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Georg Stenger, Emmanuel Lévinas und Bernhard Wadenfels. Der Unterschied zwischen dem Fremden und dem Anderen

©2015 Essay 17 Seiten

Zusammenfassung

Fokus der Arbeit sind Überlegungen von Georg Stenger, die durch Gedanken von Lévinas und Wadenfels ergänzt werden. Vor allem Wadenfels hat sich ausgiebig mit der Fremderfahrung auseinandergesetzt. Zum Schluss sollen die gesammelten Erkenntnisse dazu dienen, eine bessere Unterscheidung zwischen Fremdem und Anderem herausbilden zu können.

Die Fremderfahrung als phänomenologisches Thema ist relativ gut durchleuchtet. Husserl legte hierzu den Grundstein mit seiner 5. Cartesianischen Meditation. Weitere Überlegungen steuerten beispielsweise Sartre und Merleau-Ponty bei. Jedoch gibt es wenig phänomenologische Erkenntnisse zur Unterscheidung zwischen Fremdem und Anderem.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Das Andere bei Lévinas

3. Fremderfahrung nach Wadenfels

4. Fremderfahrung nach Stenger

5. Fremdes und Anderes – Unterschiede

6. Kritische Würdigung

II. Literaturverzeichnis

1. Einführung

Die Fremderfahrung als phänomenologisches Thema ist relativ gut durchleuchtet. Husserl legte hierzu den Grundstein mit seiner 5. Cartesianischen Meditation. Weitere Überlegungen steuerten beispielsweise Sartre und Merleau-Ponty bei. Jedoch gibt es wenig phänomenologische Erkenntnisse zur Unterscheidung zwischen Fremdem und Anderem.

Fokus der Arbeit sind Überlegungen von Georg Stenger, die durch Gedanken von Lévinas und Wadenfels ergänzt werden. Vor allem Wadenfels hat sich ausgiebig mit der Fremderfahrung auseinandergesetzt. Zum Schluss sollen die gesammelten Erkenntnisse dazu dienen, eine bessere Unterscheidung zwischen Fremdem und Anderem herausbilden zu können.

2. Das Andere bei Lévinas

Ziel dieses Kapitels ist die Herausarbeitung zentraler Momente des Anderen bei Lévinas, die später der Unterscheidung zwischen Fremdem und Anderem dienen soll. Im Mittelpunkt stehen folgende Begriffe: Alterität, Antlitz, Unendlichkeit, Andere, Asymmetrie.

Zunächst differenziert Lévinas scheinbar zwischen Sein und dem wahren Leben:

„ ‚Das wahre Leben ist abwesend.‘ Aber wir sind auf der Welt.“[1]

Jedoch ist sein Standpunkt gegenüber dieser metaphysischen Haltung kritisch, da sie sich einer Verantwortung zu entziehen scheint. Die Metaphysik ist einem „Anders“ zugewandt, von einem vertrauten „Zuhause“ ausgehend, in Richtung eines „unbekannten Gebiets“. Ziel dieser Bewegung ist das Andere. Lévinas spricht von einem „metaphysischen Begehren“, welches nach dem „ ganz Anderen, nach dem absolut Anderen “ strebt. Lévinas scheint damit ein unstillbares Begehren zu meinen, das sich jenseits des Stillbaren bewegt. Bei dem Versuch es zu stillen wird es nur noch mehr vertieft, ähnlich der Güte. Das Begehrte wird zur Quelle der Freigebigkeit und die Freigebigkeit „nährt sich von ihrem Hunger“. Wenn der Begehrende sterblich und das Begehrte unsichtbar ist, ist das Begehren absolut. Unsichtbar sind nicht die Beziehungen, sondern die Dinge, zu denen es eine Beziehung gibt. Das kann als eine Kritik am Sehen und der Phänomene verstanden werden.[2]

Der Andere kann auch das Ich sein, das sich selbst denken hört. Jedoch sind diese beiden Teile dermaßen miteinander verschweißt, dass Lévinas nur eingeschränkt in diesem Fall vom Anderen spricht.

Sobald jedoch das Ich egoistisch in Beziehung mit dem Anderen tritt, entzieht es dem Anderen seine Andersheit.

Ein zentrales Moment bei Lévinas ist die Alterität: der Andere ist stets der absolut Andere. Er zählt nicht zu mir, gehört sozusagen nicht in meine Ordnung. Was den Anderen zum Fremden macht ist die Tatsache, dass er aus einem anderen metaphysischen „Vaterland“ stammt, der mein „Bei-mir-zu-Hause“ stört. Gleichzeitig ist der Fremde frei: auch wenn ich über ihn verfüge, entzieht er sich mir meinem Zugriff. Er ist an einem anderen Ort (vgl. Wadenfels). Die Lévinas’sche Alterität ist problematisch, da intrakulturell – „anders“ – und übersteigt nicht die eigene Welt. Jedoch liegt in Wirklichkeit eine Pluralität der Kulturen vor – dadurch wird das Fremde notwendig.

