Ehe als soziale Praxis. Ein Überblick über die Untersuchung von Eheschließungen im Kontext historischer Studien
Zusammenfassung
Sich einen Überblick über die Thematik, die auf den ersten Blick als eine sehr einfache, weil allgegenwärtige erschien, zu verschaffen, dauerte ein reichliches Jahr, indem mehrere hundert Literaturtitel konsultiert wurden. Die Allgegenwart des Themas ist es schließlich auch, die eine Fülle von Zugängen anbietet. Sinnbildlich steht man als Wanderer an einem Wegekreuz in weiter (Forschungs-) Landschaft: dutzende Wege führen zu dutzenden Sehenswürdigkeiten, doch keiner führt an allen entlang.
Einen Einblick oder, um bei der Metapher zu bleiben, einen ‚Reiseführer‘ zu bieten, ist das Anliegen dieser Arbeit. Selbstredend kann dabei kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden.
Die folgenden Ausführungen stehen dabei in einem weiteren Kontext: Der empirischen Untersuchung des Heiratsverhaltens bzw. der Eheschließungen in einer deutschen Großstadt gegen Ende des 19. Jahrhunderts, also in einer Zeit rasanten wirtschaftlichen Wachstums, der Urbanisierung, der massenhaften Migration und Mobilität. Es wird in diesem Gesamtkontext zu untersuchen sein, wer wen heiratete, das heißt, welche Determinanten das Heiratsverhalten bestimmten: Beruf, soziale Lage, Konfession, Alter sowie soziale und geografische Herkunft etc. Darüber hinaus sollen neben diesen quantitativen auch qualitative Zugänge genutzt werden, um Ehe als soziale Praxis begreifbar zu machen. Die Literaturlage ist, wie bereits angedeutet, diesbezüglich sehr ergiebig.
Ziel ist es, einen umfänglichen Einblick einerseits in die Forschungslage und aktuelle Fragestellungen zu gewinnen, andererseits über theoretische und praktische Zugänge zur Thematik Anregungen für eigene Untersuchungen zu erfahren.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Ehe als Institution zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Ein Exkurs zur Entwicklung des Eherechtes und der Eheauffassung im Preußen des 19. Jahrhunderts
2.1. Institutionen
2.2. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten
2.3. Das Bürgerliche Gesetzbuch
2.4. Folgerungen
2.5. Zusammenfassung
3. Ehe und Familie als Forschungsthemen. Ein Abriss
4. Ehe als soziale Praxis. Deskriptive und analytische Zugänge
4.1. Soziale Platzierung, soziale Praxis und soziale Gruppen. Eine Hypothese zur Wirkweise von Ehe als sozialer Praxis
4.2. Forschungszugänge
4.2.1. Muster und Strategien
4.2.2. Struktur und Kultur im Wechselspiel: äußere Gegebenheit und innere Dispositionen.
4.2.3. Faktoren und Tendenzen. Ehen und soziale Lagen
5. Fazit
6. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Wer sich die Ehe vornimmt, handelt sich eine Welt ein. Die der Politik und der Ökonomie und die der Phantasie, die der Köpfe und die der Herzen“, konstatiert Caroline Arni ihre äußerst anregenden Untersuchungen über die ‚Krise der Ehe um 1900‘.1
Und in der Tat beschäftigt die Frage, wer wen warum oder warum auch nicht heiratet seit geraumer Zeit die Gesetzgeber, Literaten, Wirtschaftswissenschaftler und Vertreter der verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen.
Sich einen Überblick über die Thematik, die auf den ersten Blick als eine sehr einfache, weil allgegenwärtige erschien, zu verschaffen, dauerte ein reichliches Jahr, indem mehrere hundert Literaturtitel konsultiert wurden. Die Allgegenwart des Themas ist es schließlich auch, die eine Fülle von Zugängen anbietet. Sinnbildlich steht man als Wanderer an einem Wegekreuz in weiter (Forschungs-) Landschaft: dutzende Wege führen zu dutzenden Sehenswürdigkeiten, doch keiner führt an allen entlang. Einen Einblick oder, um bei der Metapher zu bleiben, einen ‚Reiseführer‘ zu bieten, ist das Anliegen dieser Arbeit. Selbstredend kann dabei kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden.2
Die folgenden Ausführungen stehen dabei in einem weiteren Kontext: Der empirischen Untersuchung des Heiratsverhaltens bzw. der Eheschließungen in einer deutschen Großstadt gegen Ende des 19. Jahrhunderts, also in einer Zeit rasanten wirtschaftlichen Wachstums, der Urbanisierung, der massenhaften Migration und Mobilität. Es wird in diesem Gesamtkontext zu unter-suchen sein, wer wen heiratete, das heißt, welche Determinanten das Heiratsverhalten bestimmten: Beruf, soziale Lage, Konfession, Alter sowie soziale und geografische Herkunft etc. Darüber hinaus sollen neben diesen quantitativen auch qualitative Zugänge genutzt werden. Die Literaturlage ist, wie bereits angedeutet, diesbezüglich sehr ergiebig.3
Doch zunächst geht es in dieser Untersuchung um Forschungsrichtungen und -ansätze, um An-regungen, offene Fragen, Konzepte und Begriffe. Trennscharfe Kategorien ergeben sich dabei nur selten. Deshalb bedient sich diese Arbeit einer Doppelstruktur. Einem einführenden Exkurs zur Institution Ehe und zu deren Stellung in der Gesellschaft und im Recht am Ende des 19. Jahrhunderts wird sich ein Überblick zu den sich des Themas annehmenden Forschungsdisziplinen anschließen.4
Nach diesen notwendigen, dem Verständnis dienenden Ausführungen, wird im darauf folgenden Teil der Arbeit Ehe als soziale Praxis beschrieben und auf der Grundlage breit angelegter Lektüre und anhand von Beispielen ein vor allem historisch-soziologischer Literaturüberblick geboten. Ziel ist es, einen umfänglichen Einblick einerseits in die Forschungslage und aktuelle Fragestellungen zu gewinnen, andererseits über theoretische und praktische Zugänge zur Thematik Anregungen für eigene Untersuchungen zu erfahren.
Doch wozu überhaupt die neuerliche, hier konkret historische Beschäftigung mit der Ehe?
Die Ehe ist, wie zu zeigen sein wird, Schnittpunkt individueller, familialer und staatlicher Interessen. Sie berührt damit die Sphären des Privaten und des Öffentlichen, der Kultur, der Gesellschaft, des Rechts und der Wirtschaft sowie der Religion.5 Sie ist gesellschaftliche Institution und Rechtsinstitut, sie begründet idealiter neue Familien und führt bestehende Familien und Verwandtschaften zusammen. Die Ehe definiert verwandtschaftliche Beziehungen, legt Erbregelungen, Rechte und Pflichten der Verbundenen und Abstammenden fest; sie bildet auch den Rahmen der Kinderaufzucht und -erziehung. Damit steht sie „mitten im Herzen der Klassenbildung“.6
Von daher ist sie, auch aufgrund ihrer Quellenüberlieferung, geeignet, Heiraten als sozialgeschichtlich relevante Akte zu greifen.
Vorab ließe sich recht plakativ fragen: Wer heiratet wen im städtischen Raum? Heiraten Gleiche unter Gleichen oder ziehen sich doch eher die Gegensätze an? Gibt es Tendenzen zur Abgrenzung oder Öffnung bestimmter städtischer Gruppen? Falls dem so ist, warum, wodurch vermittelt und mit welchen Folgen? Und was bedeutet das für die Offenheit, für die soziale Mobilität der Stadtgesellschaft, der Gesellschaft – hier des Kaiserreiches – allgemein? Welche Zusammenhänge zu anderen Strukturdimensionen bestehen; also: Hängen, wie auch immer definierbare und definierte, rang-unterschiedliche Konnubien mit Veränderungen der Erwerbs- und der Wirtschaftsstruktur zusammen? Bestehen Zusammenhänge zwischen einer individuellen Mobilität – einer Berufskarriere bzw. einer gemessen an den eigenen Eltern günstigeren oder nachteiligeren sozialen Platzierung – und der Wahl des Ehepartners? Steigen Aufsteiger, mit anderen Worten, also auf der ganzen Linie auf und Absteiger ab? Wer steigt auf, wer ab? Welche Rolle kommt dabei der Eheschließung zu, wenn man andere Determinanten der sozialen Platzierung – Beruf und Bildung bspw. – berücksichtigt? Welchen Einfluss haben persönlicher Wille, die Familie, die Verwandtschaft, der Glauben und der Gesetzgeber auf die Eheschließung?7 Gibt es überhaupt einen persönlichen Willen im Sinne der Individualisierungstheorie der jüngeren Soziologie8 oder handelt es sich bei der Partnerwahl eher um ‚Fehlerausschlussverfahren‘ in einem Netz institutionalisierter, verinnerlichter Wert- und Erwartungshaltungen?
Es gibt, wie hier nur angedeutet wurde, etliche spannende Fragen, von denen nicht alle berücksichtigt oder beantwortet werden können. Die Zielsetzung der Gesamtkonzeption dieser Studie ist es aber, neben der rein statistischen Auswertung serieller Massendaten auch Interpretationsansätze zu bieten, die m. E. zu selten dort einen Platz haben, wo sich die Bearbeiter ganz der Empirik, also den ‚harten Fakten‘ verschrieben haben.
