E.T.A. Hoffmanns "Nussknacker und Mausekönig" ist weitaus mehr als ein einfaches Weihnachts- oder Kindermärchen, was sich nicht nur allein in den umfangreichen Lesarten und dessen Mehrfachadressiertheit sowie Rezension in der Öffentlichkeit zeigt.
Es ist vielmehr ein Spiel mit konstruierten Welten und damit einhergehenden Erwartungen, sowohl für die Protagonisten des Werkes als auch für seine Leserschaft.
Der Fokus dieser Arbeit soll auf diesen konstruierten Welten liegen, welche das Werk darlegt. In Anlehnung an das Seminar „Literarische Utopien und Dystopien vom 17. bis zum 20. Jahrhundert“ sollen utopische Elemente und damit verbundene Eigenschaften in diesen gesonderten Welten hervorgehoben werden.
Als konstruierte Welten im Nussknacker und Mausekönig prägen die Nacht, der Spielzeugschrank im Wohnzimmer, das Märchen von der harten Nuss und das Puppenreich die Handlung. Alle vier Welten unterliegen bestimmten Rahmenbedingungen, die sich vom restlichen Werk absetzen. Sie zeigen eine gewisse Abgeschiedenheit und funktionieren nur mit ihren eigenen Regeln und Gesetzen. Diese eigene Gesetzmäßigkeit kann bereits u.a. auch ein Merkmal einer Utopie sein.
Der Begriff Utopie als solcher umfasst vieles und ist auf verschiedene Arten definiert worden. Im Laufe der Zeit hat er sich stets verändert und kann keinesfalls als statische Definition betrachtet werden. Jedoch wird seit dem Aufkommen der Idee einer Utopie ständig versucht eine einheitliche Definitionsgrundlage zu schaffen, auf die im Laufe dieser Arbeit Bezug genommen wird.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Konstruierte Welten
2.1 Die Nacht
2.2 Der Spielzeugschrank im Wohnzimmer
2.3 Das Märchen von der harten Nuss
2.4 Das Puppenreich
3. Bindeglieder zwischen den Welten
4. Fazit
5. Literatur
1. Einleitung
E.T.A. Hoffmanns Nussknacker und Mausekönig ist weitaus mehr als ein einfaches Weihnachts- oder Kindermärchen, was sich nicht nur allein in den umfangreichen Lesarten1 und dessen Mehrfachadressiertheit, sowie Rezension in der Öffentlichkeit zeigt.
Es ist vielmehr ein Spiel mit konstruierten Welten und damit einhergehenden Erwartungen, sowohl für die Protagonisten des Werkes als auch für seine Leserschaft.
Der Fokus dieser Arbeit soll auf diesen konstruierten Welten liegen, welche das Werk darlegt. In Anlehnung an das Seminar „Literarische Utopien und Dystopien vom 17. bis zum 20. Jahrhundert“ sollen utopische Elemente und damit verbundene Eigenschaften in diesen gesonderten Welten hervorgehoben werden.
Als konstruierte Welten im Nussknacker und Mausekönig prägen die Nacht, der Spielzeugschrank im Wohnzimmer, das Märchen von der harten Nuss und das Puppenreich die Handlung. Alle vier Welten unterliegen bestimmten Rahmenbedingungen, die sich vom restlichen Werk absetzen. Sie zeigen eine gewisse Abgeschiedenheit und funktionieren nur mit ihren eigenen Regeln und Gesetzen. Diese eigene Gesetzmäßigkeit kann bereits u.a. auch ein Merkmal einer Utopie sein.
Der Begriff Utopie als solcher umfasst vieles und ist auf verschiedene Arten definiert worden. Im Laufe der Zeit hat er sich stets verändert und kann keinesfalls als statische Definition betrachtet werden. Jedoch wird seit dem Aufkommen der Idee einer Utopie ständig versucht eine einheitliche Definitionsgrundlage zu schaffen, auf die im Laufe dieser Arbeit Bezug genommen wird.
