Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Funktion der nationalen Motive in Thomas Manns Künstlernovelle "Der Tod in Venedig" zu untersuchen. Dabei vertritt die Verfasserin der Arbeit die These, dass die im Werk aufgeführten Nationen die Trennung des Apollinischen und Dionysischen nach Nietzsche symbolisieren. Die Analyse erfolgt nach vier kurzen einleitenden Kapiteln. Sie werden u.a. die Bedeutung nationaler Motive in der Literatur behandeln, den stofflichen Hintergrund für die nationalen Motive vermitteln und in Nietzsches Unterscheidung des Apollinischen und Dionysischen einführen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Nationen in Thomas Manns Werk
3. Nationen in der Literatur
4. Der Stoff für die nationalen Motive
5. Die Philosophische Grundlage für den Tod in Venedig
5.1. Nietzsches Konzeption des Apollinischen und Dionysischen
5.2. Die Funktion des Apollinischen und Dionysischen im Tod in Venedig
5.3. Literarische Gestaltungsmittel von Nietzsches Konzeption
6. Nationale Motive des Apollinischen und Dionysischen im Tod in Venedig
6. 1. Nationale Motive des Apollinischen
6.1.1. Deutsche Motive
6.1.2. Britische Motive
6.2. Nationale Motive des Apollinischen und Dionysischen
6.2.1. Polnische Motive
6.3. Nationale Motive des Dionysischen
6.3.1. Italienische Motive
6.3.2. Russische Motive
7. Schluss
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Funktion der nationalen Motive in Thomas Manns Künstlernovelle Der Tod in Venedig zu untersuchen. Dabei vertritt die Verfasserin der Arbeit die These, dass die im Werk aufgeführten Nationen die Trennung des Apollinischen und Dionysischen nach Nietzsche symbolisieren. Die Analyse erfolgt nach vier kurzen einleitenden Kapiteln. Sie werden u.a. die Bedeutung nationaler Motive in der Literatur behandeln, den stofflichen Hintergrund für die nationalen Motive vermitteln und in Nietzsches Unterscheidung des Apollinischen und Dionysischen einführen.
2. Nationen in Thomas Manns Werk
Bertin Nyemb lädt in der Schlussbetrachtung seiner Abhandlung Interkulturalität im Werk Thomas Manns die moderne Germanistik ausdrücklich dazu ein, die multinationalen Züge im Werk des "Weltbürger[s] Thomas Mann" (Nyemb 2007: 221) zu analysieren. Mann, der als Sohn einer Brasilianerin und eines Deutschen in einer hybriden Familie aufgewachsen war (Kurzke 1997: 24), thematisierte "Interkulturalität" in vielen, ja, fast allen, seiner Werke. Dabei verwendete er vor allem eine "dialektische[] Darstellungsweise" (Nyemb 2007: 217), indem er "zwischen Nord und Süd" und Ost und West Gegensätze, Konflikte aber auch "Angleichung" darstellte (Nyemb 2007: 220). Das 'Fremdländische' tritt hierbei oft in "gemischten Charaktere[n]" (Nyemb 2007: 219) auf, die durch ihr meist südliches Erbe als empfindsame, kreative Figuren gekennzeichnet sind und den das frühe Werk Thomas Manns kennzeichnenden Bürger-Künstler-Konflikt austragen (vgl. Kleist: 1988: 18).
Eine solche Konstellation eines hybriden Künstlers, der in der Fremde eine Lebenskrise erfährt und ihr erliegt, findet sich in der Novelle Der Tod in Venedig (1913). Sie stellt auf der Handlungsebene den Untergang des deutsch-böhmischen Schriftstellers Gustav von Aschenbach in Venedig dar, der der Liebe zu einem polnischen Knaben verfällt. Das 'Exotische' tritt hier neben den beiden Hauptfiguren auch in Form von internationalen Nebenfiguren und einem Schauplatz auf, dessen Ethnizität ebenfalls symbolische Bedeutung besitzt.
Die vorliegende Arbeit wird untersuchen, welche literarische Funktion die in der Novelle auftretenden verschiedenen Nationen in der Künstlernovelle spielen. Dabei soll sich die Analyse den Nationalitäten der Figuren und des italienischen Schauplatzes, an dem die Geschehnisse der Novelle angesiedelt sind, widmen. Vor der Analyse der Funktion der Nationen sollen die folgenden Kapitel kurz in die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Nationen einführen, um einen theoretischen Hintergrund zu vermitteln.
