Frauen scheinen immer noch zu den außergewöhnlich benachteiligten gesellschaftlichen Gruppierungen in der Türkei zu zählen. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit die Frage analysiert, wie sich die Position der Frau in der Türkei von den Reformen der 20er Jahre durch Atatürk bis in die Gegenwart entwickelt hat. Die Betrachtungsweisen gliedern sich in die Einwirkung der islamischen Religion auf das türkische Frauenbild und in die Entwicklung der Frauenrechte in der türkischen Republik.
Einen wichtigen und prägenden Einfluss in Bezug auf das Verständnis der Rolle der Frau in der türkischen Gesellschaft repräsentiert die islamische Religion als die dominante Glaubensrichtung in der Türkei. Darauf aufbauend werden der Islam und seine kulturell prägende Bedeutung für die Rolle der Frau dargestellt. Das islamische Gedankengut und die Auslegung der religiösen Grundsätze scheinen in seiner Geschichte wesentlich von Männern fundamental festgelegt zu sein und sich den Ansichten einer modernen Gesellschaft und eines modernen Frauenbilds nach westlichem Vorbild zu verschließen.
Die Betrachtung der Entwicklungsstadien der türkischen Frauenrechte in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart soll die frauenrechtliche Situation in der türkischen Verfassung sowie in der nationalen Gesetzgebung verdeutlichen und im Wandel der Zeit untersuchen. Die formalgesetzliche Festlegung von Frauenrechten alleine bedeutet noch nicht deren gesellschaftspolitische Umsetzung in einer durch traditionelle und patriarchalische Denkweisen geprägten Gesellschaftsform wie der in der Türkei. Es lässt sich auch formulieren, dass die gesetzliche Gleichberechtigung der Geschlechter nicht immer gleichbedeutend ist mit der gesellschaftlichen Gleichstellung der Geschlechter. Abschließend erfolgt der Versuch, die Stellung der Frau in der modernen türkischen Gesellschaft auch unter dem Einfluss der Familie zu untersuchen und zu bewerten.
Inhaltverzeichnis
1 Die türkische Frau zwischen Politik und Gesellschaft
2 Der Einfluss der Religion auf die Rolle der türkischen Frau
2.1 Das traditionelle Rollenverständnis im Koran
2.2 Die islamische Religion und das heutige Frauenbild
3 Die Entwicklung der Frauenrechte in der türkischen Republik
3.1 Frauenrechte nach Gründung der türkischen Republik
3.2 Frauenrechte nach der türkischen Verfassung von 1961
3.3 Frauenrechte nach der geltenden Verfassung von 1982
3.4 Frauenbewegung in der Türkei
4 Bewertung der Stellung der Frau in der modernen türkischen Gesellschaft
5 Literaturverzeichnis
1 Die türkische Frau zwischen Politik und Gesellschaft
Frauen scheinen immer noch zu den außergewöhnlich benachteiligten gesellschaftlichen Gruppierungen in der Türkei zu zählen. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit die Frage analysiert, wie sich die Position der Frau in der Türkei von den Reformen der 20er Jahre durch Atatürk bis in die Gegenwart entwickelt hat. Die Betrachtungsweisen gliedern sich in die Einwirkung der islamischen Religion auf das türkische Frauenbild und in die Entwicklung der Frauenrechte in der türkischen Republik. Einen wichtigen und prägenden Einfluss in Bezug auf das Verständnis der Rolle der Frau in der türkischen Gesellschaft repräsentiert die islamische Religion als die dominante Glaubensrichtung in der Türkei. Darauf aufbauend werden der Islam und seine kulturell prägende Bedeutung für die Rolle der Frau dargestellt. Das islamische Gedankengut und die Auslegung der religiösen Grundsätze scheinen in seiner Geschichte wesentlich von Männern fundamental festgelegt zu sein und sich den Ansichten einer modernen Gesellschaft und eines modernen Frauenbilds nach westlichem Vorbild zu verschließen. Die Betrachtung der Entwicklungsstadien der türkischen Frauenrechte in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart soll die frauenrechtliche Situation in der türkischen Verfassung sowie in der nationalen Gesetzgebung verdeutlichen und im Wandel der Zeit untersuchen. Die formalgesetzliche Festlegung von Frauenrechten alleine bedeutet noch nicht deren gesellschaftspolitische Umsetzung in einer durch traditionelle und patriarchalische Denkweisen geprägten Gesellschaftsform wie der in der Türkei. Es lässt sich auch formulieren, dass die gesetzliche Gleichberechtigung der Geschlechter nicht immer gleichbedeutend ist mit der gesellschaftlichen Gleichstellung der Geschlechter. Abschließend erfolgt der Versuch, die Stellung der Frau in der modernen türkischen Gesellschaft auch unter dem Einfluss der Familie zu untersuchen und zu bewerten. Als unterschiedlich werden sich die Stellung und die Entwicklungsmöglichkeit hinsichtlich Bildungs- und Ausbildungschancen von Frauen der Mittel- und Oberschicht in einer urbanisierten Umwelt gegenüber der Position einer Frau der Unterschicht in städtischen Ballungsgebieten oder in vorwiegend ländlich geprägten Regionen herausstellen.