Das Metzler Lexikon Literatur stützt sich bei der Definition einer Utopie zunächst auf Morus ideales Nirgendreich, im Reallexikon wird ein fiktiver Ort als geographische Metapher gewählt. Utopie ist der „Entwurf eines idealen Gemeinwesens und Staates, in dem Unglück, Gebrechen, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten durch soziale, politische, ökonomische kulturelle Reformen oder Revolutionen in das vollkommene Glück aller verwandelt sind. Die U. stellt eine alternative (progressive oder regressive) Ordnung dar, in der Kontingenz und Unberechenbarkeit möglichst ausgeschaltet sind.“2
Im Reallexikon wird die Gattung der Utopie herausgestellt: Sie ist die „Narrative Entfaltung eines idealen Gesellschaftsmodells; im weitesten Sinn auf Wirklichkeitsveränderung zum Idealzustand zielendes Denken.“
Die Utopie ist eine „wirklichkeitsüberschreitende und auf ein ideales Telos ausgerichtete Denkhaltung“3, eine Idee.
In den folgenden Kapiteln soll die Utopie als ideale Gesellschaftsform, Nichtort, Gattung und Idee thematisiert werden.
2. Konstruierte Welten
2.1 Die Nacht
„Die Nacht ist ein Zustand der uns umgebenden Welt, der unser inneres Erleben anregt, der Tag der andere Zustand, der unser äußeres Erleben anregt. Nacht und Tag sind für Novalis die makrokosmischen Entsprechungen für mikrokosmische Erlebnisse. Für Novalis ist Nacht um uns und Nacht in uns eine Welt, zugleich mit der Erkenntnis der äußeren erschließt sich die innere.“4
Die Nacht hat im Nußknacker und Mausekönig als Welt eine übergeordnete Funktion. Der Glasschrank und das Puppenreich bekommen nur in der Dämmerung ihre wundersame Vielfalt verliehen. Die Spielzeuge erwachen nur in der Nacht zum Leben. Auch das Märchen bekommt Marie zum Einschlafen im Zustand der Dämmerung erzählt.
„Da die Romantiker glaubten mit dem Gefühl an Wahrheiten heranzureichen, die dem Verstand ewig verschlossen bleiben, liebten sie die Dämmerung und die Nacht, in denen das Auge, das Sinnesorgan des messenden und deutenden Verstandes, seine Herrschaft an das Ohr abgibt, das mehr dem ahnenden und horchenden Gefühl zugeordnet ist. Novalis spricht von der 'akustischen Natur' der Seele.“5
Durch dieses Zurücktreten des Verstandes und der Vernunft bei Nacht gewinnt das Gefühl an Bedeutung, eben auch da alle Sinnesorgane außer dem Auge geschärft sind. Das Gefühl eröffnet der Seele Erfahrungsmöglichkeiten: „Vom Leiblichen her, im Seelischen selbst, und vom Geistigen her.“6
Diese Erfahrungsmöglichkeiten können auch Bedrohliches zum Vorschein bringen, welche beispielsweise in Form von Ängsten den Menschen in der Nacht beherrschen. Das Thema der Nacht lässt sich mit dem Thema des Todes in verschiedenen Werken der Zeit fast gleichsetzen.7
Die Nacht ist hier im Werk E.T.A. Hoffmanns in verschiedene Nachtphasen aufgeteilt, die immer wieder vom Tagesgeschehen unterbrochen werden.
Eingeleitet wird die erste wundersame Nacht durch ein leises Wispern und Flüstern, sowie durch ein Rascheln ringsherum.8 Marie sieht auch den Paten Droßelmeier in der Wanduhr, der dort anstatt der Eule sitzt. Die Puppen offenbaren sich Marie in ihrer Lebendigkeit und erliegen der ersten Schlacht.
