Inhaltsverzeichnis:
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
A. Einleitung
B. Zum Sachverhalt der Entscheidung des BAG – 4 AZR 190/08
C. Tatsächliche Ausgangslage: Gewerkschaftspluralität im Betrieb
D. Rechtliche Ausgangslage: Tarifkollisionen
I. Tarifpluralität
1. Definition
2. Abkehr vom Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb
II. (Betriebsweite) Tarifkonkurrenz
1. Definition
2. (Betriebsweite) Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis
E. Betriebsnormen
I. Gegenstand und Wirkungsweise
II. Konkretisierungsansätze des BAG
III. Die besondere Tarifbindung des § 3 II TVG
IV. Abgrenzung von Inhalts- und Betriebsnormen
V. Vertretensein der Gewerkschaft im Betrieb
F. Tarifkollision bei Betriebsnormen
G. Die Zulässigkeit einer Verbandsklage i.S.v. § 9 TVG/Feststellungsklage durch Nichttarifvertragsparteien anhand BAG – 4 AZR 190/08
H. Die Verhinderung/Auflösung von Tarifkonkurrenzen anhand BAG – 4 AZR 190/08
I. Verhinderung von Tarifkonkurrenzen
1. Das Für und Wider der Zwangstarifgemeinschaft
2. Zwischenergebnis
II. Auflösung von Tarifkonkurrenzen
1. Unwirksamkeit aller Tarifverträge und Betriebsratskompetenz
2. Spezialitätsprinzip
3. Prioritäts- und Posterioritätsprinzip
4. Günstigkeitsprinzip
5. Wahlrecht der Arbeitnehmer
6. Mehrheitsprinzip und normzweckorientierte Differenzierung
a) Maßstab für die Ermittlung der Mehrheit
b) Das Für und Wider des Mehrheitsprinzips
c) Methode und Zeitpunkt der Ermittlung der Mehrheit
d) Normzweckorientierte Differenzierung
aa) Doppelmitgliedschaft des Arbeitgebers
bb) Vertikale Tarifkonkurrenz
cc) Allgemeinverbindlichkeit, § 5 IV TVG
dd) Nachwirkung, § 4 V TVG
I. Fazit
A. Einleitung
Das deutsche Gewerkschaftswesen befindet sich im Wandel: Entgegen dem traditionellen Organisationsgrundsatz „Ein Betrieb – Eine Gewerkschaft“ haben die DGB-Gewerkschaften zunehmend mit sich überschneidenden Tarifzuständigkeiten im Betrieb zu kämpfen, sei es seitens der Spartengewerkschaften, sei es seitens der Richtungsgewerkschaften des CGB. Die damit einhergehende Gewerkschaftspluralität im Betrieb bringt vermehrt Tarifkollisionen mit sich. Bezeichnend hierfür ist die Anzahl der rund 68.000 Tarifverträge, die im April 2013 als gültig in das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geführte Tarifregister eingetragen waren. Grund genug, der Frage nachzugehen, wann es einer Auflösung von Tarifkollisionen bedarf und nach welchen Grundsätzen diese zu erfolgen hat. (...)