3. Nationen in der Literatur
Die literarische Wiedergabe von kulturell Unbekanntem reicht zurück bis zu den Epen Homers oder zu lateinischen Abhandlungen aus der römischen Antike, wie beispielsweise Tacitus' Germania (vgl. Thomé 2000: 2)[1]. In der Literaturwissenschaft etablierte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die kulturwissenschaftliche Disziplin der Imagologie, die sich bis heute mit Bildern des "kulturell Fremden" (Florack 2007: 143) in der Kunst auseinandersetzt (Florack 2007: 7). Ihre Erkenntnisse bezeugen, dass Nationenbeschreibungen in literarischen Texten oft den Status eines Topos - eines Stereotyps - besitzen (vgl. Florack 2007: 157). Die Funktion nationaler Topoi ist es, vor dem Hintergrund des jeweiligen kulturhistorischen Kontextes (vgl. Florack 2007: 233- 234) Eigen- und Fremdbilder durch zumeist "Autotype" und "Stereotype" (Florack 2007: 25) zu erzeugen. Nationale Topoi sind in der Tat seit Jahrhunderten erstaunlich konstant stereotyp (Florack 2007: 143).
Im literarischen Text kann ein Stereotyp, das der Text einem Volk zuordnet, als persönliche Anschauung des Verfassers nur dann aufgefasst werden, wenn es sich dabei um eine konkret beschreibende Textsorte, wie beispielsweise um einen Reisebericht, handelt (Thomé 2000: 3). In der Fiktion jedoch reaktivieren Stereotype, oder Klischees, schon vorhandenes Wissen beim Leser und agieren im Text daher als Metonyme (vgl. Florack 2007: 2007-233). Laut Horst Thomé (2000: 3) nimmt der Grad der Metonymie des nationalen Topos zu, wenn es sich bei dem vorliegenden Text nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung oder eine Reportage, sondern um ein fiktives Werk handelt. Die metonymische Funktion nationaler Topoi in der schöngeistigen Literatur beschreibt Ruth Florack (2007: 207) wie folgt:
[D]ie Belletristik [macht sich] die Möglichkeiten zunutze, die sich aus der metonymischen Beziehung zwischen dem Angehörigen eines Volkes und dessen nationaltypischen Eigenschaften und Verhaltensweisen ergeben, um Fragen und Konflikte zu veranschaulichen, die gar nicht in Verbindung zu dieser oder jener konkreten Fremde stehen. [... ] Wenn in einem Text etwa Redlichkeit und Treue als Motiv gebraucht werden, um eine moralische Lehre oder Gesellschaftskritik ins Bild zu setzen, ist es - schon aus Gründen der Anschaulichkeit - naheliegend, daß literarische Figuren und Angehörige des Volkes, erscheinen, das allgemeinem Wissen zufolge für eben diese Tugenden bekannt ist.
Die Erkenntnisse der Literaturwissenschaft rechtfertigen demnach die Untersuchung der Nationalitätenbeschreibungen im Tod in Venedig und erlauben die Vermutung, dass es sich bei ihnen ebenfalls um nationale Motive mit metonymischer Funktion handelt.
Bevor die Funktionen der Nationendarstellungen im Tod in Venedig erläutert werden, widmet sich das folgende Kapitel dem Stoff, der den Nationenbeschreibungen in diesem Werk zugrunde liegt.
4. Der Stoff für die nationalen Motive
Die verschiedenen[2] Schauplätze und das bunte Völkergemisch, in das der Schriftsteller Gustav von Aschenbach in Manns Novelle gerät, besitzen eine überaus realistische Vorlage: Im Frühsommer des Jahres 1911 verbringt Thomas Mann mit seiner Frau und seinem Bruder Heinrich Urlaubstage in der damals österreichisch-ungarischen, heute kroatischen, Region Istrien und in Venedig. Während dieser Zeit verfolgt er in den Zeitungen das Sterben Gustav Mahlers, der ihm ein passendes Vorbild für eine Novelle über den Konflikt Künstler vs. Bürgertum - dargestellt anhand der skandalösen Liebe eines alternden Künstlers zu einem Knaben - zu sein scheint (vgl. Bahr 2005: 118-120). Die Erlebnisse während seiner Urlaubsreise drängen sich als Stoff für diese Novelle regelrecht auf. So äußert er sich 1930 zur Entstehungsgeschichte des Todes in Venedig wie folgt:
Es ging an der Peripherie [der] Fabel nicht anders zu als weiter innen. Alles stimmte auf eine besondere Weise, und was mich dabei an Erfahrungen mit dem >Tonio Kröger< erinnerte, war die eingeborene Symbolik und Kompositionsgerechtheit auch unscheinbarer, durch die Wirklichkeit gegebener Einzelheiten. [...] Ganz ebenso [...] ist im >Tod in Venedig< nichts erfunden: Der Wanderer am Münchener Nordfriedhof, das düstere Polesaner Schiff, der greise Geck, der verdächtige Gondolier, Tadzio und die Seinen, die durch Gepäckverwechslung mißglückte Abreise, die Cholera, der ehrliche Clerk im Reisebureau, der bösartige Bänkelsänger oder was sonst anzuführen wäre - alles war gegeben, war eigentlich nur einzustellen und erwies dabei aufs verwunderlichste seine kompositionelle Deutungsfähigkeit (Wysling 1975: 433-434).
