Karnevaleske Hinrichtung und disziplinierter Körper. Kulturelle Praktiken bei Bachtin und Foucault
Zusammenfassung
Das antagonistische Verhältnis der Foucault'schen Disziplinen zu Bachtins Karnevalskultur wird anhand ihrer zentralen Rituale, sowie den ihnen eigenen Körperbildern untersucht.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Karnevaleske Hinrichtungen
3. Die Disziplin und ihre Körper
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In einigen von Michel Foucaults Beschreibungen der mittelalterlichen Folter in Überwachen und Strafen ist, obwohl nicht explizit markiert, der Einfluss des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin spürbar. Insbesondere durch die Erwähnung des Karnevals stellt Foucault eine Nähe von öffentlicher Hinrichtung und den bei Bachtin beschriebenen volkskulturellen Praktiken her:
Wenn sich die Menge um das Schafott drängt, so tut sie das nicht nur, um den Schmerzen des Verurteilten beizuwohnen und die Wut des Henkers anzufeuern: sie will auch den, der nichts mehr zu verlieren hat, die Richter, die Gesetze, die Macht, die Religion verfluchen hören. […] Es gibt in diesen Hinrichtungen, welche die Schreckensgewalt des Fürsten kundtun sollen, etwas Karnevaleskes, das die Rollen vertauscht, die Gewalten verhöhnt und die Verbrecher heroisiert[1].
Die Menge auf dem öffentlichen Platz, die Herabsetzung der religiösen und staatlichen Autoritäten, Rollentausch und Ambivalenz sind zentrale Elemente des Karnevals, wie Bachtin es beschreibt. Zunächst soll daher dieser karnevaleske Anteil der Hinrichtung untersucht und mit Bachtins Ausführungen verglichen werden. Drückt sich der von Bachtin beschriebene Konflikt zwischen grenzauflösender Lachkultur und hierarchisierenden offiziellen Festen auch in den Schafott-Erregungen aus?
Im klassischen Zeitalter fällt die Entwicklung und Verbreitung der Disziplinen mit der Trivialisierung des Karnevals zusammen. Auf der einen Seite wird er in den Bereich des Privaten verdrängt, auf der anderen Seite verstaatlicht, wodurch er „ Paradecharakter “[2] erhält. Foucault zufolge ist die Parade Spielart der Prüfung, die ihrerseits zentrales Ritual der Disziplin ist. Das Erscheinen der Disziplin, die Körper individualisiert und politisch nutzbar macht, bei gleichzeitiger Verdrängung der karnevalesken Volkskultur, die Grenzen und Hierarchien auflöst und einen Volkskörper schafft, erlaubt die Frage nach ihrer gegenseitigen Beziehung. Weisen die jeweils beschriebenen Veränderungen, in der volkstümlichen Lachkultur einerseits, und dem Strafwesen andererseits, Parallelen auf? In welchem Verhältnis stehen die kulturellen Praktiken der ordnenden Disziplin zu denen des anarchischen Karnevals?
2. Karnevaleske Hinrichtungen
In Rabelais und seine Welt versucht Bachtin das Werk Francois Rabelais’, das dem modernen Leser seiner derben Körperlichkeit wegen befremdlich erscheinen muss, durch die Einbindung in den Kontext volkstümlicher rituell-szenischer Praktiken zu erschliessen. Ihre reinste Ausprägung haben Volks- und Lachkultur im mittelalterlichen Karneval, der sich in seinen verschiedenen Ausformungen über Europa und speziell die romanischen Länder verbreitet[3]. Bachtin hebt vier Karnevals-Kategorien hervor:
1. einen intim-familiären zwischenmenschlichen Kontakt, der sich der Aufhebung sozialer Hierarchien und anderer Ungleichheiten zwischen den Menschen verdankt.
2. Exzentrizität, die der unterschwelligen Seite der menschlichen Natur einen konkret-sinnlichen Ausdruck gestattet. „Benehmen, Geste und Wort lösen sich aus der Gewalt einer jeden hierarchischen Stellung (des Standes, der Rangstufe, des Alters, des Besitzstandes), von der sie außerhalb des Karnevals voll und ganz bestimmt wurden“[4].
3. karnevalistische Mesalliance; Figuren und Motive tragen beide Pole der Oppositionen, die im offiziellen Leben streng getrennt sind (Geburt und Tod, Heiliges und Profanes, Hohes und Niedriges, Törichtes und Weises).
4. Profanation; alles Hohe und mit Autorität Besetzte wird erniedrigt. Flüche, unanständige Reden und Gesten verweisen auf die Zeugungskraft der Erde und ihre Erneuerung.
Für diese Arbeit ist besonders die in allen vier Kategorien prominente Aufhebung der Hierarchien von Bedeutung, die sich im familiären Kontakt, wie auch im exzentrischen Verhalten, niederschlägt. Die im Karneval stattfindende zeitlich begrenzte Befreiung von der herrschenden Weltordnung ist nicht von der Aufhebung der Hierarchien zu trennen, im Gegenteil sind diese zentraler Teil der herrschenden Ordnung. In der daraus resultierenden Vermischung der Menschen ohne Rücksicht auf Stand und Herkunft hat der Karneval sein utopisches Moment: „Die Entfremdung wurde aufgehoben. Der Mensch kehrte zu sich selbst zurück und fühlte sich als Mensch unter seinesgleichen“[5]. Diese alternative Weltordnung wird als solche nicht aufgeführt oder gespielt, sondern vom ganzen Volk gelebt, weshalb der Karneval, als „Zustand der ganzen Welt“[6], auf der Grenze von Kunst und Leben anzusiedeln ist.
