"Neuer Kurs" des Kaisers. Das Ende der Bismarckschen Bündnispolitik 1890–1896 und die internationalen Folgen
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit untersucht die Außenpolitik des "Neuen Kurses" von 1890 bis 1896 und geht dabei besonders auf die Frage ein, inwieweit der "Neue Kurs" die außenpolitische Situation des deutschen Reiches veränderte. Um die neue außenpolitische Situation in den Jahren 1890 bis 1896 zu verstehen, untersucht diese Arbeit vor allem drei Ereignisse, die aus den drei hauptsächlichen Ziele des "Neuen Kurses" resultierten: die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland, die koloniale Annäherung an England mit dem "Helgoland-Sansibar-Vertrag" und die vorzeitige Erneuerung des Dreibundes zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien.
Wie veränderten diese Ereignisse die außenpolitische Situation Deutschlands in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts? Was für Konsequenzen hatte die neue Politik für die anderen Großmächte und wirkte es sich auf die europäische Konstellation aus? Und weiterhin die Frage: gab es hier schon eine Weichenstellung zur Blockbildung des ersten Weltkriegs?
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Forschungsstand
Der Neue Kurs
Beteiligte Personen
Leo von Caprivi
Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein
Friederich von Holstein
Die Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages
Vorgeschichte
Caprivis Absage
Russisch-französische Annäherung
Annäherung an England
Helgoland-Sansibar-Vertrag
Schwierigkeiten
Erneuerung des Dreibundes
Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
Einleitung
"Der Kurs bleibt der alte, und nun mit Volldampf voraus!"[1] telegraphierte der neue Kaiser Wilhelm II. am 22. März 1890. Dass der Kurs allerdings schon wenige Tage später mit der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages umschlug, konnte keiner ahnen. Mit dem Sturz Bismarcks hatte außenpolitisch eine neue Zeit begonnen, neue Männer waren an der Macht. In kurzer Zeit manövrierten die Politiker des "Neuen Kurses" Deutschland aus dem bisherigen Bismarckschen Bündnissystem heraus. Dazu wollten sie zum einem Bismarcks Vertrag mit Russland lösen, England näher an sich binden und damit den Dreibund stärken. Doch entwickelten sich daraus ungewollte Konstellationen auf dem europäischen Kontinent, die so wohl nicht gewollt waren und Deutschland sogar letztlich in die Isolation führten.
Die vorliegende Arbeit untersucht die Außenpolitik des "Neuen Kurses" von 1890 bis 1896 und geht dabei besonders auf die Frage ein, inwieweit der "Neue Kurs" die außenpolitische Situation des deutschen Reiches veränderte. Um die neue außenpolitische Situation in den Jahren 1890 bis 1896 zu verstehen, untersucht diese Arbeit vor allem drei Ereignisse, die aus den drei hauptsächlichen Ziele des "Neuen Kurses" resultierten: die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland, die koloniale Annäherung an England mit dem "Helgoland-Sansibar-Vertrag" und die vorzeitige Erneuerung des Dreibundes zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien. Wie veränderten diese Ereignisse die außenpolitische Situation Deutschlands in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts? Was für Konsequenzen hatte die neue Politik für die anderen Großmächte und wirkte es sich auf die europäische Konstellation aus? Und weiterhin die Frage: gab es hier schon eine Weichenstellung zur Blockbildung des ersten Weltkriegs? Da der Umfang der Arbeit begrenzt ist, kann kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Es wurden lediglich die scheinbar wichtigsten Vorgänge und Ergebnisse ausgewählt.