Ein weiteres Moment bei Lévinas ist das Antlitz. Wird davon ausgegangen, dass durch das Sehen der Zugang zu den Seienden stattfindet, so hat das Sehen auch eine gewisse Macht über die Seienden. Das Lévinas’sche Konzept des Antlitzes erinnert in gewissen Zügen an Sartres Konzept des Blicks, des Erblicktwerdens aus seinem Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“. Jedoch ist „das Antlitz […] gegenwärtig in seiner Weigerung, enthalten zu sein.“[3] Das macht das Konzept des Antlitzes schwer greifbar und schwer umfassbar, da hier weder gesehen noch berührt wird, trotzdem der Andere zum Inhalt wird.

Das Moment der Unendlichkeit ergibt sich aus der Gegenwart des Seienden (oder Anderen) und seines Antlitzes: seine Gegenwart tritt nicht in meine Sphäre ein, sondern überfließt sie und fixiert sie. Folglich zeigt sich mir und entzieht sich mir das Antlitz des Anderen zugleich – und die Erfahrung des Antlitzes flieht ins Unendliche. Das verdeutlicht auch die Exteriorität des Anderen, seine Unerreichbarkeit für mich.[4] Diese Ungreifbarkeit des Anderen durch das Subjekt, also die Unmöglichkeit, den Anderen für mich zu objektivieren, bezeichnet Lévinas als „Epiphanie des Antlitzes“.[5]

Aus der „Epiphanie des Antlitzes“ entspringt eine eigentümliche interpersonale Beziehung, die Lévinas als „Asymmetrie“ bezeichnet. Auf der einen Seite erscheint mir der Andere sowohl als (relatives) Antlitz als auch als absolute Entität, auf die ich antworten muss. Auf der anderen Seite ist der Andere durch eine Unerreichbarkeit gekennzeichnet, sodass keine symmetrische Kommunikation entstehen kann. Es ist immer ein „von-sich-aus hin zum Anderen“[6] und nicht vice versa.

3. Fremderfahrung nach Wadenfels

Ziel ist die Herausarbeitung der Fremderfahrung nach Wadenfels. Sie soll später der Unterscheidung zwischen Fremdem und Anderem dienen.[7]

Zunächst ist für Wadenfels das fremd, was jenseits der (Husserl‘schen) Eigenheitssphäre liegt. Also jenseits dem Eigenen, Vertrauten, Zugehörigen. Wie soll auf das Fremde reagiert werden? Wadenfels schlägt die Aneignung oder Enteignung des Fremden vor.

Aneignung als Bändigung der Fremdheit. Bei der Aneignung muss zuallererst – wie überhaupt beim Fremden und bei Fremderfahrung – unterschieden werden zwischen Eigenem und Fremdem. Auch eine „ Zersplitterung der physischen und sozialen Welt“ wird vorausgesetzt. Die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem führt zu einem gewissen Egozentrismus, der auch stark einnehmende Züge entwickeln kann – zum Beispiel die Entwicklung eines Alter Egos. Die Zersplitterung physischer und sozialer Welt kann in einen Logozentrismus führen – zum Beispiel durch „Sammlung alles Verständlichen in einem Logos“. Beide Aspekte verweisen aufeinander, ergänzen sich und zeugen von der zugrundeliegenden Subjektivität des Individuums.

Enteignung als Auslieferung an das Fremde. Enteignung ist nicht egozentrisch, im Gegenteil, das Fremde tritt an die Stelle des Eigenen, es entsteht „Exotik“. Der Logozentrismus wird zerspalten in mehrere Logoi, was zu einer Grenzauflösung zwischen fremd und eigen führen kann.

Wadenfels schlägt vor, die Erfahrung des Fremden als eine Auseinandersetzung mit dem Anderen zu verstehen, in einer Art „Zwischensphäre“, die ein Zusammenspiel zwischen allen Parteien ermöglicht, mit all ihren Fragen und Antworten. Ein Zusammenspiel, das Raum für Anregung, Inspiration aber auch für Abschreckung gibt – ein „ Zusammenwirken mit Fremdem “.

Desweiteren teilt Wadenfels das Andere in drei Formen ein:

- Andersheit der Anderen. Laut Wadenfels wurde die zunächst von Husserl thematisierte Intersubjektivität von Merleau-Ponty mit seiner Zwischenleiblichkeit verdichtet. Wie schon An- und Enteignung verdeutlicht haben, gilt es eine Kluft zwischen Eigenem und Fremdem zu überbrücken. Dies kann beispielsweise durch Empathie geschehen oder durch Kommunikationstechniken. Laut Wadenfels gilt, dass je produktiver ein Diskurs ist, desto stärker die Grenzen zwischen eigen und fremd verschwimmen.

