war. 23
2.2 Die Linie IX – das Untersuchungsorgan
Wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, fiel dessen Bearbeitung in den Tätigkeitsbereich der „Linie IX“. Sie gehörte seit dessen Gründung zu den Dienstabteilungen des MfS und setzte sich aus allen Untersuchungsabteilungen zusammen.24 Zuständig für die „Linie IX“ war während der gesamten MfS-Periode Erich Mielke, damals noch 1. Stellvertreter des Staatssekretärs und ab 1957 Minister für Staatssicherheit.25
Der „Linie IX“ kam eine doppelte Funktion zu: Neben der Durchführung von Vernehmungen und Untersuchungen zur Erwerbung von Informationen während des Ermittlungsverfahrens konnte sie auch in „vorstrafprozessualen Prüfungsverfahren“26 vorab gegen verdächtige Personen ermitteln, um belastende Informationen zu erhalten. Einerseits arbeitete die „Linie IX“ somit offiziell bei Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, nutzte darüber hinaus aber auch konspirative Methoden, um z.B. durch geheime Abhöranlagen oder Spitzel Zelleninformationen zu erhalten, welche sie auswerten und gegebenenfalls gegen die Inhaftierten einsetzen konnte.27 Häufig dienten die Vernehmungen auch nicht mehr zum Auffinden neuer Beweise, sondern lediglich zur Legalisierung jener, welche zuvor in den geheimdienstlichen Aktivitäten28 beschafft worden waren. Diese waren zwar nicht gerichtstauglich, konnten jedoch zur Einschüchterung und Erpressung dienen, um gewünschte Ziele zu erreichen, oder, wenn der Beschuldigte unter Druck ein Geständnis ablegte, als legalisierte Beweismittel auch vor Gericht verwendet werden. 29
Die „Linie IX“ bildete zusammenfassend also nicht nur ein offizielles, durch die Strafprozessordnung legitimiertes Untersuchungsorgan, sondern war vor allem auch eine „politisch-operativ“30 arbeitende Geheimdienstabteilung, die durch die Anwendung von inoffiziellen Methoden gegen Untersuchungshäftlinge geprägt war.
2.3 Ermittlungsverfahren
Bei Verdacht auf strafbare Handlungen konnten die Untersuchungsorgane anordnen, dass die Notwendigkeit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens überprüft wurde. Als ausreichende Anlässe hierfür galten Mitteilungen von Bürgern genauso wie formale Anzeigen von Staatsorganen.31 Die gesetzlichen Anordnungen für die Ermittlungsverfahren waren in den §§ 87-155 StPO festgelegt. Mithilfe des Verfahrens sollten weitere Beweise gesammelt werden, welche später vor Gericht zur Urteilsfestsetzung verwendet werden konnten.
Das MfS berief sich bei der Einleitung von Ermittlungsverfahren in der Regel auf die bereits in geheimdienstlicher Tätigkeit gesammelten Ergebnisse. Da die Veranlassung des offiziellen Verfahrens so gut wie immer zur Inhaftierung des Verdächtigten führte, sollten auf diese Weise eventuelle staatsfeindliche Aktivitäten eingedämmt werden.32
Nach der Strafprozessordnung sollten die Umstände der Straftat während des Ermittlungsverfahrens von Staatsanwalt und Untersuchungsorganen „unvoreingenommen“ sowie in „be- und entlastender Hinsicht“ aufgeklärt werden.33
Wie diese Ermittlungsarbeit sowie der Umgang mit den Untersuchungshäftlingen allerdings dann tatsächlich in der Realität zu handhaben sei, machte Erich Mielke auf einer Dienstkonferenz 1979 deutlich:
„Klar muss aber auch sein, allein immer nur behutsam, behutsam und noch mal behutsam, – aus Angst und Furcht, die Betreffenden könnten sich etwas antun, dass nur nichts passiert‘ – damit muss endgültig Schluss gemacht werden. […] Und wenn sich ein Verbrecher, ein verkommenes Subjekt deshalb etwas antut, weil er merkt, dass wir ihn erkannt haben und mit aller Konsequenz gegen ihn vorgehen, dann ist das noch tausendmal besser, als wenn es ihm gelingt, seine verbrecherischen Absichten zu verwirklichen oder uns weiter anderen Schaden zuzufügen. […] Die sozialistische Gesetzlichkeit strikt durchzusetzen, alle Möglichkeiten voll auszuschöpfen, das gilt erst recht in Bezug auf Feinde, die auch weiterhin wie Feinde behandelt werden.“34
Das Ermittlungsverfahren wurde als Bestandteil zur Bekämpfung des „Klassenfeindes“ verstanden. Darüber hinaus sollten die Inhaftierten von den Mitarbeitern der „Linie IX“ als „Verbrecher und Feinde des Friedens und des Fortschritts“35 gesehen werden. Umso mehr stand für die Ermittler schon im Voraus, besonders jedoch aufgrund der schon in operativen Vorgängen36 gesammelten Beweise, die Schuld des Angeklagten fest.37 Die Untersuchungshaft verfolgte in dieser Hinsicht vor allem den Zweck, durch den Inhaftierten zu möglichst belastenden Aussagen zu gelangen. Unvoreingenommenheit oder gar die Suche nach Entlastung hatten demzufolge hierbei keinen Stellenwert.