Im ersten der Kapitel des Hauptteiles wird zunächst auf die Absetzung Bismarcks und veränderte Stimmung in Europa und dem deutschen Reich eingegangen. Hier soll es um die veränderten Bedürfnisse des deutschen Volkes gehen, die sich letztendlich auch in der Politik des "Neuen Kurses" niederschlagen. Weiterhin werden drei handelnde Akteure der neuen Politik untersucht und ihnen ein "Gesicht gegeben", wozu Caprivi, Marschall und Holstein gehören. Dies soll die Umstände und die Ziele des "Neuen Kurses" verständlicher machen, da sich diese letztlich auch in der politischen Überzeugung und im persönlichen und beruflichen Hintergrund der Verantwortlichen finden lassen. Das nächste Kapitel geht bereits auf das erste Ereignis 1890 ein: Die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland. Hierbei wird zunächst geklärt, um was für ein Vertragswerk es sich überhaupt handelt. Weiterhin soll auf umfassend auf die Umstände der Absage eingegangen werden und letztlich dann auf die mögliche, verheerende Konsequenz der Nichtverlängerung, nämlich auf die französisch-russisch Annäherung. Um die Annäherung an England soll es im nächsten Kapitel gehen. Hierbei wird als Erstes das Vertragswerk des Helgoland-Sansibar-Vertrags untersucht. Der zweite Teil des Kapitels geht auf die Schwierigkeiten des Vertrages ein, z.B. auf die Außenwirkung in Europa und in der englischen und deutschen Öffentlichkeit. Zudem wird der weitere Weg Englands und Deutschlands untersucht, der von immer weiterer Entfernung zueinander geprägt war. Der letzte Teil der Arbeit geht schließlich auf die Erneuerung des Dreibundes ein, dabei vor allem auf die neuen Ziele des Vertrages und auf die Konsequenzen der vorzeitigen Erneuerung, im Bezug auf die Annäherung zwischen Russland und Frankreich. Letztendlich sollen die Entwicklung Europas in neue Konstellationen dargestellt und der Weg Deutschlands in die außenpolitische Isolation gezeigt werden. Dies wird in einem Fazit am Ende der Arbeit zusammenfassend abgebildet.
Forschungsstand
Die Beurteilung des "Neuen Kurses" ist durch Entwicklung des letzten Jahrhunderts starken Veränderungen unterworfen. Die ernst zunehmende historische Untersuchung beginnt mit dem Ende des ersten Weltkriegs in den Zwanziger Jahren in der Weimarer Republik. Als nach dem Ende des Kaiserreiches zahlreiches Quellenmaterial herauskam, unter anderem die Aktenedition "Die große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914", war es den Historikern möglich, die europäischen Konstellationen seit 1871 zu untersuchen und so den Weg Europas in den Krieg zu suchen. Eine Rolle in der Betrachtung des "Neuen Kurses" der 20er Jahre spielen vor allem der kurz zuvor erlebte Weltkrieg und der kurze zeitliche Abstand zum Thema. Der Historiker der Zwanziger Jahre sucht vor allem Gründe und Schuldige für den Ausbruch des Krieges. Dabei stützte er sich besonders auf die Entscheidungssituationen des "Neuen Kurses", die das Verhältnis zu Russland und England dominierten, wie z.B. die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland.[2]
Die Historiker sahen als Hauptgrund des Krieges das Abweichen von der Bismarckschen Bündnispolitik an und beurteilten deshalb die Politik von Caprivi und Co. negativ. Diese habe letztlich zur Blockbildung der Großmächte geführt. Ein nennenswerter Historiker ist z. B. Otto Becker, der 1923 und 1925 sein zweibändiges Werk "Bismarck und die Einkreisung Deutschlands" auf den Markt brachte.[3] Becker urteilte im zweiten Teil über den "Neuen Kurs" folgendermaßen: "Es waren noch keine fünf Jahre nach Bismarcks Sturz vergangen und schon glich das umfassende, fein organisierte außenpolitische Sicherheitswerk, das sein Genius errichtet hatte, einem Trümmerhaufen."[4] Auch andere Historiker sehen wie Otto Becker in Bismarcks Leistungen ein Wunderwerk und im Handeln der Vertreter der neuen Politik bloße Einfalt. Jedoch gab es in den Zwanziger Jahren auch durchaus Historiker, die Bismarcks Leistung im Bündnissystem relativierten, so wie z.B. Hans Rothfels oder Felix Rachfahl.[5] Zum Beispiel sah Rachfahl in Bismarcks Rückversicherungsvertrag mit Russland keinen Eckpfeiler oder Schlussstein Bismarckscher Bündnispolitik, sondern lediglich "ein Notbehelf".[6] Für Hans Rothfels war der Rückversicherungsvertrag eine "Aushilfe größeren Stils".[7]