- Andersheit meiner Selbst. Wenn laut Wadenfels sich Eigenes im Zusammenwirken mit Fremdem herausbildet, tritt die Andersheit in die eigene Sphäre ein, in die Sphäre der Intrasubjektivität. Hier ist Selbst- oder Fremdaneignung nicht möglich, vielmehr entsteht ein „ Selbstentzug des Ich . Das Ich findet gewissermaßen seinen „Ort“ nicht und ist immer auch ein wenig das Andere (zur Begrifflichkeit des Ortes bei Wadenfels wird weiter unten näher eingegangen). Durch diesen Selbstentzug entsteht ein „Spalt“ zwischen Ich und Subjekt, eine Art Vervielfältigung des Ich (Me, Myself and I) ist die Folge. Diese Spaltung und Vervielfältigung verdeutlicht die Andersheit meiner Selbst, die in extremer Form auch ins Pathologische reichen kann, beispielsweise bei der multiplen Persönlichkeitsstörung oder der Schizophrenie.

- Andersheit der fremden Ordnung. Was zwischen Intersubjektivität und Intrasubjektivität vor sich geht, ist ein Grenzspiel. Es funktioniert nach diskursiven Mustern und Normen, die unsere Kommunikation ermöglichen und begrenzen. Wadenfels spricht hier von einer Interdiskursivität, einer Andersheit der fremden Ordnung. Es handelt sich nicht um eine Unordnung, sondern eben um eine Andersheit, Verschiedenheit. So ist Krankheit nicht defizitär zu verstehen, als bloße Negativität, sondern als fremde Ordnung. Beispielweise kann eine bipolare (psychische) Erkrankung oder die Melancholie kreative Kräfte freigeben, die die „Normalität“ nie bieten könnte.

Wadenfels betont, wie wichtig es ist, Ordnungen zu überschreiten, das Dazwischen zu leben. Sonst verzichtet der Mensch auf Aussagekraft und wird zum „bloßen Untertan“.

Die Wadenfels‘sche Idee besteht in einer Unhintergehbarkeit des Fremden, dass also „kein Weg“ am Fremden vorbeiführt. Der einzige Zugang – ein phänomenologischer – zum Fremden ist durch das Fremde. Kern einer Phänomenologie des Fremden ist also stets die Fremd erfahrung. Das „Erfahrungsgeschehen“ spielt sich innerhalb von Ordnungen ab. Für Wadenfels bewegt sich das Fremde außerhalb des eigenen Bereichs, wird im „Fremdling“ verkörpert und als fremdartig wahrgenommen. Diese drei Aspekte des Fremden (Ort, Besitz, Art) treten dem Eigenen gegenüber, wobei der Ort für Wadenfeld im Fokus liegt.

Schon im sprachlichen Gebrauch zeigt sich für Wadenfels der Unterschied zwischen Fremdem und Anderem: das Subjekt würde kaum bei der Unterscheidung zwischen Apfel und Birne den Begriff „fremd“ verwenden, was im Übrigen auch die Komplexität des Fremdheitsbegriff verdeutlicht. Das sozusagen andere Obst und seine Vertauschung und Unterscheidung ist reversibel. Die Früchte bewegen sich im gleichen Raum, in gewisser Weise in einer gleichen Ordnung. Das Fremde jedoch bedingt „eine gleichzeitige Ein- und Ausgrenzung“, wenn beispielsweise das Selbst krank oder gesund ist, schläft oder wacht. Oder eben für kulturelle Unterschiede, wo sich auch der Konsens mit Stenger zeigt.

[...]


[1] Vgl. Emmanuel Lévinas, S. 35.

[2] Vgl. Emmanuel Lévinas, S. 35ff.

[3] Emmanuel Lévinas, S. 277.

[4] Vgl. Emmanuel Lévinas, S. 280.

[5] Vgl. Emmanuel Lévinas, S. 278, S. 307.

[6] Vgl. Emmanuel Lévinas, S. 312.

[7] Vgl.: Georg Stenger, S. 378ff; Bernhard Wadenfels (A), S. 59ff; Bernhard Wadenfels (B), S. 16ff.

Details

Seiten
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783668028883
ISBN (Paperback)
9783668028890
Dateigröße
466 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen – Forum Scientiarum
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Note
1,7
Schlagworte
georg stenger emmanuel lévinas bernhard wadenfels unterschied fremden anderen
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Titel: Georg Stenger, Emmanuel Lévinas und Bernhard Wadenfels. Der Unterschied zwischen dem Fremden und dem Anderen