Wer wen heiratet, hängt nicht nur von eigenen oder familialen Platzierungsstrategien im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung ab, sondern in mindestens ebensolchem Maße von Anziehung, Emotionen, Möglichkeiten und Modalitäten des Kennenlernens, von familialer, außerfamilialer und nach-familialer Sozialisation durch ‚die Straße‘, peer groups, die Schule, Vereine und Kollegen.9 Es hängt, so wissen wir aus unzähligen Lebensberichten gerade proletarischer Schichten, von lebenszyklischer Migration, von Entwurzelung und der Suche nach dem Heimatlichen in der Fremde, vom Grad konfessioneller Verankerung, aber auch von Schließung und Selbstausschließung im Sinne eines lebens-weltlichen Distinktionsvermögens ab.10 – Ein weites und lohnendes Feld…11
2. Die Ehe als Institution zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Ein Exkurs zur Entwicklung des Eherechtes und der Eheauffassung im Preußen des 19. Jahrhunderts
In diesem Abschnitt soll der Charakter der Ehe als Institution herausgestellt und in sehr knapper Form die Charakteristik des Eherechts in Preußen – dem Rechtskreis späterer empirischer Unter-suchungen und dem Vorbild reichsdeutschen Eherechtes – thematisiert werden.
Die paradox anmutende Entwicklung des Scheidungsrechtes im Vergleich zum Eheschließungsrecht als einem „Neben- und Ineinander von Modernisierungsbemühungen und Modernisierungs-blockierungen“12, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Dieses Problemfeld im Rahmen dieses Ex-kurses auch nur annähernd adäquat zu umreißen, ist illusorisch. Weiterführend seien hierzu Dirk Blasius Untersuchungen zur ‚Ehescheidung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert‘ genannt.
2.1. Institutionen
Hartmut Esser skizziert in den ‚spezielle[n] Grundlagen‘ der Soziologie den Begriff der Institution als „eine Erwartung über die Einhaltung bestimmter Regeln, die verbindliche Geltung beanspruchen“.13 Ferner mache der Geltungsanspruch, also – nach Durkheim – die gesellschaftlich sanktionierte Ein-haltung bestimmter Verhaltensweisen, nicht allein die bloße Regelmäßigkeit bspw. eines Wochen-marktes, die Institution zur Institution.14
Entscheidend ist also die Existenz einer gesetzten Norm, die Verhaltenserwartungen und deren Ein-haltung nach sich zieht und Verstöße sanktioniert. Oder, frei nach Weber: Der Glaube an die Existenz einer legitimen Ordnung bedingt die Orientierung an einer legitimen Ordnung, wodurch sie Geltung erlangt.15
Worin besteht nun der institutionelle Charakter der Ehe und warum ist dieser vermeintlich so private Akt institutionalisiert? Ehen sind Verbindungen zwischen Familien und begründen ihrerseits neue Familien mit weitreichenden Rechten und Verpflichtungen.16
Das Eherecht kann dem einerseits gerecht werden, kann dem aber auch zuwider laufen, wenn es sich nicht den Gegebenheiten sozialen Wandels anpasst.17
2.2. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten
So spiegelt das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) von 1794, dessen Be-stimmungen bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) am 1. Januar 1900 Gültigkeit besaßen einerseits den Gedanken der (absolutistischen) Aufklärung wider: Die Ehe wird als natur-rechtlicher Vertrag zwischen Gleichen zur Erreichung definierbarer Ziele – im Geist des preußischen Populationismus der „Erzeugung und Erziehung der Kinder“ und „zur wechselseitigen Unter-stützung“18 – betrachtet. Gemäß diesen Maximen ist der Vertrag bei Nichterreichen der Ziele lösbar, d. h., wenn Nachwuchs ausbleibt oder die zur Ehe führenden – explizit auch rein ökonomischen – Umstände sich als irrig erwiesen.19 Kein Hinweis auf ‚Liebe‘ oder ‚Zuneigung‘ fand Eingang in die familienrechtlichen Bestimmungen des ALR.20 Als Novum des späten 18. Jahrhunderts und der Auf-klärung geschuldet, kann die Berücksichtigung des persönlichen Glückseligkeitsstrebens erwähnt werden: wenn die Ehe kinderlos und zerrüttet war, konnte sie aufgrund gegenseitiger Abneigung getrennt werden; diese Vorform des Zerrüttungsprinzips erfuhr erst 1977 wieder die völlige Auf-nahme in bundesdeutsches Recht.
Andererseits war das ALR stark den wirtschaftlichen Gegebenheiten des vorindustriellen Preußen um 1800 verhaftet. Dies wird manifest in den die hausväterliche Autorität stärkenden Bestimmungen über die ausschließlich männliche Verfügung über alles in die Ehe eingebrachte materielle Gut und die generelle Vormundschaft über die Frau bzw. über die Kinder bis zu deren Großjährigkeit.21 Die Frau wurde, um es zuzuspitzen, unter den Bestimmungen des ALR vom Zeitpunkt ihrer Heirat an zur eingeschränkt geschäftsfähigen Person, rechtlich vertreten durch Ihren Ehemann, den ‚Hausvater‘.22
2.3. Das Bürgerliche Gesetzbuch
Anders verhält es sich im Familienrecht des BGB, an dem in mehreren Kommissionen verstärkt seit den 1870er Jahren gearbeitet wurde.23 Dort ist die Ehe Selbstzweck; Kinder sind zwar unausgesprochen integraler Bestandteil, jedoch führt die Kinderlosigkeit eines Paares nicht zu dessen Trennung. Materielle Erwägungen, die im ALR als Heiratsmotiv als selbstverständliches Eheeingehungsmotiv erfasst sind, fehlen im BGB.24
Was war passiert? Hatte sich die Eheauffassung im ‚langen 19. Jahrhundert‘ vom Naturrechtsvertrag zum individuellen Akt gewandelt?
Weder im materiellen Güterrecht, noch in der Stellung des Ehemannes als Haushaltsvorstand bzw. richtiger als Familienoberhaupt hatte sich Essentielles geändert.25 Was sich geändert hatte, waren neben den ideellen Voraussetzungen einer Ehe auch die wirtschaftlichen Realitäten und das, was in älteren Studien als ‚Bevölkerungsweise‘ bezeichnet wird.26
Das bedeutet zum einen, dass an die Stelle nomineller Eheschließungsmotivationen die ‚Liebe‘ trat – ein romantisches Konzept intellektueller Eliten, das mediale Verbreitung und breite Aufnahme in bürgerlichen Kreisen fand und von dort aus eine enorme Ausstrahlung auch auf unterbürgerliche Schichten hatte.27 Wie Edeltraud Kapl-Blume zeigen konnte, lässt sich diese Entwicklung auch in den zeitgenössischen Lexika, gewissermaßen als Spiegel allgemein gültiger Normen, nachzeichnen.28 Aus-schlaggebend ist dabei der Siegeszug dieses bürgerlichen Ideals und dessen Erhebung zur gesellschaftlichen Norm – auch zur Rechtsnorm mit dem damit verknüpften Geltungsanspruch.29 Aus den vertragsrechtlich normierten Ehemotiven im ALR wurde die Genrealklausel der „ehelichen Lebens-gemeinschaft“ mit dem Ziel „das sittliche Wesen der Ehe“ zu befördern.30
Im Verlauf des 19. Jahrhundert, vor allem in dessen zweiter Hälfte, hatte sich Deutschland zum urbanisierten Industrieland entwickelt. Damit einher ging neben einer erhöhten Mobilität der Bevölkerung, der Verstädterung ganzer Regionen, technischen Neuerungen und der Entstehung wirklicher Massengewerke eine – bereits vorher sich abzeichnende – Trennung von Produktion und Konsumtion.31
Das BGB berücksichtigt diese Umstände, indem es der erhöhten Mobilität und der frühen wirtschaftlichen Selbständigkeit großer Bevölkerungsgruppen Rechnung trägt und den elterlichen Konsens bei der Eheschließung aus Zeiten des ALR abschafft, besser gesagt die diesbezüglichen Bestimmungen des Reichspersonenstandsgesetzes von 1875 beibehält, also das elterliche bzw. vormundschaftliche Einverständnis für Männer ab dem 25. und Frauen ab dem 24. Lebensjahr aussetzt.32
Der ‚Niedergang des ganzen Hauses‘ charakterisierte gleichsam das 19. Jahrhundert.33 Das ‚Haus‘ zerfiel und wurde zur Wohnung, die der bürgerliche Mann – vom nicht-bürgerlichen an anderer Stelle mehr – morgens verließ, um einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachzugehen, während die bürgerliche Frau daheim die Kinder hütete, schöngeistigen Betätigungen nachging oder das oft knappe Budget verwaltete.34
Ideologisiert wurde diese Funktionsteilung in der öffentlichen Debatte nicht wie im ALR mit einem Verweis auf die naturrechtlich begründeten, verschiedenen Aufgaben von Mann und Frau im ‚Haus‘, sondern durch Biologismen. So wurde das passive, häusliche der ‚schwachen‘ Frau, das aktive, welt-gewandte, kämpferische dem Mann zugewiesen. Der Mann wurde idealiter zum Alleinversorger, zur „Ulme für das schwankende Efeu“.35 Diese Geschlechtscharaktere finden ihren Niederschlag zum Beispiel in der gemessen am ALR noch verstärkten Rechtsunmündigkeit der verheirateten Frau im BGB.36
2.4. Folgerungen
Damit soll in stark vereinfachter Form auf dreierlei hin gearbeitet werden. Erstens, die Vorstellungen über eine gesellschaftliche Institution entstammen ihrem Zeitgeist – einem nur schwer gänzlich zu zerlegendem Amalgam aus der Realität geschuldetem Pragmatismus sowie gewohnheitsmäßigen und religiösen, auch regionalen Vorstellungen, Traditionen und Konventionen.37 Diese Vorstellungen sind zweitens wandelbar, verändern sich also im Zuge bspw. sich ändernder wirtschaftlicher Realitäten, da diese Anpassungsleistungen der Menschen nach sich ziehen und somit u.a. traditionelle Praktiken obsolet werden lassen.38
Mit, durch und neben strukturellen Veränderungen gehen aber auch drittens ideelle Veränderungen vor sich.39 Der Gesetzgeber reagiert darauf. Im Sinne der Neuregelung des ehelichen Güterrechtes oder der Emanzipation der Kinder kann das sinnvoll sein. Doch darüber hinaus bemühte sich das BGB, ideellen Werten – romantischer bzw. ‚vernünftiger Liebe‘40 – normativen Wert zu geben. Damit wurde ein bürgerliches Elitenkulturideal zum Gesetz, zur Institution und somit zum Inbegriff des Legitimen und Erstrebenswerten, zum sanktionierbaren Anspruch!41
Komplikationen ergeben sich daraus in zweifacher Hinsicht. Erstens, in jenen Gruppen, bei denen das bürgerliche Kulturideal ‚Liebe‘ keinen oder noch keinen Zugang gefunden hat und zweitens, für jene Paare, deren Liebe sich als nicht dauerhaft erweisen sollte. ‚Wilde Ehen‘, Sittenverfall und die ‚Krise der Ehe‘, also Scheidung oder Ehe-Unlust galten zeitgenössischen Beobachtern als geradezu symptomatische Zerfallserscheinungen.42
Das BGB, und hierin liegt seine philosophische Schwäche im Eherecht, reagierte darauf, indem es nach Institutionalisierung des Nicht-Greifbaren, des Ideellen, das juristisch Handhabbare, das Materielle, setzte. Gemäß der Devise: ist die Ehe inhaltsleer, so muss zumindest ihre Form gestärkt werden.43 Das extrem restriktive Scheidungsrecht des BGB und sein liberales Eheschließungsrecht spiegeln diesen Antagonismus wider.44
Substantiell und juristisch nachvollziehbar, liegt dem die Angst zu Grunde, durch ein liberales Scheidungsrecht die Familienverhältnisse im Sinne der Sozialisationsorte der Kinder und Garanten der weiblichen und männlichen Moral zu gefährden und damit eine Entwicklung zu forcieren, wie man sie im proletarischen Milieu bereits verwirklicht glaubte.