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
A. Einleitung
B. Zum Sachverhalt der Entscheidung des BAG - 4 AZR 190/08
C. Tatsächliche Ausgangslage: GewerkschaftspluralitätimBetrieb
D. Rechtliche Ausgangslage: Tarifkollisionen
I. Tarifpluralität
1. Definition
2. Abkehr vom Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb
II. (Betriebsweite) Tarifkonkurrenz
1. Definition
2. (Betriebsweite) Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis
E. Betriebsnormen
I. Gegenstand und Wirkungsweise
II. Konkretisierungsansätze des BAG
III. Die besondere Tarifbindung des §3 11TVG
IV. Abgrenzung von Inhalts- und Betriebsnormen
V. Vertretensein der Gewerkschaft im Betrieb
F. Tarifkollision bei Betriebsnormen
G. Die Zulässigkeit einer Verbandsklage i.S.v. § 9 TVG/Feststellungsklage durch Nichttarifvertragsparteien anhand BAG - 4 AZR 190/08
H. Die Verhinderung/Auflösung von Tarifkonkurrenzen anhand BAG - 4 AZR 190/08
I. Verhinderung von Tarifkonkurrenzen
1. Das Für und Wider der Zwangstarifgemeinschaft
2. Zwischenergebnis
II. Auflösung von Tarifkonkurrenzen
1. Unwirksamkeit aller Tarifverträge und Betriebsratskompetenz
2. Spezialitätsprinzip
3. Prioritäts- und Posterioritätsprinzip
4. Günstigkeitsprinzip
5. Wahlrecht der Arbeitnehmer
6. Mehrheitsprinzip und normzweckorientierte Differenzierung
a) Maßstab für die Ermittlung der Mehrheit
b) Das Für und Wider des Mehrheitsprinzips
c) Methode und Zeitpunkt der Ermittlung der Mehrheit
d) Normzweckorientierte Differenzierung
aa) Doppelmitgliedschaft des Arbeitgebers
bb) Vertikale Tarifkonkurrenz
cc) Allgemeinverbindlichkeit, § 5 IVTVG
dd) Nachwirkung, §4 V TVG
I. Fazit
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
A. Einleitung
Das deutsche Gewerkschaftswesen befindet sich im Wandel: Entgegen dem traditionellen Organisationsgrundsatz „Ein Betrieb - Eine Gewerkschaft“ haben die DGB-Gewerkschaften zunehmend mit sich überschneidenden Tarifzuständigkeiten im Betrieb zu kämpfen, sei es seitens der Spartengewerkschaften, sei es seitens der Richtungsgewerkschaften des CGB.1 Die damit einhergehende Gewerkschaftspluralität im Betrieb bringt vermehrt Tarifkollisionen mit sich.2 Bezeichnend hierfür ist die Anzahl der rund 68.000 Tarifverträge, die im April 2013 als gültig in das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geführte Tarifregister eingetragen waren.3 Grund genug, der Frage nachzugehen, wann es einer Auflösung von Tarifkollisionen bedarf und nach welchen Grundsätzen diese zu erfolgen hat. So hat sich auch das BAG - 4 AZR 190/084 kürzlich zu der Frage geäußert, ob ein Tarifvertrag mit Betriebsnormen - bei deren Kollision i.d.R. eine auflösungsbedürftige betriebsweite Tarifkonkurrenz vorliegt5 - nur einheitlich mit allen für einen Betrieb tarifzuständigen Gewerkschaften abgeschlossen werden kann, mithin bereits die Entstehung einer Tarifkonkurrenz verhindert werden soll, oder diese zwar zugelassen werden soll, für deren Auflösung aber Regeln bereitzuhalten sind. Auf dieser Grundlage soll nun der Frage nachgegangen werden: Welche Probleme bringt Gewerkschaftspluralität im Betrieb bei der Schaffung und Anwendung tariflicher Betriebsnormen mit sich? Als Einstieg dient die Schilderung des Sachverhalts der Entscheidung des BAG - 4 AZR 190/08. Bevor näher auf diese eingegangen werden kann, gilt es, deren Bezugsrahmen zu erläutern. Dafür müssen die Begriffe der Gewerkschaftspluralität im Betrieb, der Tarifkollisionen und der Betriebsnormen im Einzelnen sowie im Verhältnis zueinander näher bestimmt werden. Anschließend soll u.a. anhand der dem Urteil des BAG - 4 AZR 190/08 zugrunde liegenden Erwägungen einerseits kurz auf die Zulässigkeit einer Verbandsklage i.S.v. § 9 TVG sowie einer Feststellungsklage durch Nichttarifvertragsparteien, andererseits ausführlich auf die Möglichkeiten zur Verhinderung und Auflösung von Tarifkonkurrenzen eingegangen werden.6
B. Zum Sachverhalt der Entscheidung des BAG - 4 AZR Ì90/08