In den 60er Jahren änderte sich die Herangehensweise an das Thema, was vor allem durch den entstandenen zeitlichen Abstand kommt. Man fragte nicht mehr allein nach Schuldigen, sondern untersuchte eher Strukturen und Prozesse, was sich bis heute hinzieht. Gemeinsam hat die Nachkriegsforschung bis heute z.B. die Überzeugung, dass die Ereignisse und neuen Konstellationen 1890 kein Anstoß für den ersten Weltkrieg waren. Die damals entstandenen neuen Bündnisse, wie jenes zwischen Frankreich und Russland, waren immer noch labil. Die deutsche Isolation ist durch eine spätere Verhärtung der Blöcke entstanden, was durch Deutschlands Politik der Stärke angetrieben wurde. Bei der Frage der Zukunftsfähigkeit der Politik Bismarcks gibt es allerdings Diskussionen. Einige meinen, dass die Bismarcksche Bündnispolitik gar nicht mehr in die Zeit passte, da sich ein neues Verständnis von Bündnissen entwickelt hatte. Dazu passte die Politik des "Neuen Kurses" freilich mehr. Lothar Gall sieht in Bismarck z.B. einen Zauberlehrling, der von den Kräften überrumpelt wurde. Andere urteilen da positiver. Konrad Canis z.B. hält die Bismarcksche Politik für zukunftsnaher als die Neue. Ebenso urteilt Klaus Hildebrand weit positiver über die Bismarcksche Politik als manch andere Historiker.[8]
Der Neue Kurs
Mit Thronbesteigung Wilhelms II. am 15. Juni 1888 war das politische Ende Bismarcks bereits in Sicht. Das Bedürfnis Wilhelms II. seine Macht als Kaiser auszureizen und selbst die Politik des Reiches bestimmen zu wollen, passte nicht recht zur ausgedehnten Machtstellung Bismarcks. Nach einem Gespräch zwischen beiden 15. März 1890 gab Bismarck am 18. März sein Rücktrittsgesuch bekannt.[9] Doch nicht nur der Throninhaber war ein anderer, auch hatten sich die Zeiten geändert, in welcher die Bismarcksche Politik immer mehr als Erstarrung empfunden wurde. Europa war im Zeitalter des Imperialismus angekommen.[10] Hier ging es nun um Gewinnung von Prestige und Raum, der Kampf um die letzten freien Kolonien war eröffnet. Ebenso hatte sich die gesamte internationale Politik verändert. Einflussfaktoren wie die öffentliche Meinung, die Wirtschaft und auch das Militär wirkten jetzt verstärkt auf die innere und äußere Politik eines Landes ein. Zudem unterlag das Verständnis von Bündnissen, besonders im Deutschen Reich, einer tiefgreifenden Veränderung. Man schloss sie nun nicht mehr um einen Krieg zu verhindern, sondern, da man ja eh von einem baldigen Krieg ausging, um diesen möglichst du gewinnen. So ging auch der neue Reichskanzler Caprivi stets von einem nahenden Krieg aus, wie es in den Erinnerung von Tirpitz heißt:
""Nächstes Jahr haben wir einen Zweifrontenkrieg". Jedes Jahr erwartete er ihn im nächsten Frühling."[11]
Zu dieser Stimmung passte die Bismarcksche Politik der Saturiertheit nicht mehr.[12]
Seit der Reichsgründung erlebte das Deutsche Reich einen ungemeinen Aufwärtstrend in allen gesellschaftlichen Bereichen. 1890 war es der zweitstärkste Industriestaat in Europa und konnte das größte Wirtschaftswachstum verzeichnen. Ebenso stieg die Einwohnerzahl von 40 auf 49 Millionen zwischen 1870 und 1890 und die Stärke des deutschen Militärs um Längen.[13] Das junge, erfolgreiche Deutsche Reich wollte nun "ein Stück vom Kuchen" abhaben und verlangte nach Macht, man nahm daher Bismarcks Politik der Machtzügelung als nicht mehr zeitgemäß wahr.[14]
Die neue Regierung unter Leo von Caprivi und Adolf Freiherr Marschall von Bierberstein stand nun zwischen der bisherigen Bismarckschen Kontinentalpolitik und der neuen, sich anbahnenden wilhelminischen Weltpolitik.[15] Sie gelten neben weiteren Personen als Vertreter des "Neuen Kurses", der sich nach Bismarcks Abgang anbahnt. Doch wer genau waren die Akteure, die deutsche Außenpolitik der nächsten Jahre bestimmten?