Auch ist es bezeichnend, dass die Scheidung dem BGB nach von einem Staatsanwalt verhandelt wurde und mit der strafrechtlichen Verurteilung eines der Ehegatten endete, während dem ALR nach Scheidungen als Zivilprozess mit Schuldfeststellung verhandelt wurden.45 Dem Staat lag also sehr viel daran, bestehende Ehen zu erhalten, da der Form, nicht dem Innenleben nach, stabile Ehen und Familien als staatstragend und sozial befriedend angesehen wurden.46 In der zeitgenössischen Diskussion kommt das axiomatisch zum Ausdruck, wenn die Ehe als „,sittliche[s] Erziehungsmittel‘ …im Kampf gegen ‚Socialdemokratie und Anarchismus‘“ bezeichnet wird.47
2.5. Zusammenfassung
Ehen vermitteln Allianzen und ziehen Deszendenzen mit entsprechenden Erb-, Fürsorge- und Gehorsamspflichten der Gatten(familien) zueinander und der Kinder gegenüber den Eltern und umgekehrt nach sich. Die Modi, in denen diese Akte stattzufinden haben, regelt der Gesetzgeber in Akzeptanz realer Umstände und – im BGB – unter einer erzieherischen, sozial-disziplinierenden Ägide. Die ideellen Grundlagen entstammen dabei zeitgenössischen kulturellen Strömungen, aber auch langer – christlicher, ländlicher, ständischer – Tradition sowie der Reaktion auf strukturelle Gegebenheiten in einer verstärkt in Bewegung geratenen Gesellschaft.
Preußens Eherecht im 19. Jahrhundert wird so durch seine Mittelstellung zwischen zwei Rechts-codizes charakterisiert; dem des populationsfreundlichen ALR einerseits und dem des ordnungs-politischen BGB andererseits.48 Dem für seine Zeit ambivalenten, doch fortschrittsorientierten, die Ehe als Geschlechtervertrag auffassenden ALR und dem im Entstehen begriffenen, eine restaurative Ehe- und Familienauffassung staatstragender Schichten widerspiegelnden BGB.49 Kultur und Struktur, hier reduziert auf die respektablen Ehezwecke und wirtschaftliche Gegebenheiten, beeinflussen dabei das Recht, das Recht beeinflusst durch seine Institutionalisierung des von den Gesetzgebern als legitim und respektabel betrachteten wiederum die Kultur, hier konkret: die Ehe als einzig legitime, geduldete und erstrebenswerte Form der Geschlechtsgemeinschaft mit weiterreichenden Verhaltenserwartungen – der Ernährerschaft des Mannes, der Mutterrolle der Frau, dem Gehorsam der Kinder etc. Daraus ergeben sich Konflikte in Gruppen, die aus verschiedenen Gründen – eigene kulturelle und ideelle Traditionen und Motive hinsichtlich der Ehe bspw. – nicht oder noch nicht dieser Elitenkultur nacheifern.50 ‚Wilde Ehen‘, arbeitende Mütter und uneheliche Kinder sind gerade-zu Schreckgespenste des bürgerlichen 19. Jahrhundert und Inbegriff proletarischer Missstände.51
Da das preußische Eheschließungsrecht im 19. Jahrhundert vergleichsweise liberal war, bspw. schon früh die Möglichkeit zu heiraten von der Möglichkeit der Gewerbeausübung und Ansiedlung trennte, da es auch nie den politischen Ehekonsens durchsetzte, also nicht entschied, wer wen heiraten durfte, lagen die Verehelichungsquoten in Preußen, gemessen an vielen süddeutschen Staaten vor der Einführung des Reichspersonenstandsgesetzes 1876, vergleichsweise hoch.52
Die Ehe im späten 19. Jahrhundert hatte auf Reichsebene durch die Bestimmungen des Reichspersonenstandsgesetzes sicherlich an Exklusivität verloren. Prinzipiell war es jeder ehemündigen, geschäftsfähigen Person, unabhängig von Einkommensverhältnissen und Konfessionszugehörigkeit, erlaubt, die Ehe einzugehen; von einigen Reservatrechten für das Königreich Bayern und für Militär-angehörige einmal abgesehen.
Maßgeblich dabei sind jedoch die damit implizit gesetzten Erwartungshaltungen der Gesetzgeber an die erwachsene Bevölkerung: in einer ordentlichen, vor dem Staat, durch den Staat geschlossenen ‚ehelichen Lebensgemeinschaft‘ zu leben. ‚Wilde Ehen‘, obgleich sie in proletarischen Milieus und in vielfältigen historischen Kontexten als nichts verwerfliches anzusehen waren53, wurden als sitten-widrig rigoros bekämpft, selbst wenn die Beziehung der Partner zueinander und gegenüber den Kindern als stabiler betrachtet werden konnte, als es in vielen innerlich zerrütteten, formal jedoch ordentlichen Ehen der Fall gewesen sein mag.54
Darin besteht der institutionelle Charakter der Ehe im ausgehenden 19. Jahrhundert und fortan: das verinnerlichte, dem Bürgertum entstammende, Liebesideal als einzig akzeptablen Eheschließungs-grund anzuerkennen, ferner die Stabilität der Ehe über das persönliche Glück der Verheirateten zu stellen und abschließend dieses alles zur Norm auch für nicht-bürgerliche Schichten zu erheben und damit einen Konformitätsdruck auf Anschauungen und Verhaltensweisen eines Großteils der Be-völkerung zu erzeugen, dem dieses kulturell und traditionell fremd war.55
3. Ehe und Familie als Forschungsthemen. Ein Abriss
Kaum eine Praxis beschäftigte die Geistes-, aber auch die Naturwissenschaften so anhaltend wie die Ehe.56 Je nach Zugang zur Thematik und Erkenntnisinteressen erhält man verschiedene Ergebnisse und Interpretationsansätze zur Deutung verschiedener Ehepraktiken und -muster.57
Wenn man die Eheschließung bspw. als Ergebnis strukturalistischer Prozesse versteht, wird man empirische Heiratsmuster kritisch gemäß oder entgegen den Konzepten der Protoindustrialisierung, der Industrialisierung und Urbanisierung je nach Untersuchungsraum, -zeitspanne, und -kontext mit Familienökonomien, Erbregelungen und Konjunkturzyklen sowie Änderungen der Berufs- und Wirtschaftsstruktur zu erklären versuchen. In dieser Tradition stehen in der deutschen Forschung die meisten seit den 1970er Jahren aus sozialgeschichtlichen Wurzeln erwachsenen historisch-demografischen und der Historischen Familienforschung zuzuordnenden Arbeiten, aber auch Übersichtwerke zur Geschichte der Familie.58
Gemein ist den empirischen unter diesen Abhandlungen meistens die Fokussierung auf ländliche Gemeinden über längere Zeiträume von der frühen Neuzeit bis in die Frühphase der Industrialisierung hinein; selten darüber hinaus. In solchen Orten – aufgrund der Quellenüberlieferung meistens in Hessen oder Baden-Württemberg gelegen – ist soziales Handeln überschaubar. Das von David W. Sabean untersuchte Neckarhausen bspw. bewohnten zu keinem Zeitpunkt mehr als 500 Einwohner. Dadurch werden methodische Zugänge möglich, die sich für die Gesamtheit einer Stadtbevölkerung über einen längeren Zeitraum nicht umsetzen lassen.59
Eine alltagsgeschichtliche Darstellung des Heiratsverhaltens, z. B. der ländlichen Bevölkerung in vor- und frühmodernen Zeiten mit einem eher kulturgeschichtlichen Zugang, wird gleichfalls auf die Rahmenbedingungen der Familien-, bessergesagt der Hausökonomie verweisen, wird den Fokus der Interpretation aber auch auf kulturelle Besonderheiten im Sinne religiöser, regionaler und lokaler Praktiken richten und so ein, nicht rein auf die Sphäre des Funktionalen und des Strukturalistischen begrenztes Bild zeichnen.60 In diese Kategorie fallen auch etliche vor allem kultur- und klassen-geschichtliche Studien über die (interdependente) Entwicklung bestimmter Bevölkerungsteile.61
Die Zugänge können dabei sowohl über quantitative als auch qualitative Quellen erfolgen; der Fokus kann auf einer Mikro- oder, komparativ, auf einer Makroebene liegen.62 Biografische und netzwerk-analytische Studien zu den Beziehungsgeflechten einzelner Familien und Verwandtschaften, vermittelt durch deren Erbgänge, Heiraten, Amtshilfen etc. sind in diesem Zusammenhang zu nennen.63
Dieses oft diffus Scheinende, das den sozialgeschichtlichen Zweigen den Vorwurf der Methoden-losigkeit bzw. -schwäche einbrachte, ist mittlerweile selbst zur Forschungsgeschichte geworden. Aktuelle Zugänge bedienen sich relativ frei multidisziplinarer Konzepte und modifizieren sie ihrer eigenen Fragestellung gemäß.64