2 Der Einfluss der Religion auf die Rolle der türkischen Frau
Die Stellung der Frau in der islamischen Gesellschaft ist ein sehr umfangreiches Thema, das in verschiedenen islamisch orientierten Ländern unterschiedlich diskutiert und ausgelegt wird. Die Grundlage hierzu liefert der Koran, die heilige Schrift des Islam. Unstrittig ist die Tatsache, dass der Islam die vorherrschende Glaubensausrichtung in der Türkei ist: „Von derzeit knapp 70 Mio. Einwohnern der laizistischen Türkei sind 99.6% Moslems.“ (Cileli, 2005, S. 23) Für ein besseres Verständnis des Einflusses der islamischen Religion auf die Position der Frau erfolgt eine Darstellung des traditionellen Rollenverständnisses der Frau im Koran und der Versuch einer Deutung in Bezug auf das Sozialverhalten der Menschen, die in einer islamisch geprägten Gruppierung leben und ihre Handlungsweisen aus dem Koran ableiten. Es soll aufgezeigt werden, welche Tragweite die Auslegung des Koran seit Jahrhunderten in einer von Männern dominierten islamischen Gesellschaft besitzt und was das faktisch für eine in diese Gesellschaftsform integrierte Frau bedeutet, deren Rolle wesentlich durch die Auslegung der Statuten einer islamischen Religion geprägt worden ist.
2.1 Das traditionelle Rollenverständnis im Koran
Das Rollenverständnis im Koran hat eine lange Tradition in islamisch geprägten Staaten wie der Türkei. Man ist geneigt, das Rollenverständnis als kulturellen Wert zu bezeichnen, der durch die Auslegung einer patriarchalischen Gesellschaft geformt worden ist. Die Dominanz der Männer in dieser Gesellschaft begründet sich in dem Glauben an Allah und ergibt sich aus dem Koran. Eine kurze Abhandlung am Beispiel einiger ausgewählter Suren aus dem Koran gibt einen Überblick über die religiösen Grundsätze in Bezug auf den Status der Frau im traditionellen Islam:
- Die Aufgabe der Frau, die aus dem Mann geschaffen wurde, liegt darin, dem Mann zu dienen, ihm sexuell bereitzustehen und Kinder zu gebären. (Vgl. ADWORKERS UG, o.J., Sure 7/189 und Sure 16/72) Die Frau steht unter der religiös fundierten Kontrolle des Mannes, dem sie als Gattin mit Liebe und Zärtlichkeit zur Verfügung steht, damit der Mann seinen Frieden in ihr findet. (Vgl. ADWORKERS UG, o.J., Sure 30/21) Die Harmonie innerhalb der sozialen Strukturen soll durch die positive Einstellung zur Sexualität vorwiegend bei Männern und auch bei Frauen gefördert werden.