Zunächst können berechtigte Zweifel daran aufkommen, ob den internationalen Schauplätzen Pola und Venedig und den verschiedenen Vertretern der europäischen Nationen Deutschland, Italien, Polen, England nun in der Novelle tatsächlich ein literarischer Stellenwert beigemessen werden kann, da ihre Beschreibungen in der Novelle auf realen Erlebnissen beruhen und im literarischen Werk als zufälliges Kolorit abgewiegelt werden können. Dagegen spricht jedoch Horst Thomés bereits angeklungene Feststellung (2000: 3), "die Inhalte von Aussagen [richteten sich] um so mehr nach deren Funktionalwert, je geringer der empirische Gehalt [der Gattungen und Textsorten] und je >weicher< die Begründung ist".
In belletristischen Texten steht selten oder nie der empirische Gehalt des Textes im Vordergrund. Obgleich nicht alle Fakten fiktiv sein müssen, so hat doch der Verfasser sie bewusst angeordnet und ihnen damit die literarische Funktion verliehen, das Leitmotiv des Werkes zu untermauern[3].
Im Tod in Venedig ist dieses Leitmotiv das Spannungsverhältnis zwischen "Zucht und Zügellosigkeit" (vgl. Bahr: 52), das in der Handlung durch die leidenschaftliche homoerotische Liebe des Schriftstellers auf die Probe gestellt wird. Dieses Verhältnis veranschaulicht der Erzähler allegorisch in Form von Nietzsches Konzeption des Apollinischen und Dionysischen. Somit entsteht die Vermutung, dass auch die Nationalitätenbeschreibungen und die mit den Nationen verbundenen Stereotype diese Konzeption bedienen, die im Folgenden kurz erläutert werden soll.
5. Die Philosophische Grundlage für den Tod in Venedig
Um den Konflikt zwischen "Zucht und Zügellosigkeit" zu verdeutlichen, bedient sich Thomas Mann in dieser Novelle der Konzepte des Apollinischen und des Dionysischen von Friedrich Nietzsche. Nietzsche, der neben Gustav Mahler, August Graf von Platen und Richard Wagner als Vorlage für die Hauptfigur der Novelle diente (vgl. Bahr 2005:7), hatte diese Konzepte in seiner Abhandlung Geburt der Tragödie (1872) erstmals erläutert (vgl. Bahr 2005: 52).
In der Forschung sind etliche Nachweise für diese auf die griechische Mythologie zurückführenden Konzepte im Tod in Venedig bekannt. Sie erscheinen in der Novelle in Form von Metaphern, Vergleichen und Symbolen. Bevor jedoch die konkrete Umsetzung der Konzepte im Werk - unter besonderer Berücksichtigung der verschiedenen Nationalitätengruppen - erläutert wird, soll das folgende Kapitel zunächst in Nietzsches Ideen einführen.
[...]
[1] In der Zeit des Humanismus begann sich in Europa die Vorstellung von einem typischen "Nationalcharakter" der einzelnen europäischen Länder herauszubilden (Florack 2007: 143). So stellte Erasmus von Rotterdam 1523 in seinem Text Colloquia anhand bereits stereotyper deutscher und französischer Eigenschaften den Unterschied zwischen ungesittetem und kultiviertem Auftreten dar (vgl. Florack 2007: 154), und in England widmeten sich Schriftsteller ab dem 17. Jahrhundert zunehmend den Beschreibungen typisch nationaler Eigenheiten (vgl. Florack 2007: 159). Ab dem 19. Jahrhundert sprachen Soziologen von dem charakteristischen "Wesen der Völker", einer Auffassung, aus der sich die wissenschaftliche Disziplin der Völkerpsychologie" entwickelte (Florack 2007: 143), die die Völker als Kollektivindividuen mit stereotypen Eigenschaften betrachtete, denen jeweils positive und negative Verhaltensweisen zugeordnet werden konnten (vgl. Florack 2007: 143).
[2] Da der Begriff 'Topos' auf stereotype Eigenschaften abzielt, verwendet die vorliegende Arbeit den neutralen Terminus 'Motiv' da man nicht unmittelbar von einer stereotypen Darstellung ausgehen kann.
[3] Dass Thomas Mann diese realen Gegebenheiten literarisch anwendet, ist den Lesern der Novelle Tonio Kroger, die er im obigen Zitat als Vergleich anführt, bekannt. Auch dort finden sich starke autobiographische Parallelen, die in der Novelle künstlerisch aufgeladen werden. Indem die Novelle den Unterschied zwischen dem nördlichen und südlichen Gemüt darstellt, der auf Manns eigenen binationalen Wurzeln basiert, verdeutlichen sie Tonio Krögers inneren Konflikt (vgl. Ognibene 20 10: 24).