Die Vergleichbarkeit vieler Studien erleichtert das nicht unbedingt, doch bereichert es ihre Erkennt-nisse.65
Inspiriert durch Erkenntnisse, Methoden und Fragestellungen der Soziologie, ihrer Subdisziplinen, und kulminierend in deren Schnittmenge zur Sozialgeschichte, der Historischen Sozialforschung, der Mobilitäts- und der Ungleichheitsforschung, entstanden zahlreiche Abhandlungen zu sozialen und familialen Platzierungsstrategien und deren Verwirklichung durch Berufswahl und Konnubium bzw. zu Klassenbildungsprozessen und zum Zusammenhang von Wirtschaftsstruktur, respektive Familien-ökonomie und Heiratsverhalten.66
Im Kontext multivariater statistischer Analyseverfahren in der Mobilitäts- und Ungleichheits-forschung spielt die Ehe eine zentrale Rolle bei der Beschreibung und Interpretation der Vermittlung, Veränderung oder Perpetuierung sozialer Lagen. Deskriptive und analytische Konzepte, allen voran Klasse, Stand, Schicht und soziales Milieu, die in der Soziologie zahlreiche Aktualisierungen erfahren haben, um sie für die Untersuchung moderner Gesellschaften operationalisierbar zu machen, versuchen die keineswegs immer offensichtlichen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Dimensionen zu abstrahieren.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Max Webers Überlegungen zum Verhältnis der vorrangig durch Einkommen und Besitz generierten Klassen zu denen des durch soziale Ehre – oder, mit anderen Worten: teils aktuelle, teils historische, teils obsolete Prestigevorstellungen und deren Geltungsansprüche – erzeugten Standes. Beide Kategorien stehen je nach Kontext nebeneinander, oftmals bedingen sie sich aber auch und überlagern sich.67 Auch ist Webers Konzept von Klasse und Stand nicht unvereinbar, wenn auch die Schwerpunkte verschoben sind, mit Bourdieus Konzepten des Habitus und des Feldes.68
Darüber hinaus bietet die aktuelle Forschungslandschaft eine Vielzahl interdisziplinärer Ansätze an, um den Themenkomplex um Ehe und Familie zu entwickeln. Untersuchungen zur Attraktivität, zum Schönheitsideal in bürgerlichen und proletarischen Schichten, zur Sexualmoral, zur Ökonomie der Eheschließung, zur Eheanbahnung – also den Modi des Kennenlernens und der Paarbildung – und viele weitere mehr, seien hier lediglich genannt.69
Je nach Fokus entstanden und entstehen so Studien zur Rolle der Frau im Eherecht, zur Entwicklung des Ehe- und des Scheidungsrechtes und dessen Auswirkung auf die Eheauffassung, zur Konstituierung der Geschlechtscharaktere und zur Genesis der ehelichen, manchmal romantischen, manchmal ‚vernünftigen‘ Liebe.70
Eine Trennschärfe in der Kategorisierung wird sich in Einzelfällen nicht realisieren lassen; dafür sind die Fragestellungen der Wissenschaftler zu weitreichend. David W. Sabeans Studien über das kleine schwäbische Dorf Neckarhausen bspw. ging methodisch die Erfassung der ‚natürlichen Bevölkerungsbewegung‘, d.h. der Geburten, Heiraten und Todesfälle sowie der Besitzstände der lokalen Familien über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten voraus. Offensichtlich erging es ihm dabei auch wie so vielen seiner Kollegen71, die sich – frei nach Arni – die Ehe vornahmen und sich eine Welt einfingen: Untersuchungen zu dörflichen Heiratsmustern folgten solche über die zu-nehmende Bedeutung der Verwandtschaft bzw. der Ehe unter Verwandten unter Berücksichtigung der Verflechtung von Ehe und wirtschaftlichem Wandel in der frühindustriellen Phase des Ortes. Überlegungen zur Heiratsmotivation im Wechselspiel eines doppelten Erzählstranges, dem der wirtschaftlichen und dem der kulturellen Entwicklungen der Moderne kulminierten in einem in Zusammenarbeit mit Hans Medick veröffentlichen Sammelband und der Feststellung, dass jeder Ehe materielle und individuelle Interessen zu Grunde lägen.72 Ferner richtete Sabean seine Aufmerksamkeit auf das gewissermaßen Zwischenmenschliche, das Paarbildende: die Ästhetik.73 Dieser soziale Code, der Bourdieus Begriff des Geschmacks und des Distinktionsvermögens durchaus nahe steht, vermittelt schichtspezifisch wer wen überhaupt als Partner für eine Eheschließung – die nichts weiteres als die einzig legitime, respektable und zugleich normierte, das heißt institutionalisierte, Form der Partnerschaft darstellt – in Betracht zieht. Letztlich versuchte sich Sabean an einer großen Synthese zur Entwicklung der Verwandtschaft, ‚Kinship in Europe‘.
Facettenreich gestaltet sich neben der sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Literatur und der ihrer Subdisziplinen wie zum Beispiel der Frauen- und Geschlechtergeschichte, auch die der Übersichts-darstellungen zum ‚langen 19. Jahrhundert‘ bzw. zum Deutschen Kaiserreich, zur Geschichte der Familie, zur Urbanisierung und zur Migration als die Ehethematik gleichfalls tangierende Aspekte.74
Heidi Rosenbaum, um nur auf eine solche Arbeit exemplarisch einzugehen, leitete von der Über-legung ausgehend, dass die materielle Lage einer Familie ihre Form typisiere, verschiedene, durch ökonomische Determinanten geprägte, bspw. durch hohes, bzw. niedriges Heiratsalter und hohe, bzw. niedrige Kinderzahl charakterisierte, Familienformen ab.75 Rolf Gehrmann bemerkt dazu sehr treffend in seiner einleitenden Revision des Forschungsstandes, dass solche „abstrakte[…] Funktions-logik“ die Diskussion zwar anregen könne, jedoch fehl gehe, wenn der Blick auf Alternativen dadurch versperrt und die historische Realität daran gemessen werde.76
Außerdem gibt es eine Fülle von Abhandlungen zur Lage, zu den Mentalitäten, zur Entwicklung und zum Sozialverhalten – darunter fallen auch Eheschließungen – einzelner sozialer Gruppen im ländlichen und städtischen Raum; seien es, ‚die Arbeiter im Deutschen Kaiserreich‘, ‚das Bürgertum‘, ‚die Angestellten im Industrialisierungsprozess‘, ‚der Aufsteiger‘‚ ‚ländliche Unterschichten‘, Handwerks-gesellen und -meister, Dienstmädchen etc.77
Die Ehe ist eben – im 19. Jahrhundert gilt das in besonderem Maße – ein Aspekt des Lebens der meisten Menschen. Zunehmende Verehelichungsquoten der zeitgenössischen Statistik belegen das.78
Grundlegend muss festgehalten werden, dass es die beispielhafte Untersuchung über die Ehe als soziale Praxis nicht gibt. Jede Untersuchung hat ihre eigenen Erkenntnisinteressen und Methoden, ihre je eigenen, meist multidisziplinaren Zugriffe und Quellen, fühlt sich mehr der Soziologie oder der Historischen Demographie verhaftet oder aber auch einer, wenn nicht mehrerer jener Mischformen in einem weiten Feld aus historischen, sozialwissenschaftlichen, juristischen und sogar naturwissen-schaftlichen Ansätzen.79 Vielfach sind diese Zugänge nicht inkommensurabel, das heißt, sie ergänzen, überlagern oder durchdringen sich. So steht, um ein weiteres Beispiel anzuführen, Bourdieus Kapital-theorie, nach der jeder Akteur, einem Spieler gleich, die ihm gegebenen Kapitalsorten so gewinn-bringend wie möglich im sozialen Feld verhandelt, nicht in scharfer Abgrenzung zur wirtschafts-wissenschaftlichen Kompensationstheorie bzw. zur Austauschtheorie.80
4. Ehe als soziale Praxis. Deskriptive und analytische Zugänge
Wie bereits dargelegt, gibt es unzählige, aus verschiedenen Traditionen erwachsene und sich zum Teil gegenseitig beeinflussende, aufeinander fußende und sich durchdringende Disziplinen und Zugänge zur Ehethematik. Diese Zusammenhänge in Form einer reinen Forschungsgeschichte dar-zustellen, muss scheitern. Vielmehr soll ein synthetisierender Überblick über die Funktionsweisen von Ehe als sozialer Praxis angeboten werden und exemplarisch in Forschungsansätze, -kontexte und -probleme eingeführt werden.81 Was dabei entstehen kann, ist eine konzentrierte Skizze, die auf hohem Abstraktionsniveau die Ansichten und Paradigmen einstiger und künftiger multidisziplinarer Forschung abbildet.