Ausgangspunkt für das Verfahren vor dem BAG war ein zwischen der GDL und der Tarifgemeinschaft Transnet/GDBA auf Arbeitnehmerseite sowie der DB AG und dem Arbeitgeberverband MoVe auf Arbeitgeberseite geschlossener Zukunftssicherungstarifvertrag, zu dessen Umsetzung ein Zukunftssicherungsfonds geschaffen worden war. Am 10.03.2005 gaben alle Beteiligten eine Einvernehmenserklärung ab, wonach der Zukunftssicherungstarifvertrag umgewandelt werden sollte, sodass der Zukunftssicherungsfonds neue Aufgaben übernehmen konnte. Zur Umsetzung dieser Einvernehmenserklärung führte die Arbeitgeberseite getrennte Tarifverhandlungen einerseits mit der Tarifgemeinschaft, andererseits mit der GDL. Die Tarifgemeinschaft und die Arbeitgeberseite gelangten am 01.12.2005 zu einer Einigung. Diese hatte eine Ergänzungsvereinbarung zum Inhalt, wonach der Zukunftssicherungsfonds nicht mehr genutzt, stattdessen aber ein Wertguthaben- und ein Sozialfonds geschaffen werden sollten. In der Folge wurden die hierzu notwendigen Tarifverträge in Form eines Langzeitkontentarifvertrags, eines Wertguthabentarifvertrags sowie eines Sozialsicherungstarifvertrags unterzeichnet und sowohl der Wertguthaben- als auch der Sozialfonds geschaffen. Die GDL konnte demgegenüber zu keiner Einigung mit der Arbeitgeberseite gelangen. Sie klagte daraufhin gegen die DB AG, den Arbeitgeberverband MoVe sowie die Tarifgemeinschaft u.a. auf Feststellung der Unwirksamkeit der Tarifverträge vom 01.12.2005. Die Parteien stritten in der Revisionsinstanz des BAG insbesondere um die Frage der Zulässigkeit einer Verbandsklage i.S.v. § 9 TVG sowie einer Feststellungsklage durch die GDL als Nichttarifvertragspartei. Im Hinblick auf die Feststellungsklage stellte sich u.a. die Frage, ob eine für das Feststellungsinteresse i.S.v. § 256 I ZPO notwendige mögliche Beeinträchtigung eigener Rechtspositionen der GDL darin lag, dass diese nicht an den Tarifabschlüssen vom 01.12.2005 beteiligt gewesen war.
C. Tatsächliche Ausgangslage: Gewerkschaftspluralität im Betrieb
Die Gewerkschaften hatten ihre Anfänge in der Mitte des 19. Jahrhunderts und waren zunächst ausschließlich nach dem Berufsverbandsprinzip organisiert, also für die Mitglieder einer Berufsgruppe unabhängig davon tarifzuständig, in welcher Branche diese beschäftigt waren.7 Im Mai 1933 wurden die Gewerkschaften aufgelöst und die Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Deutschen Arbeitsfront zwangsvereinigt, bis es schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg unter Einfluss der Besatzungsmächte zu einer Neugründung der Gewerkschaften kam.8 Dabei fand in den DGB-Gewerkschaften, welche das deutsche Gewerkschaftswesen fortan ganz überwiegend prägten, ein Wechsel vom Berufs- zum Industrieverbandsprinzip statt: Diese sind jeweils berufsübergreifend für eine bestimmte Branche tarifzuständig; es gilt der Grundsatz „Ein Betrieb - Eine Gewerkschaft“.9 Insofern, als dies einen bloßen Organisationsgrundsatz, hingegen keine Rechtsnorm darstellt, welche „die Satzungsautonomie einer Gewerkschaft beschränken]“10 könnte, haben die DGB-Gewerkschaften seit einigen Jahren mit sich überschneidenden Tarifzuständigkeiten und dadurch mit Konkurrenz zu kämpfen, insbesondere von Seiten wiedererstarkender, nach dem Berufsverbandsprinzip organisierter Spartengewerkschaften wie der GDL, der VC, der UFO oder dem MB11. Diesen kommt aufgrund der besonderen Bedeutung ihrer Mitglieder für den Betrieb ein hohes Druckpotential gegenüber den Tarifvertragspartnem zu, sodass sie die Interessen ihrer Mitglieder oft effektiver durchzusetzen vermögen als die Industrieverbandsgewerkschaften.12 Aber auch die nach dem Industrieverbandsprinzip organisierten Richtungsgewerkschaften des CGB treten durch sich überschneidende Tarifzuständigkeiten zunehmend in Konkurrenz zu den DGB-Gewerkschaften und setzen diese durch Niedriglohntarifverträge unter Druck.13 Beide Phänomene gehen mit Gewerkschaftspluralität im Betrieb einher, welche dem Schutz des Art. 9 III GG unterliegt14. So begrüßenswert Gewerkschaftspluralität im Betrieb damit verfassungsrechtlich zwar ist, so kann sie aber auch zum Rechtsproblem werden, nämlich dann, wenn mehrere Gewerkschaften kollidierende Tarifverträge durchset- zen wollen.15