- Die Frau ist nach der Formulierung des Koran dem Mann untergeordnet und durch ihre direkte wirtschaftliche und sexuelle Abhängigkeit herabgesetzt. Die Überlegenheit des Mannes wird aus der Bevorzugung des Mannes durch Allah abgeleitet. Männer sind den Frauen gegenüber begünstigt, weil Allah Männer vor Frauen ausgezeichnet hat und Männer ihr Vermögen für den Unterhalt der Frauen ausgeben. (Vgl. ADWORKERS UG, o.J., Sure 4/34) Man kann hier geradezu von einem Machtmonopol des Mannes gegenüber seiner oder seinen Frauen ausgehen, das durch den Koran manifestiert ist. Von der Frau wird Gehorsamkeit erwartet und Stillschweigen über die Geheimnisse ihres Ehemanns. Widerspenstige Frauen werden ermahnt, allein in ihren Betten gelassen und bestraft. (Vgl. ADWORKERS UG, o.J., Sure 4/34) Die sexuelle Dominanz des Mannes wird durch eine nahezu unumschränkte Verfügungsgewalt über den Körper der Frau ausgedrückt: „Eure Frauen sind euch ein Acker; so naht eurem Acker, wann und wie ihr wollt, und sendet etwas voraus für euch;“ (ADWORKERS UG, o.J., Sure 2/223)
- Vielehe ist laut Koran erlaubt: „Und wenn ihr fürchtet, ihr würde nicht gerecht gegen die Waisen handeln, dann heiratet Frauen, die euch genehm dünken, zwei oder drei oder vier; und wenn ihr fürchtet, ihr könnt nicht billig handeln, dann (heiratet nur) eine oder was eure Rechte besitzt. Also könnt ihr das Unrecht eher vermeiden.“ (ADWORKERS UG, o.J., Sure 4/3) Das Unrecht bezieht sich auf die Ungleichbehandlung mehrerer Frauen eines Mannes, die zu Unruhen innerhalb des kleinen Sozialgefüges Familie führen kann und dem Streben nach Harmonie und Befriedigung entgegentritt. Der Koran geht davon aus, dass es prinzipiell bei einer Vielehe zu einer ungleichen Behandlung der Frauen kommt. (Vgl. ADWORKERS UG, o.J., Sure 4/129) Die Überlegenheit des Mannes drückt sich hier durch die vom Koran geförderte polygame Struktur des ehelichen Lebens aus und bietet wenig Spielraum für die Entwicklung einer femininen Persönlichkeit.
- Die traditionelle Trennung zwischen Mann und Frau ist im Koran zum Nachteil der Frau geregelt. Die Frau kann ohne Angabe von Gründen verstoßen werden, wobei die Kinder bei dem Mann bleiben. Der Mann entscheidet über die Versorgung seiner geschiedenen Frau nach eigenem Belieben, im Koran ist eine Versorgung nach Billigkeit als Pflicht für den Gottesfürchtigen vorgesehen. (Vgl. ADWORKERS UG, o.J., Sure 2/241) Die Frau kann nur mit Hilfe eines gerichtlichen Verfahrens eine Scheidung erreichen, die beispielsweise durch eine Geisteskrankheit des Mannes, sexuelle Enthaltsamkeit des Mannes, Abfall vom Islam oder ausbleibenden Unterhalt begründet sein kann. (Vgl. Killguss, o.J., o.S.)
- Der Koran toleriert rohe Behandlung und Gleichgültigkeit durch den Ehemann, wenn sich beide auf geziemende Art versöhnen. (Vgl. ADWORKERS UG, o.J., Sure 4/128) Diese Sichtweise betrachtet lediglich den Ausgangspunkt einer rohen Behandlung durch den Mann und bietet der Frau in Form einer geziemenden Versöhnung keine entsprechende Handhabe. Die rohe Gewalt impliziert hochwahrscheinlich auch körperliche Züchtigungen und sexuelle Gewalt, denen die Frauen schutzlos ausgeliefert sind. Auch das Erbrecht im Koran unterscheidet das männliche von dem weiblichen Geschlecht, indem ein Knabe so viel Anteil hat wie zwei Mädchen. (Vgl. ADWORKERS UG, o.J., Sure 4/11) Der weibliche Nachkomme erbt also halb so viel wie ein männlicher Nachkomme. Auch in dieser Sure bezüglich des traditionellen Erbrechts drückt sich die Überlegenheit des Mannes aus.