2.4 Verhaftung
Die Strafprozessordnung legte in § 122 StPO die formalen Richtlinien zur Anordnung einer Untersuchungshaft fest. Demnach konnten beschuldigte Personen nur dann in Untersuchungshaft genommen werden, wenn dringender Tatverdacht, Flucht- oder Verdunkelungsgefahr bestand oder ein Verbrechen den Gegenstand des Verfahrens bildete.38 Ein Ermittlungsverfahren, das wegen eines Verdachts eines Verbrechens eingeleitet wurde, führte somit ebenfalls zwangsläufig zur Inhaftierung des Verdächtigten, auch wenn der Tatverdacht nicht dringend war.
Die Untersuchungshaft sollte einen sicheren Ablauf des Strafverfahrens gewährleisten und zur Verurteilung des Beschuldigten beitragen.
Die Festnahme erfolgte stets durch Mitarbeiter des MfS. Das Tragen ziviler Kleidung diente hierbei der Vermeidung öffentlichen Aufsehens. Immer strikt und in der Regel ohne plausiblen Grund, sondern mit schwammigen Aussagen, wie zur „Klärung eines Sachverhalts“, wurde der Beschuldigte abgeführt und für gewöhnlich in einem blickdichten Wagen in eine der Untersuchungshaftanstalten (UHA) gebracht.39 Den Verhafteten wurde auch nach Eintreffen in der Anstalt nicht gesagt, wo sie sich eigentlich befanden. Diese Orientierungslosigkeit war vom MfS mit Absicht geplant und gewünscht, denn Ziel der überraschenden Verhaftung war, den Angeklagten in einen Schockzustand zu versetzen.40 Um diesen Schockzustand auszunutzen, erfolgte in der Regel bereits kurz nach Eintreffen in der UHA die erste Vernehmung des Häftlings.
Ebenfalls bei der Einlieferung in die UHA musste der Verhaftete eine meist als entwürdigend empfundene vollständige Körper- und Sachdurchsuchung über sich ergehen lassen.41 Während dieser hatte er sich zu entkleiden und erhielt im Anschluss Häftlingskleidung. Diese erwies sich oftmals als zu groß, was das Gefühl von Demütigung und Entwürdigung bei vielen Häftlingen noch verstärkte.42 Nachdem ihm jegliche persönlichen Gegenstände abgenommen waren, führte das MfS noch eine erkennungsdienstliche Behandlung durch.43 Belehrt über seine Rechte und Pflichten, wurde der Verhaftete daraufhin zu seiner Zelle gebracht. 44
Um schließlich aus der vorläufigen Festnahme eine offizielle Verhaftung zu machen, musste dem Festgenommenen ein richterlicher Haftbefehl verkündet werden, welcher die Gründe für die Inhaftierung beinhaltete. Diesen hatte der Verhaftete durch seine Unterschrift zu bestätigen.45 War dies geschehen, schrieb die Strafprozessordnung dem Staatsanwalt vor, Angehörige und Arbeitsstelle des Inhaftierten „innerhalb von 24 Stunden nach der ersten richterlichen Vernehmung“46 zu kontaktieren. Jedoch konnte diese Vorschrift umgangen werden, falls bei einer Kontaktierung die Gefährdung des Zweckes der Untersuchungen bestand. Für gewöhnlich erfolgte die Benachrichtigung der Angehörigen mit zwei- bis dreitägiger Verspätung.47
Aus diesem Abschnitt wird deutlich, dass es für das MfS besonders zu Beginn der Untersuchungshaft entscheidend war, möglichst großen psychischen Druck in Form von Isolation und Desorientierung auf den Häftling auszuüben. Das Ergebnis dieses Drucks zeigte sich beim Gefangenen in Form von Ängsten, Hilflosigkeit, Demütigung und dem Gefühl, der Macht des MfS schutzlos ausgeliefert zu sein.48
[...]
1 Jung, Christian: Geschichte der Verlierer. Historische Selbstreflexion von hochrangigen Mitgliedern der SED nach 1989, Heidelberg 2007, S. 100.
2 Vgl. Knabe, Hubertus: Die vergessenen Opfer der Mauer. Inhaftierte DDR-Flüchtlinge berichten, Berlin 2009.
3 Vgl. Gerhard Finn: „Die politischen Häftlinge der Sowjetzone 1945-1959“, Pfaffenhofen 1960, S.142.
4 Vgl. Oleschinski, Brigitte: Nur für den Dienstgebrauch? Das Tabu Strafvollzug in der DDR, in: Hanusch, Rolf (Hrsg.): Verriegelte Zeiten, Vom Schweigen über die Gefängnisse in der DDR. Tutzing 1993, S. 7.