D. Rechtliche Ausgangslage: Tarifkollisionen Tarifkollisionen umfassen Tarifpluralität und Tarifkonkurrenz.
I. Tarifpluralität
1, Definition
Tarifpluralität liegt vor, wenn innerhalb eines Betriebs mehrere Tarifverträge normative Geltung beanspruchen, der Betrieb also unter den räumlichen, sachlichen, persönlichen und zeitlichen Geltungsbereich mehrerer Tarifverträge fällt und der Arbeitgeber zweifach tarifgebunden ist; auf das einzelne individuelle Arbeitsverhältnis findet je nach Tarifbindung des Arbeitnehmers aber nur einer der Tarifverträge Anwendung.16
2, Abkehr vom Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb
Ließ sich in Bezug auf einen Betrieb Tarifpluralität feststellen, löste die Rspr. diese seit dem Urteil des BAG vom 29.03.195717 nach dem Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb zugunsten des spezielleren18 Tarifvertrags auf. Die an den verdrängten Tarifvertrag gebundenen Arbeitnehmer gerieten in einen ,,tariffreie[n] Raum“19. Die Tarifeinheit im Betrieb ist im TVG nicht geregelt, wurde aus Gründen der Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und Praktikabilität aber für unentbehrlich erachtet.20 Dennoch fand sie über die Jahre hinweg zunehmend Widerspruch, insbesondere seitens der Lit.21. Mit Urteil vom 07.07.201022 hat sich nun auch das BAG für die Abkehr von der Tarifeinheit im Betrieb hin zu gelebter Tarifpluralität entschieden. Zur Begründung hieß es, dass die Tarifeinheit im Betrieb weder gewohnheitsrechtlich anerkannt sei noch auf Erwägungen der Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und Praktikabilität gestützt werden könne. Das TVG setze Tarifpluralität in §§ 3 I, 4 I TVG gerade voraus, sodass mangels planwidriger Regelungslücke kein Raum für richterliche Rechtsfortbildung sei. Auch lägen die Voraussetzungen für eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung nicht vor.
Nicht zuletzt sei die Tarifeinheit im Betrieb mit einem Eingriff in Art. 9 III GG verbunden. Dieser sei als Freiheitsrecht strukturiert und gerade auf einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Koalitionen angelegt. Die Berechtigung der Abkehr von der Tarifeinheit im Betrieb ist hinsichtlich der sich daraus ergebenden Problemfelder umstritten; mitunter wird sogar gefordert, die Tarifeinheit im Betrieb durch Gesetz wiedereinzuführen23. Diese Frage soll indes nicht Thema dieser Arbeit sein.
