Die Frage nach der eigenen Identität ist eine der Grundfragen, die sowohl für das Selbstverständnis von Einzelnen als auch für das von bestimmten Gruppen immer wieder von Bedeutung ist. „Wer sind wir?“, „Wo kommen wir her?“ oder „Warum sind wir so, wie wir sind?“ sind dabei nur einige relevante Unterpunkte zu diesem Thema.
Dass diese Frage nicht immer einfach zu beantworten ist, ist offensichtlich. Wie viel schwieriger eine Antwort auf diese Frage jedoch zu finden ist, wenn die fragliche Person oder Gruppe verschiedenen kulturellen Einflüssen ausgesetzt ist, und zu einem bestimmten Punkt der eigenen Geschichte die Heimat, beziehungsweise die Möglichkeit, in ihr zu leben, verliert, liegt auf der Hand.
Wie sehr diese zwei verschiedenen Kulturen und das Ereignis des Verlustes die Wahrnehmung der eigenen Geschichte, der Heimat und somit auch das Bild der eigenen Identität beeinflussen können, ist eine interessante Frage, von der ich versuchen werde, sie in dieser Arbeit zu beantworten. Auch die Frage, inwiefern der Verlust der Heimat die Erinnerungen – sowohl die des Einzelnen als auch die der Gruppe- an die Zeit davor verstärkt oder in eine bestimmte Richtung lenkt, ist von Bedeutung, da hier offensichtlich wird, inwiefern die Erinnerungen von verschiedenen Emotionen beeinflusst werden.
Der Begriff „Erinnerungsort“ umfasst in seiner Ganzheit die oben genannten Punkte. Er sagt aus, dass das kollektive Gedächtnis einer Gruppe sich an einem bestimmten Ort kristallisiert, der allerdings auch als Ereignis verstanden werden kann. Für die betroffene Gruppe hat dieser Erinnerungsort eine identitätsstiftende Funktion.
Aus diesem Grund werde ich den Exodus der Algerien-Franzosen aus Algerien nach dessen Unabhängigkeit sowie auch deren gesamte Geschichte als Gruppe als Erinnerungsort betrachten. Dieses Ereignis hat die Menschen, die teilweise seit mehreren Generationen Algerien als ihre Heimat betrachteten, aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und sie mit einer Kultur und einer Nation konfrontiert, die bisher nur auf dem Papier die eigene waren. Was für Auswirkungen diese Geschehnisse, Jahre danach betrachtet, auf die Betroffenen hatten, wie sie in das kollektive Gedächtnis der Gruppe aufgenommen wurden und inwiefern die Erinnerungen an die Zeit davor durch den Umstand des Verlustes der Heimat und der damit verbunden Emotionen verändert wurden, wird thematisiert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definition Erinnerungsort
3. Die Geschichte der Pieds-Noirs: Warum ist sie ein Erinnerungsort?
4. Verarbeitung der Ereignisse bei Betroffenen: wahrgenommene Emotionen
4.1. Sehnsucht
4.2. Heimatlosigkeit und Entwurzelung
4.3. Notwendigkeit der Aufrechterhaltung des „Mythos“ Pieds-Noirs
5. Ein Erinnerungsort – zwei Perspektiven
6. Schlussbetrachtung
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Frage nach der eigenen Identität ist eine der Grundfragen, die sowohl für das Selbstverständnis von Einzelnen als auch für das von bestimmten Gruppen immer wieder von Bedeutung ist. „Wer sind wir?“, „Wo kommen wir her?“ oder „Warum sind wir so, wie wir sind?“ sind dabei nur einige relevante Unterpunkte zu diesem Thema.
Dass diese Frage nicht immer einfach zu beantworten ist, ist aufgrund der vielen das Individuum umgebenden Einflüsse, die selbst dann auftreten, wenn es sein Leben an einem einzigen Ort verbringt, an dem es tief verwurzelt ist, offensichtlich. Wie viel schwieriger eine Antwort auf diese Frage jedoch zu finden ist, wenn die fragliche Person oder Gruppe verschiedenen kulturellen Einflüssen ausgesetzt ist, und zu einem bestimmten Punkt der eigenen Geschichte die Heimat, beziehungsweise die Möglichkeit, in ihr zu leben, verliert, liegt auf der Hand.
Wie sehr diese zwei verschiedenen Kulturen und das Ereignis des Verlustes die Wahrnehmung der eigenen Geschichte, der Heimat und somit auch das Bild der eigenen Identität beeinflussen können, ist eine interessante Frage, von der ich versuchen werde, sie in dieser Arbeit zu beantworten. Auch die Frage, inwiefern der Verlust der Heimat die Erinnerungen – sowohl die des Einzelnen als auch die der Gruppe- an die Zeit davor verstärkt oder in eine bestimmte Richtung lenkt, ist von Bedeutung, da hier offensichtlich wird, inwiefern die Erinnerungen von verschiedenen Emotionen beeinflusst werden.