Die zweite Nachtphase beginnt durch ein „seltsames Poltern“9, welches Marie weckt. Der Mausekönig erscheint, will Maries Süßigkeiten einfordern und droht den Nussknacker andernfalls zu zerbeißen.10
Marie besitzt eine große Vielfalt an Zucker- und Dragantpüppchen, die sie in Form einer Opfergabe für den Mausekönig drapiert. Die Vorstellung einzelner Puppen beginnt mit dem Bild einer Schäferidylle:
„Nächstdem, dass ein sehr hübscher Schäfer mit seiner Schäferin eine ganze Herde milchweißer Schäflein weidete und dabei sein muntres Hündchen herumsprang[...]“11
Dieses Bild der Idylle kann der erträumten gemeinsamen Zukunft mit dem Nußknacker entnommen sein. Jenes Paradies erscheint jedoch sehr trügerisch, denn nachdem sie ihre Puppen an die Leiste des Schrankes gesetzt hat, sind sie in der Nacht als Opferung Maries für das Leben ihres hölzernen Freundes für die Nager zugänglich gemacht. Somit ist ihr Untergang besiegelt. Marie verabschiedet sich nur noch mit einem Kuss, auch hier beginnend bei dem Schäfer, der Schäferin und den Lämmern.12 Nach der Nacht sind „alle schönen Zuckerpüppchen der armen Marie […] zernagt und zerbissen.“13
Die Vernichtung der Schäferpuppen, kann mit der Zerstörung der Utopie im Sinne eines Nichtortes gleichgesetzt werden, denn:
„Die Forschung, die der Pastoralpoesie und insbesondere der antiken Bukolik gilt, in aller Regel die hellenistische und römische Hirtendichtung als Wunsch- und Traumland, als Ideal und Gegenwelt, als ursprüngliches oder einfaches Leben, als Fluchtreich, Sehnsuchtsort oder gar als Mutterschoß der Natur und Heimkehrziel des verlorenen Sohnes betrachtet, sie also als utopisch oder als utopischem Denken verwandt ansieht.“14
Die zerstörte Schäferidylle kann jedoch ebenso nicht nur die Vernichtung des utopischen Ortes bedeuten, sondern auch deren Gesellschaft, denn:
„Seit Vergil lebt die Schäferdichtung von der fraglos gewordenen Übereinkunft, im Schäfer den Dichter selbst oder andere nichtschäferliche Personen oder gesellschaftliche Gruppen zu verkörpern“15
Demnach symbolisieren die Schäfer Marie oder auch die gesamte Puppengesellschaft innerhalb des Reiches. Äußere Zerstörung kann ebenso zum inneren Zerfall führen.
Eine dritte Nachtphase verläuft ähnlich zu der zweiten. In der vierten Nacht verlangt der Mausekönig keine Süßigkeiten mehr, sondern Maries Bilderbücher und Kleider.16
In der darauffolgenden Nacht tötet der Nussknacker den Mausekönig und gibt Marie dessen sieben Kronen. Dies ist auch die Nacht der Reise in das Puppenreich.
Die Erreichbarkeit scheint einfachen Gegebenheiten zu folgen. Die Nachtszenarien spielen im Wohnzimmer der Familie Stahlbaum wie auch in Maries Schlafzimmer. Die restlichen Familienmitglieder des Hauses bleiben unberührt von den phantastischen Nächten. Die nächtlichen Ereignisse lassen lediglich Spuren für den kommenden Tag zurück. So macht der Mausekönig seine Drohung wahr und vergeht sich nachts an den Süßigkeiten. Die Knabberspuren sind auch am Tage zu sehen und liefern den zweifelnden Eltern den Beweis, dass Maries nächtlichen Mäuse tatsächlich vor Ort gewesen sind. Die sieben Kronen des Mausekönigs sind ebenfalls eine Gemeinsamkeit zwischen der Nacht und dem Tag, welche jedoch in der Konfrontation mit den Eltern wenig Erfolg bringen, da sie ihr Pate nicht unterstützt. Fritz' „pathetische Rede“17 am Tag an seine Soldaten mit gefolgtem Strafamt und sein Aufrüsten des Nussknackers mit einem Säbel zeigen in der Nacht Wirkung.18 Damit sind beide Richtungen des Geschehens einer Handlung, von der Nacht zum Tag und vom Tag in die Nacht, möglich.