4.1. Soziale Platzierung, soziale Praxis und soziale Gruppen. Eine Hypothese zur Wirkweise von Ehe als sozialer Praxis
Vereinfachend wird voran gestellt, dass die soziale Platzierung eines Individuums und – auf einer höheren Aggregationsebene – ganzer sozialer Gruppen durch die Wahl bzw. die Ausübung eines Berufes, die Art und Dauer der Ausbildung und die Wahl eines Ehepartners bestimmt wird.82 Der Beruf bspw. bestimmt durch die berufstypischen Verdienstchancen über den Umfang des Konsums, des Sparens sowie die Art und das Volumen möglicher Investitionen. Die Qualität der Ausbildung entscheidet idealiter über zu erwartende Berufschancen und, neben anderen Faktoren, über das gesellschaftliche Prestige seines Trägers. Über Eheschließungen ergeben sich für die Eheschließenden dieselben, mitunter sogar potenzierten Effekte, d. h., dass Einheirat in eine wohlhabende Familie eine Steigerung des eigenen Wohlstands bedeutet, bzw., dass das Prestige des einen auf den anderen Ehepartner übergehen kann. Manifest wird das z. B. in der illustren Anrede ‚Frau Doktor/Amtsrat‘.83
Berufswahl, Ausbildung und Eheschließung sind zugleich Entscheidungen im Leben des Einzelnen mit hoher Verbindlichkeit. Daher liegen ihnen Strategien zu bestmöglichen Umsetzung – praktisch be-deutet das Statuserhalt oder -verbesserung – zu Grunde.84 Man erlernt i. d. R. nur einen Beruf, ab-solviert zielgerichtet einen Bildungsweg und heiratet einander für die Dauer der verbliebenen Lebenszeit eines der Partner. 85 Oder, um es mit dem Volksmund zu sagen: „Gut gefrühstückt spürt man den ganzen Tag, gut geschlachtet das ganze Jahr, aber gut geheiratet das ganze Leben.“86
Eheschließungen sind hochkomplexe soziale Praktiken und können nicht auf rein ökonomistische oder rein kulturelle Erklärungsversuche reduziert werden. So hat einerseits Josef Ehmer zeigen können, dass trotz moderner Lohnarbeitsbedingungen und einer sozialen Angleichung der Gesellen verschiedener Handwerke an Facharbeiter verwandter Branchen und zum Teil obsoleter tradierter Werdegänge im ausgehenden 19. Jahrhundert – insbesondere den Brauch der Meisterwerdung vor der Gründung einer Familie – alte, ständische Verhaltensmuster überdauerten.87 Andererseits lässt der auffällige Befund schichtendogamen Heiratens in vielen Studien den Schluss zu, dass ein roman-tisches Liebesideal, dessen Realisierung theoretisch jegliche Eheschließungsmuster hätte auflösen müssen, nicht den alleinigen Ausschlag bei der Partnerwahl bildete.88 Es ist also danach zu fragen, wie Ehe als soziale Praxis funktioniert. Schema 1 verdeutlicht die hypothetische Wirkweise; auf die Inhalte und die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Größen wird im Folgenden eingegangen.
[...]
1 C. Arni, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln u.a. 2004. (= Diss. Bern 2002), 331.; vgl. auch M. Hohlkamp, Wer ist mit wem, warum und wie verheiratet? Überlegungen zu Ehe, Haus und Familie als gesellschaftliche Schlüsselbeziehungen am Beginn des 19. Jahrhunderts - samt einem Beispiel aus der Feder eines Mörders, in: I. Schmidt-Voges (Hrsg.), Ehe - Haus - Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750-1850. Köln u. a. 2010, 33.
2 Einige Anregungen zu den zahlreichen Ansätzen allein der Historischen Demographie bietet G. Fertig, Geschwister – Eltern – Großeltern. Die Historische Demographie zwischen den Disziplinen. Historical Social Research 30.2005, H. 3, 5-14. Wie Fertig sehr richtig ausführt, hängt die Art des Zuganges von den Interessen, aber auch von den Fähigkeiten des Einzelnen ab. Komplizierte statistische Verfahren wie die log-lineare Analyse oder die logistisches Regressionsanalyse sind in Dtl. nicht allgemein üblich.
3 Methodik bzw. Methodenkritik sind Gegenstand der zweiten in diesem Kontext verfassten Arbeit.
4 Der Fokus in Rechtssachen liegt dabei auf Preußen, dem Rechtskreis späterer empirischer Studien und dem Maßstab in Eheschließungsangelegenheiten für das Deutsche Kaiserreich ab 1876.
5 Exemplarisch: durch Familienallianz arrangierte Kapitalgesellschaften zur Unternehmensfinanzierung, M. Perrot (Hrsg.), Von der Revolution zum Großen Krieg, in: P. Ariès/G.Duby (Hrsg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4, Frankfurt (Main) 1994³, 118 ff.
6 H. Zwahr, Proletariat und Bourgeoisie in Deutschland. Studien zur Klassendialektik, Köln 1980, 147.
7 Es könnte bspw. interessant sein, zu prüfen, ob Katholiken sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts an das kirchliche Eheschließungsverbot während der Fasten-/Adventszeit bzw. an Freitagen (Tod Jesu) hielten. Andererseits muss dabei berücksichtigt werden, dass der staatlichen Eheschließung von frommen Katholiken auch keine Bedeutung beigemessen worden sein könnte, sie vielmehr als bloßer Rechtsakt begriffen wurde. Ob die kirchliche Trauung gemäß den Glaubensvorschriften stattfand, steht nicht in den Standesamtsregistern.
8 Kritisch zur These des Bedeutungsverfalls der ehelichen Platzierung in individualisierungstheoretischen Abhandlungen bspw. U. Gerhard, Die Ehe als Geschlechter- und Gesellschaftsvertrag. Zum Bedeutungswandel der Ehe im 19. Und 20. Jahrhundert, in: I. Bauer/Ch. Hämmerle/G. Hauch (Hrsg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen 2005, 449 f.
9 Exemplarisch dazu: A. Gestrich/J.-U. Krause/M. Mitterauer, Geschichte der Familie, Stuttgart 2003, 641 (Verwandtennetzwerke zur Kreditierung, Stellenbeschaffung), a. a. O., 642 ff. Nachbarn, 644-47 Vereine, Wirtshaus, Familie. Zur Erziehung im soz. Milieu siehe K. Tenfelde, Historische Milieus - Erblichkeit und Konkurrenz, in: M. Hettling/P. Nolte (Hrsg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München 1996, 247-268.; siehe auch: J. Zinnecker, Straßensozialisation. Versuch einen unterschätzten Lernort zu thematisieren, in Zeitschrift für Pädagogik 1979.25/4, 727-746.
10 Beachtung finden diese Aspekte bspw. bei: S. M. Sinke, The International Marriage Market: Theoretical and Historical Perspectives, in: D. Hoerder/J. Nagler (Hrsg.), People in Transit: German Migrations in Comparative Perspective, 1820-1930, New York 1995, 227-248.; vgl. auch A. Lengerer, Wo die Liebe hinfällt - ein Beitrag zur ‚Geographie‘ der Partnerwahl, in: Th. Klein (Hg.), Partnerwahl und Heiratsmuster. Sozialstrukturelle Voraussetzungen der Liebe, Opladen 2001, 133-161.; desweiteren: K. McQuillan, Economic Structure, Religion and Age at Marriage. Some Evidence from Alsace, Journal of Family History 14/4.1989, 331-346. McQuillan fragt u.a. nach dem Zusammenhang von Konfession und Heiratsverhalten (Heiratsalter) in einer bikonfessionellen Region.
11 Die Ehe als Schlüsselbeziehung mit derzeit eher kultur-, vormals primär rechtsgeschichtlichem Fokus auch bei Hohlkamp 2010, 32 f.
12 D. Blasius, Ehescheidung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt (Main) 1992, 128.
13 H. Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 5: Institutionen, Frankfurt (Main) 2000, 2.
14 Esser 2000, 4 f.
15 Esser 2000, 7 f.; vgl. auch M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der Sozialökonomik, 3. Abt., Tübingen 1922, 16.
16 Erbe, Status in ständischen Gesellschaften, Legitimität des Nachwuchses, Rechte und Pflichten der Ehegatten sowie materielles Güterrecht seien als Schlagworte genannt.
17 Vor allem die Diskrepanz zwischen Eheschließungs- und Scheidungsrecht mit den – gemessen am ALR zumindest für den preußischen, weniger für den süddeutschen Raum erschwerten Scheidungsanforderungen, vgl. H. Dörner, Industrialisierung und Familienrecht. Die Auswirkungen des sozialen Wandels dargestellt an den Familienmodellen des ALR, BGB und des französischen Code civil, Berlin 1974, 111 ff.