II. (Betriebsweite) Tarifkonkurrenz
1, Definition
Tarifkonkurrenz liegt vor, wenn mehrere Tarifverträge mit sich überschneidenden Regelungsbereichen normative Anwendung auf ein einzelnes individuelles Arbeitsverhältnis finden, dieses also unter den räumlichen, sachlichen, persönlichen und zeitlichen Geltungsbereich mehrerer Tarifverträge fällt und sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer zweifach tarifgebunden sind.24 Einen Sonderfall bildet die betriebsweite Tarifkonkurrenz, die etwa bei Betriebsnormkollisionen auftritt: Auch hier kommt es zu Tarifkonkurrenz im einzelnen individuellen Arbeitsverhältnis, allerdings betriebsweit.25 Tarifkonkurrenz tritt in zwei Konstellationen auf: Einerseits tarifautonome Tarifkonkurrenz, bei der die Tarifvertragsparteien die Tarifgeltung selbst legitimieren, andererseits staatlich veranlasste Tarifkonkurrenz, bei der die staatliche Rechtssetzung die Tarifgeltung auf Außenseiter erstreckt.26
2, IBetriebsweitel Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis
Lässt sich in Bezug auf ein einzelnes individuelles Arbeitsverhältnis Tarifkonkurrenz feststellen, so entspricht es Gewohnheitsrecht, dass eine Auflösung i.S.d. Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis zu erfolgen hat: Auf ein Arbeitsverhältnis kann nur ein Tarifvertrag Anwendung finden.27 Auch bei betriebsweiter Tarifkonkurrenz hat eine Auflösung i.S.d. Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis zu erfolgen, allerdings betriebsweit.28 Ein Günstigkeitsvergleich i.S.v. § 4 III Var. 2 TVG, wonach die Arbeitnehmer die jeweils vorteilhafteren Regelungen der konkurrierenden Tarifverträge auswählen dürften, verbietet sich, schließlich kann ein Arbeitsverhältnis „nicht in einzelnen Beziehungen dem einen und in anderen Beziehungen dem anderen Tarifvertrag unterstehen“29. Dies würde den im Verhandlungsweg austarierten und abschließenden Gesamtzusammenhang der Tarifverträge missachten und zu einer Regelung führen, deren Inhalt von keiner der beteiligten Tarifvertragsparteien gewollt war.30 Die Entstehung von Tarifkonkurrenzen war lange Zeit durch den Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb verhindert worden. Durch die nun zugelassene Tarifpluralität werden künftig aber vermehrt Gewerkschaften auf den Plan treten, um eigenständige Tarifverträge für ihre Mitglieder durchzusetzen, die etwa auch Betriebsnormen beinhalten können. Die praktische Relevanz der Tarifkonkurrenz wird damit steigen.
E. Betriebsnormen
Die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien erstreckt sich gern. §11 TVG neben Individualnormen auch auf betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen. Ob der Begriff „Betriebsnormen“ lediglich betriebliche31 oder auch betriebsverfassungsrechtliche32 Normen umfasst, wird unterschiedlich beurteilt. Die folgenden Ausführungen sollen sich - auch im Hinblick auf das Urteil des BAG - 4 AZR 190/08 - auf betriebliche Normen beschränken, wenngleich für betriebsverfassungsrechtliche Normen dieselben Grundsätze gelten33.
I. Gegenstand und Wirkungsweise
Betriebsnormen sind Regelungen, deren Bedeutung über das einzelne individuelle Arbeitsverhältnis hinausgeht; sie betreffen vielmehr das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Belegschaft als Kollektiv, indem sie die betriebliche Organisationsgewalt des Arbeitgebers regeln.34 Betriebsnormen gehen mit einer einseitigen Verpflichtung des Arbeitgebers einher.35 Im Verhältnis zu den einzelnen Arbeitnehmern entfalten sie keine unmittelbare
Normwirkung, begründen daher keine individuellen Rechte oder Pflichten, sondern betreffen die einzelnen Arbeitnehmer allenfalls mittelbar.36 Traditionell werden Solidar- und Ordnungsnormen unterschieden; während Solidar- normen Einrichtungen zugunsten der ganzen Belegschaft schaffen, dienen Ordnungsnormen der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung im Betrieb.37 Vereinzelt wird auch die Eigenständigkeit von Zulassungsnormen, welche eine vom Gesetz eröffnete Möglichkeit zur Abweichung von an sich zwingendem Recht nach unten ausnutzen, anerkannt.38 Mit der Beschreibung als Solidar-, Ordnungs- und Zulassungsnormen alleine lässt sich der Begriff der Betriebsnormen aber nicht hinreichend bestimmen.39
II. Konkretisierungsansätze des BAG
Betriebsnormen betreffen Konkretisierungsansätzen des BAG zufolge vielmehr „unmittelbar die Organisation und Gestaltung des Betriebs, also der Betriebsmittel und der Belegschaft“40. Vor allem aber müssen Betriebsnormen „in der sozialen Wirklichkeit aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nur einheitlich gelten“41 können. Betriebsnormen sind demzufolge nur zulässig, wenn eine theoretisch immer mögliche Regelung als Individualnorm wegen „evident sachlogischer Unzweckmäßigkeit“42 ausscheidet.