Die Bestimmungen des Koran haben einen starken Einfluss auf die Position des islamischen Frau und fördern ein demütiges Verhaltensmuster. Dieser Einfluss hat einen geschichtlichen Ursprung und ist prägend für die Rolle der Frau in der islamischen Gesellschaft. Anders als in westlichen Welten wird das Sozialverhalten der islamischen Kollektivgesellschaft von Gruppeninteressen, jahrhundertelang gepflegten Traditionen und religiösen Werten bestimmt, individuelle Bedürfnisse werden zu Gunsten der Funktionsweise der Gesellschaft unterdrückt. (Vgl. Killguss, o.J., o.S.) Auch in der osmanischen Gesellschaft vor der türkischen Republik nimmt die Frau eine mindere soziale Stellung ein mit ursächlichen Aufgaben wie die Zeugung der Kinder sowie Bedienung und Glücksfaktor für den Mann, mit dem sie in enger wirtschaftlicher Abhängigkeit lebte. (Vgl. Ücünci, 1980, S. 17) Diese traditionell geprägten Abhängigkeiten zeichnen ein Bild von Frauen, die sich stärker als in westlichen Kulturen für die Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte und Gleichbehandlungsrechte einsetzen müssen und zum überwiegenden Teil den gesellschaftspolitischen Status der Frauen in den westlichen Kulturen noch nicht erreicht haben. Allerdings ist das Bemühen um Veränderungen und der Wandel ein Prozess, der unaufhörlich läuft und das Frauenbild in der islamisch geprägten Türkei stark beeinflusst hat.
2.2 Die islamische Religion und das heutige Frauenbild
Das patriarchalisch orientierte Familienbild ist als eine von Allah gewollte Ordnung der Gesellschaft vorgegeben. Das Verhältnis der beiden Geschlechter steht auch heute noch im Mittelpunkt des Interesses. Einen Schwerpunkt bildet die Kontrolle der Frau unter den sozialmoralischen Aspekten des Islam. Das Verlangen der Frauen nach Unabhängigkeit und Gleichberechtigung wird als ein Einfluss des westlichen Feminismus angesehen, das der vorherrschenden religiösen Ordnung widerspricht. (Vgl. Scheiterbauer, 2014, S.21) Dabei gilt die Türkei als eines der am meisten westlich orientierten Länder mit islamischer Glaubensausrichtung.
Die Identität der heutigen Frau in der Türkei kann nicht ohne einen Blick auf die Reformen des Staatsgründers und ersten Staatspräsidenten der türkischen Republik Mustafa Kemal Atatürk betrachtet werden. In Art einer Modernisierungsoffensive wurde durch gesetzliche Grundlagen ab dem Jahr 1926 die bis dahin stark religiös geprägte Gesellschaftsform zum Vorteil einer säkularen Gesellschaftsform ohne religiösen Einfluss nach dem Prinzip einer strikten Trennung von Religion und Staat abgelöst. (Vgl. Männle, 2005, S. 15) Als eines der zentralen Ziele der Gesetzgebung in Bezug auf die Stellung der Frau gilt die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter, das Verbot der Polygamie, die Zivilehe und die Gleichstellung vor Gericht, im Erbrecht und Vormundschaftsrecht. Durch die Reformen wurden die religiösen Gesetzmäßigkeiten und die Ordnung des Islam in der türkischen Republik faktisch ersetzt. Die Gesetzesreform wurde nach dem politischen Willen Atatürks ohne den Bestand von gesellschaftlichen Forderungen über die traditionell bestehende Gesellschaft gezogen mit dem Ziel, die soziale Realität zu verändern. (Vgl. Wedel, 2000, S. 37) Die Umsetzung der Reformen innerhalb der türkischen Gesellschaft ist in erster Linie auch abhängig von der Akzeptanz dieser Reformen durch die Mehrheit der Gesellschaft. Diese seinerzeit völlig neue ideologische Konzeption hat durch mangelndes Verständnis und Akzeptanz in der seinerzeit traditionell geprägten Gesellschaft Konflikte hervorgerufen, die für die Umsetzung der Rechte der Frau einen langen Weg bedeuten. Zur Entwicklung der Frauenrechte in der Türkei wird noch unter dem Gliederungspunkt 3 Stellung bezogen.