18 ALR Familienrecht §§ 1 u. 2, nach Dörner 1974, 43.
19 Vgl. Dörner 1974, 33; zur Scheidung Ders., 53-60.
20 Zur Diskussion um das Aufkommen des Liebesideals zunächst in den Mittelschichten bzw. in den besitzlosen Schichten in der deutschen Forschung seit den 1970er Jahren vgl. Gestrich u.a. 2003, 486 ff.
21 Vgl. Dörner 1974, 44 ff. mit den entsprechenden Paragraphen zur Stellung von Mann und Frau in der Ehe. Ebd., 46-53 zum ehelichen Güterrecht und der beschränkten Mitsprache der Frau und ebd., 60-65 zur Stellung des Kindes.
22 Siehe O. Brunner, Das "ganze Haus" und die alteuropäische "Ökonomik", in: Ders., Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, 33-61.; Kritik an Brunner in: C. Opitz, Neue Wege in der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des „Ganzen Hauses“, Geschichte und Gesellschaft 19.1994, 88–98.; siehe auch: A. Holzem/I. Weber, Einführung, in: Dies., Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt, 2008, 14 f.; Einige Bsp.: nach ALR: § 195 nur nach ehemännlicher Erlaubnis durfte die Frau ein Gewerbe ausführen/ohne männlichen Willen war die Ehefrau nicht prozessfähig nach § 189, Vgl. Dörner 1974, 45.; Über den Widerspruch zwischen Anerkennung allgemeiner Freiheitsrechte des Individuums und deren Beschränkung für die verheiratete Frau und die darum entfaltete zeitgenössische Kritik vgl. Gerhard 2005, 451 ff., 458.
23 Dazu im Detail I. Fuhrmann, Die Diskussion über die Einführung der fakultativen Zivilehe in Deutschland und Österreich seit Mitte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt (Main) 1998. (= Diss. Kiel 1997).
24 Vgl. Dörner 1974, 91 ff. Gefühlsmäßige Bindung seien demnach als die Ehe konstituierend vorausgesetzt und einzig legitimes Motiv, materielle Interessen fänden keine rechtliche Berücksichtigung, seien wohl aber immer auch ein Motiv, vgl. H. Medick/D. W. Sabean, Einleitung, in: Dies.(Hrsg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984, 11-26, insb. 16.; vgl. auch P. Borscheid, Romantic Love or Material Interest. Choosing Patterns in Nineteenth-Century Germany, in: Journal of Family History 11/2.1986, 157-168.
25 Vgl. Dörner 1974, 101-108 zum materiellen Güterrecht charakterisiert durchn„Schutz der weiblichen Vermögenssubstanz mit einem Maximum an Dispositionsbefugnis des Ehemannes“, in der Konsequenz „verhindert die männliche Vormachtstellung eine Einflussnahme der Frau“ (Ebd., 103). Zu Stellung und Gehorsamspflicht der Frau ebd., 98 ff.
26 Exkurse zu den Populationstheoretikern Süßmilch, Riehl und Malthus u. a. bei Ch. Duhamelle/J. Schlumbohm, Einleitung. Vom ‚europäischen Heiratsmuster‘ zu Strategien der Eheschließung?, in: Dies. (Hrsg.), Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien, Göttingen 2003, 12 f., sowie: J. Ehmer, Marriage, in: D. I. Kertzer/M. Barbagli (Hrsg.), The History of the European Family, Bd. 2: Family Life in the Long Nineteenth Century 1789-1913, New Haven 2002, 289 ff., außerdem: J. Ehmer, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1991, 34-40.
27 Zum Forschungsdiskurs bezüglich der Legitimierung der Geldheiraten durch ‚vernünftige Liebe‘ bzw. zur Vereinbarkeit von materiellen und individuellen Interessen siehe allgemein Medick u.a. 1984. Schon zeitgenössisch wurde eine Zunahme von materiell motivierten Ehen konstatiert, siehe dazu: F. Ebhardt, Franz, Der gute Ton in allen Lebenslagen. Handbuch für den Verkehr in der Familie, in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben. Leipzig u. a. 189212, 139 f.
28 E. Kapl-Blume, Zum Bedeutungswandel des Begriffes „Liebe“ in ausgewählten Lexika des 18. Und 19. Jahrhunderts, in K. Tanner, „Liebe“ im Wandel der Zeiten. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Leipzig 2005, 107-129.
29 Kapl-Blume 2005, 120 ff.
30 BGB 1900, § 1353 I, nach Dörner 1974, 97.
31 Die mit diesen Konzepten verbundenen Implikationen können hier nicht in Ausführlichkeit erörtert werden. Vgl. Übersicht: J. Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2001., V. Berghahn, Das Kaiserreich 1871 - 1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat, Stuttgart 2003.
32 RPerStG 3. Abs. §§ 28, 29.; Hieran zeigt sich wie sehr Recht auch immer Rechts- bzw. Ideengeschichte ist. Obwohl völlig obsolet, wird der elterliche Konsens gewissermaßen als moralischer Akt aufrechterhalten, vgl. Dörner 1974, 95.
33 Die Ausführungen hier sind Abstraktionen. Vorindustrielle Meister-Gesellen-Verhältnisse und heimindustrielle Produktionsverhältnisse bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, aber auch vorindustrielle proletarische Familienverhältnisse, in denen keine Deckung von Produktion und Konsumtion zu verzeichnen war, seien bloß erwähnt, um zu verdeutlichen, dass Brunners Konzept des ‚ganzen Hauses‘ allenfalls für jene Bevölkerungskreise und auch nur bedingt, mit Abstufungen anwendbar ist, die man als alten Mittelstand (insb. Handwerksmeisterhaushalte) bezeichnet. Kritisch zu Brunners Konzept: H. Derks, Über die Faszination des "Ganzen Hauses", Geschichte und Gesellschaft 22.1996, 221-242.
34 Diese Beispiele sind zugegebenermaßen stereotyp und reflektieren zugleich auf die weite Spanne bürgerlicher Existenz.
35 Allgemein: K. Hausen, „…eine Ulme für das schwankende Efeu”. Ehepaare im Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert, in: U. Frevert (Hrsg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, 85-117.; nach Dörner 1974, 98 f. widerspiegelt die Propagierung der Alleinernährerrolle des Mannes (BGB § 1360 I), und der Frau als ‚guter Geist‘ des Haushaltes (BGB § 1356 I/1357 I) eine Grundhaltung, nach der darin die natürliche Ordnung der Dinge liege.
36 Vgl. Ausführungen zum Güterrecht bei Dörner 1974, 103-108.
37 Nicht vergessen werden darf die christliche Traditionslinie der Eheschließung im Kaiserreich, dazu R. Nave-Herz, Ehe- und Familiensoziologie. Eine Einführung in Geschichte, theoretische Ansätze und empirische Befunde, München 2004, 24 f. So waren Streitpunkte im Kontext der Einführung einer fakultativen/obligatorischen Zivilehe unter beachtlicher Einflussnahme der Zentrumspartei vorrangig Streitigkeiten um Kompetenzen, weniger um Inhalte. Zum Kulturkampf allgemein: E. Schmidt-Volkmar, Der Kulturkampf in Deutschland 1871-1890, Göttingen 1962. Das Kaiserreich als Rechtsraum christlicher Prägung wird auch betont bei Blasius 1992, 50 f. sowie Fuhrmann 1997, 70 ff., 163-166.; Illustartiv zur Durchsetzung staatlicher Kompetenz: RPerStG 7. Abs. §67. Demnach drohten einem Geistlichen, der eine Trauung vor der standesamtlichen Eheschließung durchführte ein Bußgeld bis zu 300 Mark bzw. 3 Monate Haft.
38 Plakativ: wenn der nachgeborene, landlose Bauernsohn sich in der Stadt verdingen und einen Hausstand gründen kann, muss er nicht zeitlebens ledig bleiben.
39 Es ist hier müßig und nicht Gegenstand der Betrachtung den Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Liebessemantik zu suchen, vielleicht aber auf einer rein hypothetischen Ebene soviel: Sehnsucht nach Überschaubarkeit, Verklärung einer idealisierten Vergangenheit (Romantik), künstlerische Suche nach Schönheit, nach Ideellem, Erstrebenswertem in einer ‚raueren Welt‘, eben nach der ‚blauen Blume‘. Liebessemantik entscheidend von Kunstschaffenden verändert! Der Gedanke kultureller Strahlkraft und der damit einhergehenden Institutionsbildung durch Eliten-Kulturideale findet sich vergleichbar bei Stefanie Ernst, Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern, Wandlungen der Ehe im ‚Prozess der Zivilisation‘, Opladen 1996, 46.
40 Kritik an derart getarnten „Geldheiraten“ im Bürgertum durch August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Berlin 197362, 140-146.
41 Zur medialen Vermittlung bürgerlicher Kulturideale/Werthaltungen, vgl. Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist (1866-1918), München 1991², 47-50 stellt das gut dar.
42 Allgemein: K. Gröwer, „Wilde Ehen“ in den hansestädtischen Unterschichten 1814-1871, Archiv für Sozialwissenshaft 38.1998, 1-22. Sowie: B. Kuhn, Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850 - 1914), Köln u.a. 2002. Und: Eberhardt 1892, 143.
43 Ausführlich zur Entwicklung des Scheidungsrechts Blasius 1992. Zur Entwicklung der Rechtsstellung von Mann und Frau im Eherecht vgl. an neuerer Literatur A. Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700-1914, Köln u. a. 2003.