III. Die besondere Tarifbindung des §311TVG
Der Grund hierfür liegt in der besonderen Tarifbindung des § 3 II TVG, wonach Betriebsnormen für alle Betriebe gelten, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist. Nicht erforderlich ist die Tarifbindung der einzelnen Arbeitnehmer, was dazu führt, dass auch Andersorganisierte und Außenseiter von Betriebsnormen betroffen sind.43 Auch wenn Betriebsnormen unmittelbare Wirkung lediglich für den Arbeitgeber entfalten, sind die Arbeitnehmer gleichwohl mittelbar von ihnen betroffen, ohne von den Andersorganisierten und Außenseitern kraft Verbandsmitgliedschaft privat-autonom legitimiert zu sein. Dies ist insbesondere im Hinblick auf das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip, auf die Berufsfreiheit sowie die negative Koalitionsfreiheit bedenklieh, wenngleich das BAG44 die Verfassungsmäßigkeit des § 3 II TVG bejaht. So seien Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip nicht verletzt, da § 3 II TVG eine vom Gesetzgeber geschaffene und ausreichend eingeschränkte Ermächtigungsgrundlage zur Normsetzung gegenüber Andersorganisierten und Außenseitern enthalte. Die Berufsfreiheit sei nicht verletzt, da Art. 12 1 GG dem Normgeber bei Berufsausübungsregelungen einen weiten Gestaltungsspielraum belasse, wobei die Tarifvertragsparteien den zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen vorhandenen Regelungsbedarf eigenverantwortlich abzuschätzen hätten. Die negative Koalitionsfreiheit schließlich sei nicht verletzt, da § 3 II TVG einen nur unwesentlichen Druck ausübe, der tarifschließenden Gewerkschaft beizutreten. Demnach kann das Verfassungsrecht zwar nicht die Zulässigkeit von Betriebsnormen in Frage stellen, wohl aber „Hinweise zur verfassungskonformen Interpretation dieses Begriffs geben“45. Die mittelbare Wirkung von Betriebsnormen auch auf Andersorganisierte und Außenseiter kann daher nur verfassungskonform sein, soweit eine Regelung als Individualnorm wegen evident sachlogischer Unzweckmäßigkeit ausscheidet.
IV. Abgrenzung von Inhalts- und Betriebsnormen
Die Konkretisierungsansätze des BAG bringen ein weites Verständnis von Betriebsnormen mit sich: Deren Anwendungsbereich ist bereits dann eröffnet, wenn das gewünschte Ergebnis nicht durch Individualnormen erreichbar ist.46 So ordnet das BAG etwa auch Arbeitszeitverringerungen gegen Lohnverringerungen als potentielle Betriebsnormen ein.47 48
[...]
1 Vgl. dazu C.
2 Vgl. dazu D.
3 http://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsrecht/Tarifvertraege/allgemeinverbindliche-ta- rifvertraege.html (Stand 08.10.13).
4 BAG Urt. v. 09.12.09 - 4 AZR 190/08, NZA 10, 712.
5 Vgl. dazu D II, F.
6 Hier und im Folgenden RAG Urt. v. 09.12.09 (Fn. 4). Vorinstanzen waren das ArbG Frankfurt Urt. v. 18.01.07 - 3Ca 2497/06 sowie das LAG Hessen Urt. v. 13.09.07 - 9/5 Sa 411/07, BeckRS 08, 53185.