Der Begriff der „türkischen Frau“ führt hinsichtlich ihrer Positionierung als genereller Terminus nicht weiter, weil diese Vereinfachung auf Grund der religiösen, gesellschaftlichen, regionalen und ethnischen Unterschiede für die Darstellung eines einzigen Verhaltensmusters nicht zweckdienlich erscheint. In urbanisierten Gebieten wie Istanbul, Izmir oder Ankara hat sich in der Ober- und Mittelschicht eine Bildungselite der Frauen gegründet, die mit qualifizierter Ausbildung in gehobenen Positionen arbeiten. Viele Frauen dieser Gruppierung sind Anhänger des Kemalismus nach Atatürk und setzen sich für die Gleichstellung der Geschlechter im öffentlichen Bereich und für eine Begrenzung des Einflusses der Religion auf den Staat ein. (Vgl. Männle, 2005, S. 16) Eine gehobene Bildung scheint nicht nur die Eingangsvoraussetzung für ein erfolgreiches Erwerbsleben zu sein sondern auch ein Parameter für politische Aktivität und gesellschaftliche Teilhabe beziehungsweise Selbstbestimmung. Höhere Bildung ist für Frauen in der Türkei zwar erhältlich, ist aber sehr unterschiedlich verteilt. Beispielsweise sind 40 % der Universitätsprofessoren Frauen, aber fast 25% aller Frauen sind Analphabeten. (Vgl. Niebler, 2005, S. 19)
Die Frauen aus der städtischen Unterschicht und in ländlich strukturierten Regionen sind weitgehend in das islamische Gesellschaftsmodell eingebunden, erfüllen ihre Verpflichtungen hinsichtlich der Familie und haben kaum Bezug zu den Frauen aus der Mittel- und Oberschicht. (Vgl. Männle, 2005, S. 16 ff.) Aus diesem Grund scheinen die Frauen aus der Unterschicht nur geringe Möglichkeiten zu besitzen, sich zu organisieren, um ihre Rechte in Frauenorganisationen zu vertreten, ihre Probleme auszudrücken und ihre Frauenrechte wahrzunehmen. Bedingt durch den Einfluss der Mechanisierung in der traditionellen Landwirtschaft drängten freigesetzte Arbeitskräfte, vor allem aus Anatolien, in die Städte und bildeten dort in Ballungsvierteln Gemeinschaften mit baulich abgegrenzten Strukturen analog zu ihrer ländlichen Heimat. (Vgl. Raddatz, 2005, S. 32) Im Zug dieser Binnenwanderung brachten die Familien auch ihre religiösen Glaubensauslegung und traditionelle Lebensweise mit und übertrugen diese in die Großstädte. Die Männer üben im Sinn des Patriarchats eine traditionelle Kontrolle über ihre Frauen und Töchter aus und schränken dadurch teilweise im Gegensatz zu den gebildeten und wohlhabenden Stadtbewohnern die Unabhängigkeit ihrer Frauen ein, die sich meist in schlecht bezahlten Positionen oder überwiegend ohne Beruf in der finanziellen Abhängigkeit ihrer Ehemänner befinden. (Vgl. Raddatz, 2005, S. 32 ff.) Diese mangelnde Integration der eingewanderten Landbevölkerung in die städtische Gesellschaftsform führt zu einer Isolation vieler Frauen, die ihr Leben im Dienst von Ehemann und Familie nach islamischen Gesichtspunkten als Normalität empfinden. Bedingt durch ihre Erziehung, die schlechte oder sogar fehlende Schulbildung und den mangelnden Kontakt zu anderen emanzipierten Frauen sowie Frauenrechtorganisationen erhalten diese Frauen kaum Unterstützung oder ein Podium für die Wahrung ihrer Interessen. Diese Frauen zählen zu den stark benachteiligten gesellschaftlichen Gruppierungen in der Türkei.