44 Vgl. Dörner 1974, 108-113, u. a. Reduzierung der im ALR normierten Scheidungsgründe, Subjektivierung der Trennungskriterien, also auch richterliche Untersuchung, was den Verheirateten an Unglück in der Ehe zuzumuten sei. Diese Zustände bemängelt auch Bebel 1973, 147 ff.
45 In der Praxis konnte das bedeuten, dass, selbst wenn die Ehefrau den Ehebruch ihres Mannes bspw. nicht anzeigte, die Staatsanwaltschaft Anklage erhob.
46 Kapl-Blume 2005, 126 zur scheinbaren Privatisierung der Ehe: die menschliche Verbindung schaffe Stabilität, die dem Staat viel bedeute.
47 Zitiert nach Dörner 1974, 112.
48 Kapl-Blume 2005, 126 ff.
49 Zur restaurativen, erzieherischen Grundhaltung siehe Blasius 1992, 134 f.; In dieser Zeit wurde auch als Konsequenz auf die Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Kirche und dem preußischen Staat um die Kompetenz in Eheangelegenheiten – dem sogenannten Kulturkampf – am 01.01. 1876 das Reichspersonenstandsgesetz verabschiedet, dass die prinzipielle Ehefähigkeit der preußischen bzw. der Reichsbevölkerung im ehemündigen Alter (20 Jahre bei Männern, 16 bei Frauen), unabhängig von deren ökonomischer Lage, familialem Konsens oder Religionszugehörigkeit regelt. Einzig Geschäftsunfähigkeit und Blutsverwandtschaft machten die Eheschließung unmöglich. Zum Gesetzestext siehe J. Fitting, Das Reichsgesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung, vom 6.2.1875, Zweibrücken 1877². Siehe auch A. Große-Boymann, Heiratsalter und Eheschließungsrecht, Münster 1994 (= Diss. Münster 1994), 287-290.
50 Nach U. Gerhard, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt (Main) 1978.
110-113 ist das Eherecht des 19. Jh. Klassenrecht, dessen Inhalte und Moralvorstellungen seien breiten Massen fremd.
51 So wurden eheähnliche Gemeinschaften (ohne Trauschein) trotz offenbarer Stabilität der Beziehung und in dieser aufwachsender Kinder getrennt, da sie informell und somit sanktioniert waren, vgl. Blasius 1992, 95 ff.
52 Zur Kopplung Ehe-Ansiedlung-Armenfürsorge vorrangig in der 1. H. 19. Jh. vgl. auch Blasius 1992, 82-85. 1868 wurden polizeiliche Beschränkungen der Eheschließung im Norddeutschen Bund aufgehoben, vgl. zur Rechtsentwicklung in Preußen Gerhard 1978, 113-117. 1869 wurde das Ehehindernis des ungleichen Standes abgeschafft, vgl. Dörner 1974, 94. Zu den vielfach restriktiveren Bestimmungen im süddeutschen Raum siehe K.-J. Matz, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1980. Bei R. Gehrmann, Bevölkerungsgeschichte Norddeutschlands zwischen Aufklärung und Vormärz, Berlin 2000, 283 finden sich auch norddeutsche Beispiele restriktiver Ehegesetzgebung.
53 Bsp. In den ländlichen Unterschichten, vgl. R. Sieder, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt (Main) 1987, 86-90.
54 So gibt St. Bajohr, Lass dich nicht mit den Bengels ein! Sexualität, Geburtenregelung und Geschlechtsmoral im Braunschweiger Arbeitermilieu 1900 bis 1933, Essen 2001, 75 ein Beispiel, in dem eine uneheliche Lebensgemeinschaft, die über 16 Jahre bestand und in der 12 Kinder geboren wurden – in der man also von einer gewissen Kontinuität ausgehen kann – 1902 polizeilich getrennt wurde.
55 Zeitgenössische und autobiographische Äußerungen zu den Ehemotiven im Arbeitermilieu (Schwangerschaft, gegenseitige Absicherung, Attraktivität etc.) bieten K. Saul u.a. (Hrsg.), Arbeiterfamilien in Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland 1871-1914, Königstein/Ts. 1982.
56 So bspw. Statistiker, aber auch Eugeniker, Biologen, Hygieniker; Ehe und Familie sind zentrale Konzepte der Soziologie. Ferner zu nennen sind die Bemühungen der Historischen Anthropologie, die u. A. nach bspw. der Rolle der Ehe im verwandtschaftlichen Netzwerk fragt, vgl. R. Gehrmann, Heiratsverhalten als historisches Problem, Historical Social Research 28.2003, H. 2, 11. Die Ehe ist Gegenstand etlicher historischer Arbeiten hauptsächlich zur Entwicklung der Familie und der Interdependenz zu verschiedenen Strukturdimensionen je nach Interesse, so z. B. des Eherechts, der Industrialisierung/Modernisierung etc.
57 Schwerpunktmäßig liegen die Interessen und Tendenzen der Forschung im vorindustriellen ländlichen Raum, so bspw. Duhamelle u.a. 2003, 14 f. – Tenor der dort publizierten Studien ist die Abkehr von der Konstatierung von Heiratsregeln, hin zu Strategien. J. Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650 - 1860, Göttingen 1994, 96 ff. zeigte, dass entgegen Hajnal kein Verbleib in der Ehelosigkeit in Krisenzeiten stattfand, sondern vielmehr Strategien modifiziert wurden, um dennoch zu heiraten.; Gemeinsam ist den verschiedenen hist. Disziplinen die Betrachtung langer Zeiträume, wobei die Schwerpunkte verschoben sind. So untersuchen Kulturhistoriker Ehemotivationen u. -einstellungen, Sozialhistoriker die Auswirkungen der (Sozio-)Ökonomie auf Ehemuster und Platzierungsstrategien, während Hist. Demographen Entwicklungen Im Mikro-Raum analysieren. Vgl. dazu allgemein Gehrmann 2003.
58 Die Hist. Familienforschung ist eng an die Hist. Demographie angelehnt und entwickelte etliche Unterdisziplinen. Die Forschungslage ist alles in allem recht unübersichtlich, vgl. J. Ehmer/T. K. Hareven/R. Wall, Einleitung, in: J. Ehmer u.a. (Hrsg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen. Festschr. Mitterauer, Frankfurt (Main) 1997, 7-15. Illegitimitätsuntersuchungen, Studien zur ehelichen Fruchtbarkeit etc. stehen auch in diesem Zusammenhang. In ihrer einfachsten Form ist die Darstellung auf die Entwicklung der Verehelichungsquote und des Alters bei der Erstehe reduziert, so bspw. M. Cerman, Mitteleuropa und die ‚europäischen Muster‘. Heiratsverhalten und Familienstruktur in Mitteleuropa, 16.-19. Jahrhundert, in: J. Ehmer u.a. (Hrsg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen. Festschr. Mitterauer, Frankfurt (Main) 1997, 327-346.
59 Insbesondere Familienrekonstitutionen sind im städtischen Raum schwer durchführbar, da selbst bei Übereinstimmungen von Namen, Alter und Beruf oft nicht zweifelsfrei feststellbar ist, ob es sich um dieselben Personen handelt und da große Teile der Stadtbevölkerung im ausgehenden 19. Jahrhundert hochmobil waren. Dazu in einer späteren Arbeit mehr.
60 Bspw. A. E. Imhof, Die kleine Welt des Johannes Hooss, in: Ders., Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren - und weshalb wir uns heute so schwer damit tun ..., München 1985, 27-55.; W. Kaschuba/C. Lipp, Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller u. sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 1982.
61 J. Ehmer, Soziale Traditionen in Zeiten des Wandels. Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert, Frankfurt (Main)/New York 1994, insb. 24-51.; vgl. auch G. Schulz, Die industriellen Angestellten. Zum Wandel einer sozialen Gruppe im Industrialisierungsprozess, in: Hans Pohl (Hrsg.), Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung (1870-1914), 1979, 217-266.; vgl. auch H.-G. Haupt, Kleine und große Bürger in Deutschland und Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 2, München 1988, 252-275.
62 H. Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt (Main) 19936 bspw. verwendet nur Sekundärliteratur, andere sammeln zeitgenössische Berichte oder Selbstzeugnisse oder werten in Kopplung beider Zugänge bspw. das Heiratsverhalten bestimmter Kreise oder zweier Kaufmannsfamilien aus wie bei R. Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750 - 1850), Göttingen 2000. Ehmer 2004, 57-62 bietet einen breiten Überblick über Disziplinen- und Paradigmengeschichte.
63 C. Lipp, Verwandtschaft - ein negiertes Element der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts, Historische Zeitschrift 283.2006, H. 1, 31-77.
64 Bspw. A. Lange-Vester, Habitus der Volksklassen. Kontinuität und Wandel seit dem 18. Jahrhundert in einer thüringischen Familie, Berlin 2007. Lange-Vester bedient sich des Habituskonzepts Pierre Bourdieus, dazu im Fazit mehr.
65 Illustrativ die Aufsätze in: M. H. D. van Leeuwen/I. Maas/A. Miles (Hrsg.), Marriage Choices and Class Boundaries. Social Endogamy in History, International Review of Social History 50, Supplement 13, Cambridge 2005. – dazu in einer quellenkritischen Arbeit mehr. Generell zur Methodik vgl. R. Gehrmann/Th. Sokoll, Historische Demographie und quantitative Methoden, in: M. Maurer (Hrsg), Aufriss der historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, 152-229. Vgl. auch J. Schlumbohm (Hrsg.) Mikrogeschichte - Makrogeschichte. Komplementär oder inkommensurabel?, Göttingen 1998.