Der Begriff „Erinnerungsort“ umfasst in seiner Ganzheit die oben genannten Punkte. Er sagt aus, dass das kollektive Gedächtnis einer Gruppe sich an einem bestimmten Ort kristallisiert, der allerdings auch als Ereignis verstanden werden kann. Für die betroffene Gruppe hat dieser Erinnerungsort eine identitätsstiftende Funktion.
Aus diesem Grund werde ich den Exodus der Algerien-Franzosen aus Algerien nach dessen Unabhängigkeit sowie auch deren gesamte Geschichte als Gruppe als Erinnerungsort betrachten. Dieses Ereignis hat die Menschen, die teilweise seit mehreren Generationen Algerien als ihre Heimat betrachteten, aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und sie mit einer Kultur und einer Nation konfrontiert, die bisher nur auf dem Papier die eigene waren. Was für Auswirkungen diese Geschehnisse, Jahre danach betrachtet, auf die Betroffenen hatten, wie sie in das kollektive Gedächtnis der Gruppe aufgenommen wurden und inwiefern die Erinnerungen an die Zeit davor durch den Umstand des Verlustes der Heimat und der damit verbunden Emotionen verändert wurden, wird thematisiert. Die Tatsache, dass diese nachträgliche Wahrnehmung der Zeit vor der Unabhängigkeit nicht nur bei einigen wenigen, sondern bei dem Großteil der Betroffenen in bestimmten Kategorien anzusiedeln ist, rechtfertigt es, dieses Ereignis als Erinnerungsort anzusehen, da es die Identität einer ganzen Gruppe beeinflusst.
Bevor ich allerdings auf die verschiedenen Kategorien, in denen die Erinnerungen konzentriert sind, eingehe, werde ich erst kurz die Definition des Begriffs „Erinnerungsort“ und die Geschichte der Pieds-Noirs in Algerien behandeln, sowie die Ereignisse schildern, die zum Verlassen des Landes geführt haben.
Da Erinnerungen immer subjektiv und mit der Zeit auch wandelbar sind, werde ich noch kurz auf die Ansichten einiger der Pieds-Noirs eingehen, die nach der Unabhängigkeit das Land nicht verlassen haben, sondern trotz aller Umstände dort geblieben sind. Hier wird deutlich, inwiefern die Zeit und die eigene spätere Lage durch Emotionen Erinnerungen verzerren können.
2. Definition Erinnerungsort
Der Begriff „Erinnerungsort“ beziehungsweise „lieu de mémoire“ geht auf den französischen Historiker Pierre Nora zurück, der in seinem siebenbändigen Gesamtwerk die Erinnerungsorte Frankreichs beschreibt. Nora geht davon aus, dass sich das kollektive Gedächtnis einer Gruppe (also die Erinnerungen, die wichtig für die Identitätsbildung der Gruppe sind) an einem bestimmten Ort kristallisiert. Dieser „Ort“ kann geografischer Natur sein, eine mythische Gestalt, ein Ereignis, eine Gruppe, einen Begriff, eine Institution oder ähnliches beschreiben. Gemeinsam haben alle diese Orte, dass sie eine aufgeladene, symbolische Bedeutung besitzen und für die jeweilige Gruppe eine identitätsstiftende Funktion innehaben.[1]
Laut Nora ist ein „lieu de mémoire“ ein „materieller wie auch immaterieller, langlebiger, Generationen überdauernder Kristallisationspunkt kollektiver Erinnerung und Identität, der durch einen Überschuss an symbolischer und emotionaler Dimension gekennzeichnet, in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden ist und sich in dem Maße verändert, in dem sich die Weise seiner Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert.“[2]
Bei dieser Definition fällt auf, wie sehr sich das Gedächtnis, oder auch die Erinnerung von der Definition der Geschichte unterscheidet. Nora sagt hierzu auch, „das Gedächtnis sei absolut, lebendig, von Kollektiven getragen, aktuell präsent und stets am Gegenstand und Raum haftend, während Geschichte eine problematisierende Rekonstruktion dessen sei, was früher war: eine universale, relative und entzaubernde intellektuelle Operation. Die Ambition des Historikers sei die Vernichtung dessen, was geschehen ist.“[3]
Diese Sichtweise vertritt auch Young, der Geschichte als das, was geschehen ist beschreibt, und Gedächtnis als das, was erinnert wird[4] - diese beiden Dinge stimmen in den seltensten Fällen überein. Aus diesem Grund versucht man auch durch die Konstruktion der Erinnerungsorte die Kluft zwischen offizieller Geschichtsschreibung und kollektiver Erinnerung zu überbrücken.