Die Grenzen zwischen Tag und Nacht sind hier gleichsam die Grenzen zwischen Realität und dem Phantastischen.
Eine mögliche Deutung der Nacht als Uchronie, eine „durch fiktive zeitliche Ferne gekennzeichnete Form der Utopie“19, ist begründbar.
Das Nachtreich als utopische Zeit wird in drei Realitätsebenen unterteilt. Diese spielen sich in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ab.
Die gegenwärtige Zeit ist jene, welche vom Wohnzimmerschrank ausgehend die Bewohner des Reiches in die Schlacht gegen den Mausekönig führt. Die Vergangenheit bildet das Märchen von der harten Nuss, welches die Vorgeschichte mit der Entstehung des Fluches und den Grund für die Schlacht in der Gegenwart behandelt. Die Zukunft im Puppenschloss zeigt das Reich nach Auflösung des Fluches. Verschiedene Aspekte zeigen, dass es sich hier nur um ein Reich handelt, welches lediglich in unterschiedlichen Zeitetappen vorgestellt ist.
Im Märchen tritt Prinzessin Pirlipat auf, welche durch Marie in der Gegenwart und Zukunft verkörpert wird. Pirlipat lehnt den jungen Droßelmeier im Märchen ab, wendet sich ihm jedoch in der Gegenwart und Zukunft zu, welches u.a. den Fluch aufhebt. Maries Pate vergleicht sie mit der Prinzessin20 und auch im Schlaraffenland sieht Marie ihr eigenes Spiegelbild als Pirlipats.21
Der Nussknacker wird im Märchen verwandelt, kämpft im folgenden gegen die nächste Generation der Hexe Mauserinks in der Gegenwart und kehrt zum Schloss zurück.
Die Mäusefehde geht von der Vergangenheit bis hin in die Gegenwart, wo sie beendet wird. Im Puppenreich könnte der Riese Leckermaul der Mäusekönig gewesen sein, der sich in der Gegenwart an den Süßigkeiten vergreift und dabei Spuren im Puppenreich hinterlässt.
Die Orte der Handlung sind schwer zusammenzuführen, da im Märchen kein Ort konkretisiert ist (Nichtort), in der Gegenwart der Wohnzimmerschrank das Reich bildet und in der Zukunft das Puppenreich im Flurschrank vorzufinden ist. Äußerlich sind Veränderungen des Reiches im Laufe der Zeit sehr deutlich. Hingegen sind allerdings auch Gemeinsamkeiten zwischen Märchen und Gegenwart beispielsweise in Form der Feinde gegeben, sowie auch Gemeinsamkeiten in Gegenwart und Zukunft durch beiderseits auftretendes Spielzeug. Zeitlich ist der Zusammenhang allemal gegeben, was auf eine Uchronie hindeutet.
2.2 Der Spielzeugschrank im Wohnzimmer
Der Glasschrank stammt „von einem sehr geschickten Tischler […], der so himmelhelle Scheiben einsetzte und überhaupt das Ganze so geschickt einzurichten wusste, dass alles drinnen sich beinahe blanker und hübscher ausnahm, als wenn man es in Händen hatte.“22
Der Schrank hat also einen Effekt auf seinen Inhalt, wie sich hier u.a. zeigt. So wundert es auch nicht, dass dieser Glasschrank an Bedeutung im Werk gewinnt, indem die Spielzeuge in ihm zum Leben erwachen.