66 Bspw. J. Kocka u.a. (Hrsg.), Familie und soziale Plazierung. Studien zum Verhältnis von Familie, sozialer Mobilität und Heiratsverhalten an westfälischen Beispielen im späten 18. und 19. Jahrhundert, Opladen 1980.
67 Weber 1922, 177-180, insb. 180.
68 Zu Weber und Bourdieu siehe Kapitel 4.2.2.3.1 und 4.2.2.3.2.
69 Einige, auch nicht historische Beispiele: M. Knippel, Empirische Untersuchungen zu Modellbeschreibungen der menschlichen Partnerwahl , Hamburg 1996 (=Diss. Hamburg 1996)., A. Pashos, Über die Rolle von Status, physischer Attraktivität und Taktiken in der menschlichen Partnerwahl. Soziokulturelle und evolutionsbiologische Mechanismen und Prozesse menschlichen Sozialverhaltens, Hamburg 2002 (=Diss. Hamburg 2002)., Bajohr 2000., D. W. Sabean, Die Ästhetik der Heiratsallianzen. Klassencodes und endogame Eheschließungen im Bürgertum des 19. Jahrhunderts, in: J. Ehmer u.a. (Hrsg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen. Festschr. Mitterauer, Frankfurt (Main) 1997, 157-170.
70 Z. B. Duncker 2003., Ernst 1996., Jens Flemming, „Sexuelle Krise“ und „Neue Ethik“. Wahrnehmungen, Debatten und Perspektiven in der deutschen Gesellschaft um die Jahrhundertwende, in: Helmut Scheuer/Michael Grisko (Hrsg.), Liebe, Lust und Leid. Zur Gefühlskultur um 1900, Kassel 1999, 27-55.
71 Vertreter der deutschsprachigen Erforschung von Ehe und Familie sind bspw. Jürgen Kocka, Hartmut Kaelble und Michael Mitterauer.
72 Medick u.a. 1984, 16.
73 Sabean 1997.
74 Allgemein zur Urbanisierung und Migration vorrangig junger, lediger Personen: J. Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, ND Frankfurt (Main) 1997., W. Köllmann, Verstädterung im Deutschen Kaiserreich, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 128.1992, 199-219., D. Langewiesche, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierung. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880-1914, Vierteljahresschrift für Wirtschaftsgeschichte 64.1977, 1-40.; Zur Auswirkungen von Migration, geografischer Mobilität und Urbanisierung auf Verehelichungsmuster- und strategien bspw.: S. Moreels/K. Matthijs, Marrying in the City in Times of Rapid Urbanization, Journal of Family History 36.2011, 72-92., I. Maas/M. H. D. van Leeuwen, Total and Relative Endogamy by Social Origin. A First International Comparison of Changes in Marriage Choices during the Nineteenth Century, in: Van Leeuwen u. a. 2005, 275-295., J.-P. Pélisser /D. Rébaudo/ M. H. D. van Leeuwen/I. Maas, Migration and Endogamy According to Social Class. France 1803-1986, in: Van Leeuwen u. a. 2005, 219-246., B. van de Putte/M. Oris/M. Neven/K. Matthijs, Migration, Occupational Identity, and Societal Openness in Nineteenth-Century Belgium, in: Van Leeuwen u. a. 2005, 179-218.
75 H. Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt (Main) 19936.
76 Gehrmann 2003, 13.
77 Schulz 1979., W. Conze/U. Engelhardt (Hrsg.), Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensstandard und Lebensgestaltung deutscher Arbeiter und Handwerker, Stuttgart 1981., P. Alheit /F. Schömer, Der Aufsteiger. Autobiographische Zeugnisse zu einem Prototypen der Moderne von 1800 bis heute, Frankfurt (Main) 2009., M. Rainer Lepsius, Zur Soziologie der Bürgertums und der Bürgerlichkeit, in: J. Kocka (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, 79-100., R. Spree, Angestellte als Modernisierungsagenten. Indikatoren und Thesen zum reproduktiven Verhalten von Angestellten im späten 19. Und frühen 20. Jahrhunderts, in: Jürgen Kocka (Hg.), Angestellte im europäischen Vergleich, Die Herausbildung angestellter Mittelschichten seit dem späten 19. Jahrhundert (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 7), Göttingen 1981, 279-308., D. R. Shopp, Auf der unteren Sprosse. Der Volksschullehrer als „Semi-Professional“ im Deutschland des 19. Jahrhunderts., Geschichte und Gesellschaft 6.1980, 383-402., G. A. Ritter/K. Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992., H. Kaelble, Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung. Herkunft, sozialer Status und politischer Einfluss, Berlin 1972., F. Lenger, Zwischen Kleinbürgertum und Proletariat. Studien zur Sozialgeschichte des Düsseldorfer Handwerks 1816-1878, Göttingen 1986.
78 Allgemeiner hinweis auf statistische Literatur und deren sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aggregation in statistischen Sammelbänden. Zur Methodik generell in zweiter Arbeit.
79 Vgl. auch Gehrmann 2003, 8-12. Verhaltenspsychologischer Fokus: Knippel 1996.
80 Vgl. G. Sichelstiel/F. Söllner, „Gleich und gleich gesellt sich gern“ – ökonomische Ansätze zur Partnerwahl, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 5.2004, H. 3, 255 ff.
81 Die Ausführungen verbleiben im Exemplarischen. Wenn unter dem Stichwort der sozialen Gruppen vorrangig Unterschichten thematisiert werden, ist das zum einen dem Forschungsstand mit einem deutlich überwiegenden Interesse an diesen Gruppen geschuldet, aber auch eigenem Interesse. Ein Großteil der (heiratenden) Stadtbevölkerung Halles um 1900 ist schließlich den Unterschichten zuzurechnen. Dazu in einer zweiten, sich anschließenden Arbeit mehr.
82 Es gibt soziologische Arbeiten, die die Interdependenz dieser Akte untersuchen. Konkret bedeutet das bspw. die Messung des Zusammenhanges von Bildung und Beruf bzw. von Heirat (sozialer Herkunft) und Berufswahl etc. In diesem Sinn und unter Betonung des Spannungsverhältnisses von ökonomischer und sozialer Statussicherung S. Schraut, Zum Wandel familiärer Plazierungsstrategien im Industrialisierungsprozess am Beispiel der Stadt Esslingen 1800-1870, in: P. Borscheid/H. J. Teuteberg (Hrsg.), Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983, 293 f.
83 Vgl. Nipperdey 1991, 52. Nach Nipperdey übernimmt die Ehefrau mit der Eheschließung den Status des Mannes und tritt aus ihrer, per sozialer Herkunft definierten, soz. Lage aus. Vgl. auch P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt (Main) 19947, 186 f.
84 In diesem Sinne auch W. Teckenberg, Wer heiratet wen? Sozialstrukturanalyse und Partnerwahl, Opladen 2000, 67, 70 ff. Interessant auch der Hinweis a. a. O., 48 auf soziologische Untersuchungen der 1980er Jahre aus den USA, nach denen der Berufssektor größeren Einfluss auf die Partnerwahl hat als die Berufsposition. Kombinationen wie ‚Vorgesetzter-Sekretärin‘ oder ‚Arzt-Schwester‘ seien demnach wahrscheinlicher als ‚Vorgesetzter Unternehmen A-Vorgesetzte Unternehmen B‘.; m. E. müssen aber auch strukturelle Faktoren (die Gruppengrößen) beachtet werden – trivial: es gibt mehr Angestellte in einer Firma als Vorstände/zumeist branchenspezifisch ein Ungleichgewicht an männlichen und weiblichen Beschäftigten in gleichrangigen Berufspositionen desselben Betriebes.; In diesem Zusammenhang auch interessant: D. Crew, Modernität und soziale Mobilität in einer deutschen Industriestadt. Bochum 1880-1901, in: H. Kaelble (Hrsg.), Geschichte der sozialen Mobilität seit der industriellen Revolution, Königstein/Ts. 1978, 176 ff. Nach Crew sei der soziale Aufstieg von der überwiegenden Masse der Bevölkerung nicht angestrebt worden bzw. seien Aufstiegsmöglichkeiten nicht bewusst gewesen. Sicherheit sei Primäranliegen der Unterschichten, durch Qualifikation oder materielle Absicherung (Haus, Ersparnisse) sei dieses erreicht worden.
85 Scheidungen waren gesellschaftlich weder erwünscht noch einfach gemäß den Bestimmungen des BGB, siehe Kapitel 2. Generell war der Bestand der Ehe aus funktionalen (ALR) und ordnungspolitischen (BGB) Gründen erwünscht. Beliebig wiederholtes Heiraten und Trennen wie es heute prinzipiell möglich ist, war im Kaiserreich nicht möglich.
86 Nach C.-P. Groß, 1871-1918…verliebt…verlobt…verheiratet…unter Adlers Fittichen, Berlin 1986, 22.
87 Ehmer 1991, 197-202., vgl. auch die gehäuften biographischen Hinweise Eheschließung und Familiengründung nach Erreichen der Meisterschaft bei A. Dörfer, Autobiographische Schriften deutscher Handwerker im 19. Jahrhundert, Berlin 1999 (= Diss. Halle 1998).
88 Schichtendogamie kann nach Lipp 2006, 75 bewusst angestrebt (Zuzug auf Grund einer gleichrangigen Heirat) oder auch zwangsläufig (Heirat nach berufsbedingtem Zuzug) erzielt werden.