Damit destabilisiert die karnevaleske Volkskultur die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse: durch den Hinweis auf die Relativität der herrschenden Weltordnung, die sich in ihrer temporären Aufhebung beweist, und durch die Betonung von Übergang und Werden, dem Zelebrieren des ewig unfertigen Lebens. In dieser Dynamik des Entstehens und Vergehens werden alle Figuren des Karnevals ambivalent, tragen, wie in der dritten Karnevals-Kategorie angedeutet, beide Pole einer Opposition in sich. Die Wahl von Narrenkönigen etwa verweist immer schon auf deren anstehende Erniedrigung.
Dem stehen die offiziellen Feiertage diametral entgegen: Die hierarchischen Unterschiede zwischen den Menschen werden durch Insignien von Rang und Stand betont, und den Teilnehmenden werden die für ihre gesellschaftliche Stellung vorgesehenen Plätze zugeordnet. Die gängigen Werte, Normen und Tabus, von denen der Karneval befreit, werden gestärkt; statt Relativität und Veränderung werden Stabilität, Unveränderlichkeit und Ewigkeit der bestehenden Weltordnung gefeiert: „Der Feiertag war der Triumph der bestehenden, siegreich herrschenden Wahrheit, die sich als ewige, unveränderliche und unanfechtbare ausgab“.[7]
In dieser Rivalität beider Formen kultureller Praktiken und ihrer entgegen gesetzten Wirkung drückt sich die für das Mittelalter charakteristische Doppelweltlichkeit aus:
Die auf dem Lach -Prinzip beruhenden rituell-szenischen Formen unterschieden sich außerordentlich schroff und prinzipiell von den seriösen – kirchlichen und feudalen – Kultformen und Zeremoniellen. Sie präsentierten einen völlig anderen, betont inoffiziellen, außerkirchlichen und außerstaatlichen Aspekt der Welt, des Menschen und der menschlichen Beziehungen: jenseits alles Offiziellen errichteten sie eine zweite Welt und ein zweites Leben, an denen alle Menschen des Mittelalters in größerem oder geringerem Ausmaß Anteil hatten, in denen sie für eine bestimmte Frist lebten. Ohne Berücksichtigung dieser Doppelweltlichkeit kann man weder das kulturelle Bewusstsein des Mittelalters noch die Kultur der Renaissance angemessen verstehen[8].
Im Folgenden soll also der Versuch unternommen werden, die von Foucault beschriebene Marter – speziell mit Blick auf ihre ambivalente Wirkung – in den Kontext der konfliktierenden kulturellen Praktiken einzuordnen.
Zunächst entspricht die öffentliche Hinrichtung dem offiziellen Zeremoniell, das im Zusammenhang feudaler Rituale verstanden werden muss[9]. Die Marter soll den Verurteilten brandmarken, bei den Zuschauern eine Terrorwirkung hervorrufen, die Macht der Justiz zur Schau stellen, und die durch den Gesetzesbruch verletzte Würde des Souveräns wieder herstellen. Als politisches Ritual ist sie notwendig öffentlich, denn sie betrifft nicht allein Justiz und Verbrecher: „Die Hauptperson bei den Marterzeremonien ist das Volk, dessen wirkliche und unmittelbare Gegenwart zu ihrer Durchführung erfordert wird“[10]. In der Demonstration von Macht (des Königs) und Ohnmacht (des Verurteilten, der meist den unteren Ständen angehörte) wird der status quo gestärkt. Das Volk wird als Zuschauer und Zeuge gebraucht, und soll seiner Loyalität durch eine eingeschränkte Beteiligung an der Strafe Ausdruck verleihen.
[...]
[1] M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 79. Das französische Original spricht von einem „aspect du Carneval“; Bachtins Kunstwort des Karnevalesken verdankt sich hier Seitters Übersetzung. Vgl. M. Foucault: Surveiller et Punir, S. 64.
[2] M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 84.
[3] M. Bachtin, a. a. O., S. 53.
[4] M. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 48 ff.
[5] M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 59.
[6] M. Bachtin, a. a. O., S. 55.
[7] Zum Konrast karnevalesker Feste und offiziellen Feiern vgl. M. Bachtin, a. a. O., S. 57 ff.
[8] M. Bachtin, a. a. O., S. 53. Das Konzept der Doppelweltlichkeit ist derweil nicht unumstritten, vgl. D.-R. Moser: Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie. Sein Angriff trägt allerdings eher polemische Züge, als solche einer kritischen Auseinandersetzung, zumal er auf einer lückenhaften Textkenntnis basiert. Vgl. E. Nährlich-Slateva: Eine Replik zum Aufsatz von Dietz-Rüdiger Moser: „Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie“.
[9] M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 65.
[10] M. Foucault, a. a. O., S. 75.