7 Junker in: ArbR, S. 272.
8 Junker in: ArbR, S. 272.
9 Junker in: ArbR, S. 272.
10 BAG Beseht, v. 27.11.64 - 1 ABR 13/63, AP TVG § 2 Tarifzuständigkeit Nr. 1.
11 Reichold in: ArbR, S.278.
12 Reichold in: ArbR, S. 278.
13 Brecht-Heitzmann, Das Kombinationsprinzip als Lösung bei Tarifpluralität, in: Individuelle und kollektive Freiheit im Arbeitsrecht, S. 502.
14 Maunz/DürigAScÄo/z, Art. 9 GG Rn. 253.
15 Dieterich, Koalitionswettbewerb, in: Individuelle und kollektive Freiheit im Arbeitsrecht, S. 532, 535.
16 BAG Urt. v. 20.03.91 - 4 AZR 455/90, NZA 91, 736, 738; Reichold, RdA07, 321, 324.
17 BAG Urt. v. 29.03.57 - 1 AZR 208/55, NJW 57, 1006 (Ls.).
18 BAG Urt.v. 15.11.06-10 AZR665/05,NZA07,448,450;vgl. dazu GII2.
19 BAG Urt.v. 20.03.91 (Fn. 16), 739.
20 BAG Urt. v. 20.03.91 (Fn. 16), 738 f.
21 Vgl. die zahlreichen Nachweise bei BAG Urt. v. 07.07.10 - 4 AZR 549/08, NZA 10, 1068, 1071.
22 Hier und im Folgenden BAG Urt. v. 07.07.10 (Fn. 21), 1068 ff.
23 So der gemeinsame Vorschlag von BDA und DGB sowie die Professoreninitiative „Tarifpluralität als Aufgabe des Gesetzgebers“.
24 BAG Urt. v. 20.04.05 - 4 AZR 288/04, NZA 05, 1360, 1361; JKOS/Jacobs, § 7 Rn. 205.
25 Jacobs, NZA 08, 325, 327; vgl. dazu D II, F.
26 MünchArbRJRieble-Klumpp, § 186Rn. 1.
27 Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rn. 925; Reichold, RdA 07, 321, 323; Jacobs/Krois, Die Auflösung von Tarifkonkurrenzen: Abschied vom Spezialitätsprinzip, in: Arbeitsge- richtsbarkeitund Wissenschaft, S.241, 242.
28 Schliemann, NZA-Beil. 00, 24, 29 f.
29 Nikisch in: ArbR II, S. 480.
30 Reichold, RdA07, 321, 323; Nikisch in: ArbR II, S. 480.
31 ErfK/Franzen, § 1 TVG Rn. 45 ff., 48; BeckOK/Waas, § 1 TVG Rn. 94.
32 MünchArbRlRieble-Klumpp, § 172.
33 Willemsen/Mehrens, NZA 10, 1313,1317.
34 Dieterich, Zur Verfassungsmäßigkeit tariflicher Betriebsnormen, in: Recht und soziale Arbeitswelt, S. 451, 458 f.; 1KOS/Krause, § 4 Rn. 57.
35 Grundlegend Zöllner, RdA 62, 453, 459.
36 Entgegen einer echten Normwirkung RAG Beseht, v. 17.06.97 - 1 ABR 3/97, NZA 98, 213, 214; Wiedemann/7toVng, § 1 TVG Rn. 752.
37 BeckOK/Waas, § 1 TVG Rn. 94.
38 Schmidt-Eriksen in: TarifVertragliche Betriebsnormen, S. 81 ff.
39 BAG Beseht, v. 26.04.90 - 1 ABR 84/87, NZA 90, 850, 853.
40 BAG Beseht, v. 17.06.97 (Fn. 36), 214.
41 BAG Urt. v. 21.02.87 - 4 AZR 547/86, NZA 87, 233, 234.
42 BAG Beseht, v. 26.04.90 (Fn. 39), 853.
43 Wiedemann/OeAer, § 3 TVG Rn. 163.
44 Hier und im Folgenden BAG Urt. v. 07.11.95-3 AZR676/94,NZA 96, 1214, 1216.
45 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rn. 727.
46 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rn. 368.
47 BAG Urt. v. 01.08.01 - 4 AZR 388/99, DB 01, 2609.
48 Jacobs in: Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 249 ff.; Willemsen/Mehrens, NZA 10, 1313, 1317.