Im Innenleben des Schrankes herrscht eine gewisse unterteilte Ordnung:
„Im obersten Fache, für Marien und Fritzen unerreichbar, standen des Paten Droßelmeier Kunstwerke, gleich darunter war das Fach für die Bilderbücher, die beiden untersten Fächer durften Marie und Fritz anfüllen, wie sie wollten, jedoch geschah es immer, dass Marie das unterste Fach ihren Puppen zur Wohnung einräumte, Fritz dagegen in dem Fache drüber seine Truppen Kantonierquatiere beziehen ließ.“23
Die einzelnen Regalfächer sind thematisch unterschiedlich gestaltet und bilden in sich selbst einen Abschluss in dem z.B. Fritz Husaren und Maries Puppen voneinander getrennt in Szene gesetzt sind, in einer für sie abgeschlossenen Welt: Zum einen das Kantonierquatier und zum anderen das liebevoll gestaltete Wohnzimmer. Die „himmelhellen Scheiben“ der Schranktür bilden einen unüberblickbaren Horizont für die Innenwelt des Schrankes. Erst mit dem Hereintreten der Nacht beginnen sich sowohl die Ebenen im Schrank als auch jene Außenwelt in Form des Wohnzimmers der Familie Stahlbaum miteinander zu verschmelzen.
Die oberen Schrankebenen liegen außerhalb der kindlichen Reichweite und treten damit in den Hintergrund. Die Drahtkonstruktionen des Paten finden jedoch u.a. Erscheinung im Schäferballet im Puppenreich. Es ist ebenso möglich, dass auch Inhalte aus den Bilderbüchern in Maries Idee des Schlaraffenlandes eingeflossen sind.
Im Schutze der Nacht erwachen die Spielzeuge aus dem Wohnzimmerschrank und agieren untereinander, mit Marie und den Mäusen. Sowohl Fritz' Husaren als auch Maries Puppen, sowie der Nussknacker, die unterschiedlicher nicht sein könnten, bilden eine Allianz gegen die externe Bedrohung, die Mäuse. Eine intakte Gesellschaftsstruktur wird hier suggeriert, die der höfischen Idealgesellschaft ähnelt. Innerhalb dieser Sozialstruktur zeigt sich der Nussknacker als Anführer einer Armee, welche ihm mit „standhafter Treue“24 (zumindest seitens der drei Skarmuzzen, dem Pantalon, vier Schornsteinfegern, zwei Zitherspielmännern und dem Tambour) ergeben ist. Mamsell Klärchen als Vertreterin des Hofadels ist dem königlichen Heeresführer wohlgesonnen und will seinen Tod verhindern, indem sie Stürze Daheim verhindert und ihn bei sich in Sicherheit wissen will, anstatt an der Kriegsfront. Auch die Inszenierung von Maries Bändchen erinnert an einen Kriegshelden vergangener Zeiten, der lang von zu Hause fern ist und eines Erinnerungsstückes seiner angebeteten Dame bedarf. Die Armee des Nußknackers mag ihm treu ergeben sein, jedoch fehlt es ihr an Geschick.
So chaotisch wie die Puppen „durcheinander liefen und mit den kleinen Armen herumfochten“25, oder wie Klärchen und Trutchen in Ohnmacht fallen, zeigt sich auch die Strategieführung der Armee als solche sehr ungeordnet26.
In Kriegszeiten ist eine Gesellschaft auch nur so stark wie seine stärksten Kämpfer, was in diesem Zusammenhang ein weniger utopisches Bild zurücklässt. Die Idealgesellschaft zerbricht hier im Angesicht der drohenden Nacht und zerfällt in einer dystopischen Unordnung.
2.3 Das Märchen von der harten Nuss
Durch die doppelte Märchenstruktur kann hier von einer „Potenzierung des Märchens“27 gesprochen werden. Dichtung verkörpert in der Romantik ein „Medium von Wahrnehmung und Wahrheitsfindung in der gegenständlichen wie in der psychischen Welt“28. Erreichbar ist diese Geschichte für jeden, der sie erzählt bekommt. Die anfängliche Erzählung entspricht einem idyllischen Märchenreich mit einem glücklichen Königspaar und einer friedlichen Welt mit utopischen Zügen, die eventuell auch durch die Nichterwähnung anderer Umstände erreicht wird.
Die Kindesbeschreibung von Prinzessin Pirlipat gleicht einer Puppenbeschreibung.