Einen weiterer Frauentypus zwischen der traditionell-islamischen und der kemalistisch-modernen Frau stellt die „neue muslimische Frau“ dar: „Als muslimisch bezeichne ich Frauen, die sich selbst der islamischen Religion zugehörig fühlen. Analog zu dieser Definition ist die Gruppe türkischer Musliminnen ideologisch breit gefächert und reicht von säkularen Kemalistinnen bis zu islamistischen Aktivistinnen.“ (Pusch, 2003, S.244) Pusch leitet einen Modernisierungssprung innerhalb einer Generation ab am Beispiel der sogenannten „Kopftuch-Studentinnen“, die überwiegend eine ländliche Herkunft aufweisen und traditionell islamisch geprägt sind. Die Existenz dieses neuen Frauentypus ist geartet von einem guten Bildungsniveau sowie der Beteiligung an öffentlichen Themen mit großem Frauen- und Selbstbewusstsein. Erkennungszeichen ist die traditionelle Kleidung, bestehend aus einem großem Kopftuch und einem langen weißen Mantel, die die muslimische Einstellung repräsentiert. (Vgl. Pusch, 2003, S. 245 ff.) Die traditionelle Kleidung stand ehemals als Zeichen für die Bevormundung der Frau und wird von der neuen muslimischen Frau mit dem Sinngehalt des religiösen Selbstverständnisses getragen. Es lässt auch sich mutmaßen, dass die Bildungsaufsteigerinnen einen inneren Konflikt verspüren zwischen der Tradition ihrer Familien und der fortschrittlichen Denkweise der Universitäten und diesem durch ihre Kleidung Ausdruck verleihen. Diese Frau entwickelt für sich ein neues Bild, indem sie sich von der patriarchalischen Tradition distanziert und ihren Rechten nach dem Islam Ausdruck verleiht, nämlich dem Wunsch nach Berufstätigkeit, nach politischer Beteiligung und durch Hinterfragung der Mutterrolle. (Vgl. Wedel, 2000, S. 40)
Kurdische Frauen, die aus den strukturarmen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei stammen, leiden unter ethnischen Unterschieden und suchen nach einem Weg, um unter Wahrung ihrer Identität an der türkischen Gesellschaft und Politik teilzunehmen. Frauen und Studentinnen kurdischer Herkunft organisieren sich in Vereinen, um ihre Identität als kurdische Frau auszudrücken und aktiv Ereignisse zu präsentieren, die kurdische Frauen betreffen. Gleichzeitig grenzen sie sich gegen türkische Frauenbewegungen ab, weil sie ihre Interessen in Bezug auf die Diskussion spezifischer rassistischer Repressionen nicht ausreichen wahrgenommen sehen. (Vgl. Wedel, 2000, S. 41)
Das heutige Frauenbild in der Türkei, das in dieser Betrachtungsweise keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, zeigt diverse Ausprägungen und die Unterschiedlichkeit der Identitäten der türkischen Frauen in Abhängigkeit von Kultur, traditioneller Religion, Gesellschaftsunterschieden und ethnischer Herkunft. Die unterschiedlichen Identitäten, die das Bild der türkischen Frau prägen, weisen durch die verschiedenen Positionierungen gleichzeitig einen tiefen Gegensatz auf, der bis heute noch nicht überwunden worden ist. Die Interessenskonflikte zwischen den feministischen Gruppierungen, spezielle Ausprägungen und gegenseitige Befürchtungen behindern einen gemeinsamen Dialog und ein gemeinsames Engagement für die Rechte, die ihnen nach staatlichen Gesetzen bereits nominell zur Verfügung stehen. Eine Akzeptanz der speziellen Ausprägung anderer Frauenpositionen durch alle Gesellschaftsschichten, Religionen sowie ethnischen Gruppierungen würde helfen, Schranken zwischen den Vertretungen der jeweiligen Frauenbewegungen abzubauen und einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung der Frauen-Power in der Türkei zu leisten.
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