5 Vgl. Knabe, 2009, S.8.
6 Vgl. Knabe ebd.
7 Vgl. Passens, Katrin: MfS-Untersuchungshaft - Funktionen und Entwicklung von 1971 bis 1989, Berlin, 2012, S.266.
8 Fricke, Karl Wilhelm: Politik und Justiz. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968. Bericht und Dokumenta- tion, Köln 1979, S.8.
9 Vgl. Passens 2012, S.94
10 Vgl. Passens ebd.
11 Vgl. Art. 20, Verfassung der DDR, Berlin 1974.
12 Vgl. Bergmann, Christian: Zum Feindbild des MfS in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochen- zeitung Das Parlament, B 50/1997, S.28ff.
13 Vgl. Art. 30, Verfassung der DDR 1974.
14 Das Strafgesetzbuch von 1871 wurde am 12.01.1968 durch ein neues ersetzt.
15 Vgl. Meyer-Goßner, Lutz: Strafprozessordnung, 54. Aufl. 2011, München 2011, Einleitung, Rd 190ff, S.52.
16 Vgl. §§ 96-111; 210-250 Strafgesetzbuch der DDR –StGB- vom 12. Januar 1968.
17 Raschka, Johannes: „Für kleine Delikte ist kein Platz in der Kriminalitätsstatistik“. Zur Zahl politischer Häftlinge während der Amtszeit Honeckers, Dresden 1997, S.10f.
18 Vgl. Passens 2012, S.105.
19 Vgl. Beleites 2004, S.29f.
20 Vgl. §§ 95,98,105,108ff. StPO der DDR v. 12.1.1968.
21 Hier findet sich nur § 96: „Die Untersuchungen in Strafsachen führen die staatlichen Untersuchungsorgane durch“. Die StPO vom 02.10.1952 wurde am 12.1.1968 durch eine neue, überarbeitete Version ersetzt. Vgl. Sélitrenny 2003, S.58.
22 Vgl. §88 StPO der DDR v.12.1.1968
23 Vgl. Beleites, Johannes: Die Rolle des MfS im Bereich des Untersuchungshaft- und Strafvollzugs in der DDR, in: Horch und Guck. Historisch-literarische Zeitschrift des Bürgerkomitees „15.Januar“ e.V. 7 (1998), H. 3, S.47.
24 Vgl. Beleites 2009, S. 4.
25 Vgl. Sélitrenny 2003, S. 207.
26 Sélitrenny ebd., S. 201.
27 Vgl. Beleites 1998 S.48-49.
28 Zu solchen geheimdienstlichen Aktivitäten zählten vor allem die „Operativen Vorgänge“ welche bei Verdacht auf staats- feindliche Aktivitäten angewandt wurden. Durch verdeckte Ermittlungen sollten Informationen beschaffen werden, um diese anschließend gegen den Verdächtigen einsetzen zu können. Vgl. Judt, Matthias (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumen- ten: Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Berlin: Links, 1998, S.470.
29 Vgl. Beleites 1998, S. 48-54.
30 Vgl. Passens 2012, S.27; Beleites 2004, S. 30.
31 Vgl. Sélitrenny 2003, S. 59-60.
32 Vgl. Sélitrenny ebd., Passens ebd., S. 45.
33 Vgl. §101 StPO der DDR v.12.1.1968
34 Zit. n. Beleites 1998, S.50.
35 Zit. n. Passens 2012, S.120: „Dienstanweisung für den Dienst und die Ordnung in den Untersuchungs- Haftanstalten des Staatssekretariats für Staatssicherheit“, o.J., in: BStU/MfS/SdM 1872, Bl. 283.
36 Die operativen Vorgänge zeichneten sich unter anderem durch das illegale Abhören von Telefonen und Wohnungen, ge- heime Hausdurchsuchungen, Postkontrollen sowie die Überwachung von Personen aus. Vgl. Passens 2012, S.47.
37 Vgl. Passens ebd., S. 45.
38 Vgl. §122 StPO der DDR v. 12.1.1968
39 Vgl. Knabe 2009, S. 156.
40 Vgl. Beleites 2004, S.7; Beleites 1998, S.49.
41 Vgl. Beleites 2004, S.8.
42 Vgl. Passens 2012, S.52-53; Knabe 2009, S.157.
43 Bei dieser wurden unter anderem Fotos und Fingerabdrücke der Verhafteten erstellt. Besondere körperliche Merkmale und Informationen über die Wertsachen hatten die Mitarbeiter zu protokollieren. Vgl. Beleites 2004, S.8.
44 Vgl. Beleites ebd., S.7-9.
45 Vgl. § 124 StPO der DDR v. 12.1.1968
46 §128 StPO der DDR v. 12.1.1968
47 Vgl. Fricke, Karl Wilhelm: Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener in der DDR, 2., ergänzte Auflage, Köln 1988, S.36 ; Passens 2012, S.53.
48 Vgl. Raschka, Johannes: Zwischen Überwachung und Repression – Politische Verfolgung in der DDR 1971 bis 1989, Opladen 2001, S.63.