„Ihr Gesichtchen war wie von zarten lilienweißen und rosenroten Seidenflocken gewebt, die Äuglein lebendige, funkelnde Azure, und es stand hübsch, dass die Löckchen sich in lauter Goldfäden kräuselten“29
Maries Vorstellung von der Äußerlichkeit einer Prinzessin verschmilzt mit dem Aussehen ihrer Puppen.
In dem Königreich gibt es ein weiteres Königreich, das Mäusekönigreich, in dem Frau Mauserinks herrscht. Eine Gesellschaft innerhalb einer anderen. Die Gesellschaften funktionieren unabhängig voneinander, obwohl Frau Mauserinks mit der Königin verwandt sein soll und Interaktionen stattfinden.30
Es liegt für keine der beiden Welten ein ideales Staatssystem vor. Die Königin ist ängstlich, da sie ihre Tochter in Gefahr sieht und alle anderen sind vergnügt.31 Eine Königsfamilie repräsentiert das Volk, womit ihr Wohlbefinden weit über das Glück des Einzelnen hinausgeht.
Auch Frau Mauserinks Königreich wird trotz vieler Opfer weiterhin auf Rachegelüste ausgerichtet. Es herrscht keine andauernde Zufriedenheit, auch wird diese nicht angestrebt, da sich andere Intentionen in den Vordergrund drängen. Die Erreichbarkeit der Hoffnungen und Wünsche beider Gegenparteien liegen in weiter Ferne. Die Aufhebung des Fluchs des jungen Droßelmeiers wird erst durch Maries Agieren mit dem Nussknacker akut und beugt sich einem Hoffnungsdenken. Erst mit dem Erscheinen des siebenköpfigen Mausekönigs wird die angekündigte finale Rache der Frau Mauserinks greifbar.
[...]
1 Beispielhaft zu nennen wäre hier der Aufsatz von Malin Sandin zur Doppelsinnigkeit in der romantischen Kinderliteratur, wo eine exotischere und eine esoterische Lesart vorgestellt werden.
2 Metzler, Utopie S. 795
3 Reallexikon, Utopie, (5) nach Landauer 1907
4 Ritter, Heinz: Novalis' Hymnen an die Nacht, Ihre Deutung nach Inhalt und Aufbau auf textkritischer Grundlage, Ihre Entstehung, 2. Auflage, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg, 1974, im folgenden bezeichnet als 'Nacht', hier S. 148
5 Schmitthenner, Hansjörg: Blume der Nacht, Traum und Wirklichkeit der Romantik, Südwest Verlag, München, 1968, S. 68f
6 Nacht, S. 195
7 Vgl. Nacht, S. 3
8 Vgl. NuM, S. 21
9 NuM, S. 61
10 Vgl. NuM, S. 61
11 NuM, S. 63
12 NuM, S. 63
13 NuM, S. 64
14 Schmidt, Ernst A.: Bukolik und Utopie, Zur Frage nach dem Utopischen in der antiken Hirtenpoesie [1], S. 21
15 Garber, Klaus: Europäische Bukolik und Georgik, Vorwort, XII
16 Vgl. NuM, S. 65
17 NuM, S. 67
18 Vgl. NuM, S. 67f
19 Metzler, Uchronie, S. 791
20 Vgl. NuM, S. 60
21 Vgl. NuM, S. 76
22 NuM, S. 17
23 NuM, S.17f
24 NuM, S. 24
25 NuM, S. 24
26 NuM, S. 29f
27 Wulf Segebrecht: E.T.A. Hoffmanns Nußknacker und Mausekönig – nicht nur ein Weihnachtsmärchen, In: E.T.A. Hoffmann. Jahrbuch. Band 17, Eich Schmidt Verlag, Berlin, 2009, S. 62-87, S. 63
28 Neumann, Gerhard: Puppe und Automate: inszenierte Kindheit in E.T.A. Hoffmanns Sozialisationsmärchen 'Nußknacker und Mausekönig' In: Jugend - ein romantisches Konzept?, Würzburg, 1997, S. 135 – 160, folgend als 'Neumann' bezeichnet, hier S. 137
29 NuM, S. 37
30 Vgl. NuM, S. 40
31 Vgl. NuM S. 38