Aus diesen beiden gegensätzlichen Definitionen von Geschichte und Gedächtnis versteht sich, dass das Gedächtnis, und somit Erinnerungen, wandelbar sind: die Erinnerungen, sowieso schon gefärbt durch die durchlebten Emotionen, werden an die jeweilige Gegenwart angepasst. Hierdurch treten je nach Zeit und Umgebung verschiedene Deutungsmuster auf, die diejenigen der Vergangenheit größtenteils unreflektiert ersetzen.[5]
Das kollektive Gedächtnis konstituiert sich durch mehrere Medien: seien es die mündlich tradierten Überlieferungen, Bilder, Souvenirs, bestimmte Denkmäler oder Literatur, alle tragen zur Aufnahme eines neuen Ereignisses in das kollektive Gedächtnis bei oder unterstützen das Erinnern von bereits bestehenden Geschehnissen. Gerade in dem heutigen medialen Zeitalter, wo der Zugang zu Informationen, Bildern und Videos durch die große Auswahl an leicht zugänglichen Medien erheblich erleichtert wurde, lassen sich viele Zeugnisse der Erinnerungen im Internet finden, wo sie geteilt, diskutiert, ergänzt- in kurz „erinnert“ werden.
Diesem Umstand zufolge stützt sich diese Arbeit zur Untersuchung der erinnerten Bilder (als Begriff für die gesamte emotional, politisch, kulturell erinnerte Situation) nicht auf die oft herangezogenen Printmedien und wissenschaftliche Werke, sondern befasst sich mit den direkten Werken von Betroffenen, die nicht immer sachlich sind oder bestimmten literarischen Ansprüchen genügen, dafür aber eine Authentizität aufweisen, die unmittelbar ist und sicherlich von wissenschaftlichen Arbeiten über dieses Thema nicht so direkt eingefangen werden kann.
3. Die Geschichte der Pieds-Noirs: Warum ist sie ein Erinnerungsort?
Die Geschichte der sogenannten Pieds-Noirs in Algerien beginnt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach der Besetzung Algeriens durch Frankreich. In den Jahren danach strömten Siedler aus allen Ländern des Mittelmeerraumes in die französische Kolonie, unter ihnen auch viele spanisch- oder französischsprachige Menschen aus Malta, Portugal, Sardinien sowie Spanien und Italien. Der Großteil von ihnen floh vor der politischen Situation im Heimatland. Die meisten von ihnen betätigten sich in der Landwirtschaft und erwarben einen Großteil des zum Ackerbau geeigneten Landes, nur wenige Siedlerfamilien waren wohlhabend.[6]
Diese gemischte Gesellschaft wurde im Laufe der Jahre durch das 1889 erlassene Gesetz französisiert, das besagt, dass jeder Nachkomme ausländischer Eltern die französische Staatsbürgerschaft erhält, wenn er auf französischem Staatsgebiet geboren wurde. Da Algerien als Kolonie Frankreichs zu diesem dazugehörte, wurden die Kinder der europäischen Einwanderer zu Franzosen.[7]
Im Laufe der Jahrzehnte und über die Generationen hinweg betrachteten sich die Siedler weniger als Franzosen, denn als Algerier, da ihre Wurzeln in dem nordafrikanischen Land lagen. Der offizielle Term „Les Français d’Algérie“, wandelte sich Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts in „Pieds-Noirs“ - Erklärungsversuche hierfür gibt es mehrere. Der wohl plausibelste leitet diesen Begriff von der Kleidung der französischen „colons“ ab, die zu ihrer Uniform schwarze Stiefel trugen.[8] Anfangs wurde dieser Begriff nur von anderen in Bezug auf die Pieds-Noirs verwendet, diese übernahmen den Begriff als Eigenbezeichnung erst nach 1962. Bis dahin gab es eine bestimmte Terminologie unter den Pieds-Noirs, die sich selbst als „Algériens“ bezeichneten, während die eigentlichen muslimischen Algerier von ihnen nur „Arabes“ oder „Musulmans“ genannt wurden.[9]
[...]
[1] Vgl. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. 1998, S. 17
[2] François, Etienne: Pierre Nora und die „Lieux de mémoire“. In: Nora, Pierre (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs. München: C.H. Beck, 2005, S. 9
[3] Berek, Mathias: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Erinnerungskulturen. Wiesbaden: Otto Harrassowitz Verlag, 2009, S. 40f. und Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 14
[4] Young, James E.: Between History and Memory. The Uncanny Voices of Historian and Survivor. In: History & Memory 9 (1997), S. 50
[5] Vgl. ebd., S. 48-58
[6] Vgl. Bracco, Hélène: L’autre face „Européens” en Algérie Indépendante. Paris: Méditerranée, 1999, S. 15
[7] Vgl. ebd., S. 15f.
[8] Vgl. Ham, Luckham, Sattin: Discover Algeria. Lonely Planet, 2007, S. 42
[9] Vgl. Bracco: L’autre face „Européens” en Algérie Indépendante, S. 14