Beteiligte Personen
Leo von Caprivi
Die Wahl Caprivis zum Reichskanzler war für viele Zeitgenossen überraschend. Der 1831 in Charlottenburg geborene Preuße Georg Leo von Caprivi, Oberkammdierender der 10. Armee in Hannover, war ein in der Außenpolitik völlig Unerfahrener. Caprivi stammte aus einer Familie preußischen Offiziers- und Beamtenadels ohne Besitz.[16] 1849 trat er in preußische Armee ein und nahm 1864, 1866 und 1870/71 an den Kriegen teil, 1883 wurde er zum Vizeadmiral und zum Leiter der Marinebehörde ernannt. Als Wilhelm der II. sich jedoch in Marineangelegenheiten einmischte, reichte Caprivi 1888 seinen Rücktritt ein und wurde jedoch daraufhin zum Oberkammandierenden der 10. Armee ernannt. Hinter Caprivi stand also zum Zeitpunkt der Ernennung eine glänzende militärische Karriere.[17] Charakterlich galt er als ehrenwerter, ehrlicher und charakterfester Mann mit eigenem Willen, politisch sah man in ihm hingegen weniger.[18] Caprivi interessierte sich wenig für das politische Spiel, er war in vielen Dinge der europäischen Politik unerfahren und unwissend. Seine Ehrlichkeit erlaube es ihm nicht solch taktische Manöver, wie es der Bismarckschen Politik eigen war, auszuspielen.[19] Über Caprivis Unerfahrenheit und Desinteresse urteilte der deutsche Diplomat Raschdau in seinen Erinnerungen folgendermaßen:
"In den auswärtigen Fragen aber machte er uns den Eindruck der Unsicherheit und er war zufrieden, wenn er von uns Beamten nicht sehr in Anspruch genommen wurde."[20]
Viele Zeitgenossen waren erschrocken über die Wahl des unerfahrenen Kommandeurs, sogar Caprivi selbst sah in sich keinen geeigneten Nachfolger für Bismarck, was ein Tagebucheintrag der Baronin Spitzemberg deutlich macht. In diesem beschreibt die Baronin, wie Caprivi zum Kaiser gebeten wird und, auf seinem Vorschlag zum Reichskanzler ernannt zu werden, folgendermaßen reagiert:
[...]
[1] Wilhelm II. am 22. März 1890 nach: Afflerbach, Holger: Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem ersten Weltkrieg. Böhlau Verlag. Wien, 2002. S. 373
[2] Vgl. Frie, Ewald: Das Deutsche Kaiserreich. Darmstadt, 2004. S. 57 ff.
[3] Vgl. Lahme, Rainer: Deutsche Außenpolitik 1890 - 1894. Göttingen, 1990. S. 38
[4] Becker, Otto: Bismarck und die Einkreisung Deutschlands. Das französisch russische Bündnis. Berlin, 1925. S. 231
[5] Vgl. Frie: a.a.O. S. 61 f.
[6] Rachfahl, Die Bismarck'sche Ära, bei Frie S. 110
[7] Rothfels, Hans nach: Groepper, Horst: Bismarcks Sturz und die Preisgabe des Rückversicherungsvertrages. Paderborn, 2008. S. 556.
[8] Vgl. Frie: a.a.O. S. 64 ff.
[9] Vgl. Lahme: a.a.O. S. 90f.
[10] Vgl. Born, Karl Erich: Von der Reichsgründung bis zum ersten Weltkrieg. München, 1999. S. 185
[11] Tirpitz, Alfred: Erinnerungen. Leipzig, 1920. S. 121.
[12] Vgl. Hildebrand, Klaus: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871 - 1945. Stuttgart, 1995. S. 149f.
[13] Vgl. Canis, Konrad: Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890 - 1902. Berlin, 1997. S. 20f.
[14] Vgl. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866 - 1918. Machtstaat vor der Demokratie. München, 1992. S. 621
[15] Vgl. Ullmann, Hans-Peter: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Frankfurt am Main, 1995. S. 154f.
[16] Vgl. Nichols, J. Alden: Germany after Bismarck. The Caprivi Era 1890 - 1894. Cambridge, Massachusetts, 1958. S. 29f.
[17] Vgl. Lahme: a.a.O. S. 85.
[18] Vgl. Röhl, John C. G.: Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888 - 1900. 2001, München. S. 366
[19] Vgl. Lahme: a.a.O. S. 86f.
[20] Raschdau, Ludwig: Unter Bismarck und Caprivi. Berlin, 1939. S. 191.